Russland und Ukraine dekolonialisieren: Wider die Russische Föderation

Zur Rolle der Ukraine in der dekolonialen Bewegung. Die Entmythologisierung von Kiewer Rus und russischem Imperium wird Putins Ende sein.

Der zentrale Platz der Unabhängigkeit in Kiew in der Dämmerung mit Panzersperren

Barrikaden in Kyjiw am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, am 14. März Foto: AP/Felipe Dana

In den Morgenstunden des 24. Februars begannen die Streitkräfte der Russischen Föderation mit der Invasion in der Ukraine. Es fing an mit Luftangriffen auf Kyjiw (Kiew). Gleichzeitig drangen Truppen über die ukrai­nische Grenze ein, von Russland sowie von Belarus aus, wo russische Militäreinheiten angeblich eine militärische Übung abhalten sollten. Doch der Plan eines russischen Blitzkriegs in der Ukraine scheiterte.

Ich schreibe dies am fünften Tag des Kriegs in einem Vorort von Kyjiw, einer Stadt, die sich auf einen umfassenden Angriff der russischen Armee vorbereitet hat. Jetzt, da Sie diese Zeilen lesen, könnte sich bereits vieles geändert haben – und das nicht nur hier in der Ukrai­ne. Mittlerweile kündigte Wladimir Putin an, dass er das russische Atomwaffenarsenal als Reaktion auf „feindliche Erklärungen“ des Westens in Alarmbereitschaft versetzt hat.

Nun ist buchstäblich alles möglich, selbst das scheinbar abwegige Szenario eines Sturzes von Putins Regime durch die wachsende Antikriegsbewegung in Russland, die sogar von einigen ultrareichen Oligarchen aus Putins eigenem Umfeld unterstützt wird.

Dieser Moment scheint ein besonders ungünstiger Zeitpunkt zu sein, einen Essay über die Lage in der Ukraine zu schreiben. Er könnte durch die sich schnell verändernden Verhältnisse irrelevant werden. Dennoch besteht gerade jetzt die drängende Notwendigkeit, sich gegen die Russische Föderation auszusprechen.

Oleksiy Radynski, Filmemacher und Autor, lebt in Kyjiw. „The Case Against the Russian Federation“ erschien in e-flux journal#125 (März 2022), Veröffentlichung mit freundlicher Geneh­migung von e-flux. http://www.e-flux.com/journal/125/453868/the-case-against-the-russian-federation/

Videodiskussion mit dem Autor siehe: www.volksbuehne.berlin/#/de/veranstaltungen/diskussionsveranstaltung­ukraine­-4

Ukrainisch werden

Ich kann mich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, als ich mich zum ersten Mal zu den Ukrai­nern zugehörig fühlte. Ich wurde in Kyjiw als Sohn einer russischen Mutter und eines jüdisch-ukrainischen Vaters geboren. Ich besuchte eine russischsprachige Schule und sprach bis ins Teenager­alter nicht einmal Ukrainisch.

Der Moment, in dem ich anfing, Ukrainer zu werden, sah folgendermaßen aus: Im Frühjahr 2000 verbrachte ich wie immer meine Schulferien bei Verwandten in Moskau. Nicht weit vom Kreml entfernt gingen wir eine Straße entlang, die voller Bücherstände war. Mit Büchern zu allen möglichen Themen, vor allem zu Verschwörungstheorien, orthodoxem Christentum, Bücher mit antisemitischem Inhalt und allerlei russischen neofaschistischen Ideologien.

Wer mit dem Straßenleben in postsowjetischen Großstädten vertraut ist, wird diese Buchstände kennen. Was mir in Erinnerung blieb, war ein Buchhändler, der seine Waren mit einer lauten Schimpftirade gegen eine lange Liste verschiedener Personengruppen anpries: Juden, Deutsche, Westler, Bolschewiken, Liberale, Punks, Aus­länder*innen, Homosexuelle und – was mich damals völlig überraschte – Ukrainer*innen.

Ich erinnere mich, dass ich ziemlich beeindruckt war, dass für diesen faschistischen Typ Ukrai­ne­r*in­nen auf der Liste der verachtenswertesten Personen der Welt standen – vor allem, weil der Rest der Liste größtenteils aus dem bestand, was ich für bewundernswert, aufregend oder fortschrittlich hielt. Ukrainisch zu sein war mir vorher niemals als etwas in irgendeiner Form Positives erschienen. Als jemand, der in den 1990er Jahren in der Ukraine aufgewachsen ist, verband ich mit diesem Land eher Armut, Trostlosigkeit und radioaktive Verstrahlung. Aber plötzlich gehörten die Ukrai­ne­r*in­nen zu alldem, was dieser wutschnaubende Typ so sehr hasste. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Stolz darauf, Ukrai­ner zu sein.

