Lauterbachs unrealistische Berechnung: Impfstoffmangel nicht in Sicht

In Deutschland wird so viel geimpft wie nie zuvor. Die Sorge des Gesundheitsministers, dass der Impfstoff knapp wird, scheint jedoch unbegründet.

Blick von oben auf zwei Krankenpflegerinnen und eine Patientin bei der Impfung

Boosterimpfung in einem Dresdener Impfzentrum Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Es sind beeindruckende Zahlen, die derzeit Tag für Tag aus den Arztpraxen und Impfzentren in Deutschland gemeldet werden: Am Mittwoch wurden 1,5 Millionen Menschen gegen Corona geimpft – und damit mehr als jemals zuvor an einem einzelnen Tag. Der 7-Tage-Mittelwert der Impfungen steigt auf knapp eine Million pro Tag, ebenfalls ein neuer Rekordwert.

Der Großteil davon, nämlich 86 Prozent, entfällt auf die sogenannten Boosterimpfungen, also Auffrischungen bei Menschen, die bereits seit mehreren Monaten vollständig geimpft sind. Erst- und Zweitimpfungen machen nur einen kleinen Anteil aus; doch auch bei den Erstimpfungen gibt es derzeit wieder einen Trend nach oben; mit knapp 100.000 lag ihre Zahl am Mittwoch rund 8 Prozent höher als eine Woche zuvor.

Neben den Warnungen vor der Omikronvariante, die die Gefahr für Ungeimpfte deutlich steigert, dürfte dabei aber vor allem die Impfung von Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren eine Rolle spielen, die in dieser Woche regulär begonnen hat. Zahlen, wie viele Kinder in diesem Alter bisher geimpft wurden, gibt es noch nicht; eine entsprechende Statistik wird erst kommende Woche veröffentlicht, teilte das Robert-Koch-Institut der taz mit.

Doch kann die Impfkampagne im derzeitigen Tempo weiterlaufen? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte das in dieser Woche bestritten. „Wir haben einen Impfstoffmangel für das erste Quartal“, hatte er am Dienstag in der ARD gesagt. Am Donnerstag spezifizierte der Gesundheitsminister dies in der Bundespressekonferenz: Bis zum Ende des ersten Quartals gebe es einen Bedarf von 70 Millionen Impfstoffdosen, davon 50 Millionen für Boosterimpfungen und 20 Millionen für Erst- und Zweit­impfungen. Dem stünden nach bisheriger Planung aber nur Lieferungen von 50 Millionen Dosen gegenüber.

Annahmen Lauterbachs wenig realistisch

„Es kann nicht sein, dass die besonders erfolgreiche Booster-Kampagne ausgebremst wird, weil wir nicht genug Impfstoff bekommen“, sagte Lauterbach. Er sei darum in Verhandlungen mit Herstellern, Europäischer Kommission und anderen EU-Staaten, um zusätzlichen Impfstoff zu organisieren. Ein erster Erfolg davon sei, dass Deutschland im Dezember und Januar 35 Millionen zusätzliche Dosen des Moderna-Impfstoffs erhalte; 10 Millionen noch im Dezember und 25 Millionen im Januar. Von Biontech sei mit einer Sonderlieferung von bis zu 80 Millionen Dosen zu rechnen, die voraussichtlich im zweiten Quartal eintreffe.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

„Es kann nicht sein, dass die erfolgreiche Booster-Kampagne ausgebremst wird“

Doch auch ohne diese Sonderlieferungen dürfte es eigentlich nicht zu einer Knappheit kommen. Denn der von Lauterbach angenommene Bedarf von 70 Millionen bis Ende März scheint wenig realistisch, und die genannten ursprünglichen Liefermengen von 40 Millionen Dosen stehen im Widerspruch zu aktuellen Angaben des Ministeriums.

Dazu ein genauerer Blick auf die Zahlen: Vollständig geimpft sind in Deutschland laut RKI derzeit 58,2 Millionen Menschen; mindestens einmal geimpft sind 60,7 Millionen. Für die Zweitimpfung aller bisher Erstgeimpften werden damit noch 2,5 Millionen Impfdosen benötigt. Bereits geboostert sind derzeit knapp 23 Millionen Menschen. Um allen doppelt Geimpften eine Boosterimpfung zu verabreichen, würden demnach insgesamt noch 35 Millionen Dosen benötigt. Dazu kommen neue Erstimpfungen. Doch selbst wenn sich hier das derzeitige Impftempo verdoppeln würde, würden 4 Millionen Dosen pro Monat dafür ausreichen.

Booster gibt es noch gar nicht für alle

Bis zum Ende des ersten Quartals sind damit kaum mehr als 50 Millionen Impfungen zu erwarten. Und für diese müsste der zur Verfügung stehende Impfstoff eigentlich reichen. Denn in den letzten Wochen sind laut einer Aufstellung des Ministeriums fast 20 Millionen Impfdosen mehr ausgeliefert als verimpft worden; zumindest ein Teil davon müsste in den Praxen und Impfzentren noch zur Verfügung stehen.

Und bis Ende März kommen einer aktuellen Aufstellung des Gesundheitsministeriums über 80 Millionen Impfdosen dazu (sofern man einrechnet, das bei Moderna zum Boostern nur die halbe Dosis benötigt wird). Der Bedarf wäre damit mehr als gedeckt, selbst wenn ein Teil des Impfstoffs ungenutzt bliebe. Vorübergehend knapp werden könnte es allenfalls für unter 30-Jährige, die ausschließlich mit dem Biontech-Vakzin geimpft werden dürfen.

Um auf den von Lauterbach errechneten Bedarf von 70 Millionen Impfdosen zu kommen, müssten dagegen bis Ende März 88 Prozent der Gesamtbevölkerung nicht nur komplett geimpft, sondern vollständig geboostert sein. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern unmöglich – zum einen wegen der Abstände zwischen den Impfungen, zum anderen, weil es für Kinder und Jugendliche noch gar keinen zugelassenen Booster-Impfstoff gibt. Erreicht werden könnte ein solcher Wert allenfalls mit der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, die jedoch kaum im ersten Quartal in Kraft treten dürfte.

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