Der Präsident und der rassistische Bücheronkel

Zwanzig Jahre später wurde ich wieder an diesen Moment erinnert, während ich die Abschrift eines langen Geschichtsvortrags von Wladimir Putin las, die sich als Kriegserklärung an mein Land entpuppte. Dieses Mal war es allerdings nicht ein wutschnaubender Bücherverkäufer auf einer Moskauer Straße, der faschistischen Unsinn von sich gab, sondern der Präsident der Russischen Föderation höchstpersönlich.

Im Mittelpunkt seiner Argumentation stand ein tief sitzender ethnischer und politischer Hass auf die Ukraine. Und es war leicht zu erkennen, dass die Personen von der Liste des faschistischen Irren auch in Putins Rede auftauchten, der sie unter dem leeren Begriff „der Westen“ zusammenfasste. Die Ideologie des rassistischen Bücheronkels hat ihren Weg nicht nur in den gesellschaftlichen Mainstream gefunden.

Sie lieferte dem Präsidenten den Grund für eine Kriegserklärung. Die Thesen des „eurasischen“ Pseudophilosophen Alexander Dugin, dessen Bücher in den oben erwähnten Bücherregalen sehr präsent waren, hatten einen immensen Einfluss auf Putins Werdegang.

Mir ist völlig klar, dass es genauso sinnlos ist, sich mit Putins ignoranter, imperialistischer Mythologie auseinanderzusetzen, wie mit einem kleinkarierten faschistischen Buchhändler auf einer Straße in Moskau zu debattieren. Aber es reizt mich, einige dieser Mythen gegen den Strich zu lesen, unbequeme Wahrheiten offenzulegen, herauszufinden, inwieweit diese Mythologie untergraben und sogar in Richtung progressiver Ziele umgelenkt werden könnte.

Der Kern von Putins Denken

Den Kern von Putins Argumentation bildet die in Russland (und von anderen in aller Welt, die sich nie mit der Geschichte Osteuropas beschäftigt haben) weit geteilte Überzeugung, dass Rus­s*in­nen und Ukrai­ne­r*in­nen eigentlich zur selben Nation gehören. Die ukrainische nationale Identität, so das der Überzeugung zugrundeliegende Argument, wurde von der österreichisch-ungarischen Monarchie (oder den Polen, den Juden, den Preußen) lediglich künstlich geschaffen.

Dass dieses Argument die Tatsache übersieht, dass jede moderne nationale Identität, auch die russische, bis zu einem gewissen Grad ein künstliches Konstrukt ist – geschenkt.

Doch für ein autokratisches russisches Denken, das der Ansicht ist, die Ukraine sei Russland, stellt allein das Dasein eines von Russland unabhängigen ukrainischen Staats eine existenzielle Bedrohung dar. Der Punkt ist, wenn Ukrai­ne­r*in­nen eigentlich Rus­s*in­nen sind, wie kann es sein, dass die Ukrai­ne­r*in­nen sich gegen ihre autoritären Regierungen aufgelehnt und diese in den vergangenen siebzehn Jahren zweimal gestürzt haben? Wenn die Ukrai­ne­r*in­nen in Wirklichkeit Rus­s*in­nen sind, wie kann man es zulassen, dass sie Wahlen ohne vorher festgelegte Ergebnisse abhalten?

Wenn die Ukrai­ne­r*in­nen tatsächlich Rus­s*in­nen sind, wie kann es sein, dass der ukrainische Staat keine „homosexuelle Propaganda“ bestraft? Wenn all diese Dinge in der Ukraine möglich sind, bedeutet dies für ein autokratisches russisches Denken automatisch, dass sie auch in Russland möglich wären. Das bedeutet wiederum, dass die Ukraine um jeden Preis verschwinden muss.

Herr und Knecht

Was Putin die „historische Einheit“ beider Na­tio­nen nennt, verweist auf die jahrhundertealte imperiale Herrschaft Russlands. Sie führte einerseits dazu, dass all diese „ukrainischen Dinge“ in Russland möglich sind, weil die Russen nach Jahrhunderten gemeinsamer Kolonialgeschichte ein wenig ukrainisch geworden sind. Und andererseits dazu, dass diese Kolonialgeschichte Millionen von Ukrai­ne­r*in­nen auch ein bisschen russisch gemacht hat.

Die meisten Ukrainer sprechen neben ihrer eigenen Sprache auch Russisch. Ukrai­ne­r*in­nen teilen mit den Rus­s*in­nen die Geschichte der Leibeigenschaft (eine Form der De-facto-Sklaverei im Russischen Reich), der Arbeiterbewegungen, der Revolution, der Industrialisierung und des Kriegs. Über Generationen haben sich unsere Familien miteinander vermischt. Jede Beziehung zwischen Metropole und Kolonie ist – wie jede Herr-und-Knecht-Beziehung – wechselseitig und dialektisch.

Indem die Metropole die Kolonie politisch und kulturell übernimmt, kommt es zugleich zu einer schleichenden Übernahme von innen durch die Kräfte, die sie sich einverleibt hat. Mit der ukrainischen Kolonie hatte die russische Metropole unversehens eine politische Kultur in sich aufgenommen, die auf horizontalen Formen der Demokratie beruht – auch wenn diese brutal erscheinen, wie die Kosakenräte, die anarchistischen Armeen von Nestor Machno oder die Maidan-Aufstände.

Diese politische Kultur kann die Metropole von innen heraus zersetzen. In gewisser Weise ist die Angst der Putinisten vor einem „russischen Maidan“-Aufstand in Moskau völlig berechtigt – aber nicht, weil er von einigen durch die Nato ausgebildeten ukrainischen Terroristen organisiert würde, wie die russische Propaganda suggeriert. Die Angst ist berechtigt, weil die Russe*innen, wenn sie selbst ein bisschen ukrainisch sind, ebenso in der Lage sein könnten, das Regime zu stürzen.

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Wie die Ukrai­ne­r*in­nen könnten die Russ*in­nen eine Wahl ohne vorher festgelegte Ergebnisse abhalten. Es ist dieser Geist der „historischen Einheit“, den das heutige autokratische Russland mit allen Mitteln auszutreiben versucht, indem es das Land in einen Polizeistaat verwandelt und dem Aufstand zuvorzukommen versucht. Doch dieser Versuch wird nun zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, die an das Schicksal von Laios, den Vater von Ödipus, erinnert.

Die russischen Einsätze in der Ukraine während der Herrschaft Wladimir Putins stellen sich heute als Aneinanderreihung hoffnungsloser Miss­er­folge dar. Im Jahr 2004 ging der Kreml mit Wiktor Janukowytsch eine politische Wette auf einen Präsidentschaftskandidaten ein, der ein zweifach verurteilter Gangster war. Tatsächlich glaubte man, er könne durch massive Einschüchterung und Wahlbetrug an die Macht gebracht werden. Dies führte unmittelbar zur Orangenen Revolution, die die Pläne des Kremls zunichte machte.

Im Jahr 2014, nach dem Maidan-Aufstand und der Besetzung der Krim, versuchte der Kreml wiederum, eine irredentistische Bewegung in der Ostukraine ins Leben zu rufen. Er redete sich ein, dass Millionen russischsprachiger Ukrainer die Abspaltung an Russland unterstützen würden. Die Bewegung erwies sich jedoch als so unbedeutend, dass man schließlich die russische Armee schicken musste. Im Jahr 2022 ging der Kreml davon aus, dass die ukrainische Armee keinen Widerstand leisten und die russischen Invasoren als Befreier empfangen würden. Wir sehen, dass dem nicht so ist.

Ich frage mich, warum jedes russische politische Projekt in der Ukraine nach hinten losgeht. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt schien Putins Regime bei der Manipulation der Politik in Russland und im Westen von Erfolg gekrönt zu sein. Vielleicht liegt der Misserfolg in der Ukraine daran, dass Russland in der Ukraine so vorgeht, als hätten sie es mit Russland selbst zu tun. Was auch immer in Russland funktioniert, denken sie, muss auch in der Ukraine funktionieren. Schließlich sei es ja ein und dasselbe. Wir können uns ab heute sparen, dagegen zu argumentieren. Russlands anhaltende Misserfolge in der Ukraine sagen alles.

Die Verantwortung von Kyjiw

Meine Behauptung, dass Russland ein wenig ukrai­nisch geworden ist, ist weder ein bitterer Scherz noch ein ressentimentgeladener Ausrutscher. Sie rührt vom Gründungsmythos des modernen Russlands her. Der Mythos besagt, dass die brüderlichen ostslawischen Völker gegen Ende des ersten Jahrtausends n. Chr. gemeinsam einen mächtigen mittelalterlichen Staat namens Kiewer Rus mit Kiew als Hauptstadt gründeten.

(Tatsächlich entstand dieses Gebilde als skandinavische Kolonie, und das Wort „Rus“ bedeutete ursprünglich so viel wie „die Männer, die rudern“, was sich darauf bezog, wie die Herrscher das Gebiet aus dem Norden über die östlichen Flüsse Europas erreichten.) Die Tatsache, dass die mittelalterliche Stadt Kiew (heute Kyjiw) die Hauptstadt dieser halbmythischen Einheit war, ist ein Eckpfeiler des russischen imperialistischen Diskurses.

Im russischen Kolonialjargon wird Kyjiw als „Mutter der russischen Städte“ bezeichnet. Diese Stadt, etwa ein halbes Jahrtausend vor Moskau gegründet, war der Ausgangspunkt für die Ostexpansion slawischer Stämme, aus der das hervorging, was heute Russische Föderation heißt.

Eben diese Expansion muss kritisch betrachtet werden. Allgemein wird sie ähnlich wie die „Entdeckung der Neuen Welt“ durch Christoph Kolumbus vor dem postkolonialen Diskurs beschrieben. Die Slawen, so wird behauptet, entdeckten das reichhaltige Land im Osten, gründeten Moskau und andere Städte. Allerdings waren die Gebiete bereits von indigenen, vor allem finno-ugrischen Völkern bewohnt, die im Zuge der Kolonisierung brutal unterdrückt, vertrieben oder ausgerottet wurden.

Russische Kolonialgewalt

Die Ostexpansion der Slawen vom heutigen Kyjiw aus war ein früher Fall von Siedlerkolonialismus mit allem, was dazugehört: Völkermord an der indigenen Bevölkerung, Ausbeutung von natürlicher Ressourcen, Etablierung autokratischer Herrschaft.

Was wir heute als Russische Föderation kennen, ist das Ergebnis dieses tragischen Prozesses, der als Parallele zur kolonialen Expansion der westlichen Staaten Europas betrachtet werden kann. Während die westeuropäischen Nationen allmählich die Verantwortung für die koloniale Gewalt übernehmen, fehlt davon in Osteuropa jegliche Spur. Dabei leiden einige osteuropäische Nationen, die im Zuge der Osterweiterung erobert wurden, bis heute unter dem Joch der russischen Kolonialherrschaft.

Im inhärent rassistischen Selbstbild der Russischen Föderation bevölkern die „nichtrussischen Völker“ den hohen Norden, Sibirien und den Kaukasus, während der „europäische“ Teil Russlands (westlich des Uralgebirges) den Slawen zugeordnet wird. Das ist falsch. Finno-ugrische Völker wie die Mordwinier, Karelier, Udmurten, Mari und Komi sind in Gebieten beheimatet, die nur einen Steinwurf von Moskau oder Sankt Petersburg entfernt sind.

Tataren, Tschuwaschen, Baschkiren und viele andere Turkvölker siedeln in Regionen, die große Teile des angeblich „europäischen“, „slawischen“, „weißen“ Teils Russlands ausmachen.

Prozess der Selbstzerstörung

Durch den Versuch, das imaginäre imperiale Kernland mit brutaler militärischer Gewalt zu besetzen, hat die Russische Föderation einen selbstzerstörerischen Prozess in Gang gesetzt. Dieser könnte zum allmählichen Verlust vieler weiterer Regionen und Nationen führen, die noch immer unter Kolonialherrschaft stehen.

Die dekolonialen Bewegungen, die sich in der Russischen Föderation erst langsam entfalten, haben plötzlich ungeahnte Chancen. Sie könnten eine noch nie dagewesene Dynamik entfalten – so die russische Antikriegsbewegung sich mit ihnen verbündet.

Das dem russischen Imperialismus Widerstand leistende Kyjiw sollte sich selbst als unglücklichen Ursprungsort eines despotischen, kolonialistischen russischen Staats erkennen lernen; eines großrussischen Staats, der jedes Volk und jede Nation unterdrückt, so sie das Pech haben, auf seinem Territorium zu leben, einschließlich des russischen Volkes selbst.

Um all dieser Völker – und der Menschheit – willen, sollte der russische Staat in seiner derzeitigen Form verschwinden. Das ist, kurz gefasst, mein Argument wider die Russische Föderation.

Aus dem Englischen von Philipp Goll

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.