Menschenrechte in Deutschland: Sammeldusche bis zum Ende
Würdiges Wohnen ist im Grundgesetz garantiert. Viele Wohnungslose müssen aber Jahre in teils verwahrlosten Sammelunterkünften verbringen.
Herr R. ist ein Fallbeispiel aus dem Menschenrechtsbericht, den das Deutsche Institut für Menschenrechte seit vier Jahren jährlich an die Bundesregierung übergibt. Die Situation wohnungsloser Menschen ist das Schwerpunktthema des aktuellen Berichts und die Erkenntnisse der nicht repräsentativen Untersuchung sind alarmierend: Viel zu lange leben immer mehr Wohnungslose in Wohnheimen, in teils menschenunwürdigen Verhältnissen.
„Was ursprünglich als Übergangslösung konzipiert war, wird zunehmend zur längerfristigen Unterbringungsform. Da müssen dann auch die Bedingungen in den Unterkünften stimmen, was nicht immer der Fall ist. Hier muss Deutschland nachbessern“, erklärte die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Beate Rudolf, bei der Vorstellung am Mittwoch in Berlin.
Erster Kritikpunkt des Berichts aber ist die schlechte Datenlage: Weder wissen wir genau, wie viele wohnungslose Menschen es in Deutschland gibt, noch in welchen Umständen sie leben (müssen). Die im Bericht zitierten Schätzungen bewegen sich zwischen 313.000 und 542.000 (Stand Mai/Juni 2018), davon bis zu 37 Prozent Frauen und bis zu 25 Prozent Kinder. Die jüngste Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe liegt mit 678.000 Wohnungslosen noch deutlich höher. Frühestens ab 2022 ist mit einer validen bundesweiten Wohnungslosenstatistik zu rechnen.
An der Grenze zur Verwahrlosung
Als wohnungslos gilt in der politischen und wissenschaftlichen Debatte, wer nicht über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum oder Wohneigentum verfügt. Die Lebenswirklichkeit wohnungsloser Menschen sieht dann so aus: Ein Leben als ObdachloseR auf der Straße, Schlafen bei Verwandten oder Freunden, im Wohnwagen oder aber – und das betrifft den größten Teil der Wohnungslosen – die Unterbringung durch den Staat.
In Nordrhein-Westfalen, dem einzigen Bundesland mit fortlaufender Wohnungslosenstatistik, wird der Anteil untergebrachter Wohnungsloser auf 70 Prozent geschätzt. Zwischen 2014 und 2018 hat sich die Zahl der dort Untergebrachten auf über 30.000 verdreifacht. Betroffen sind auch Menschen, die nach Abschluss ihres Asylverfahrens gezwungen sind, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu verbleiben, weil es schlicht nicht genügend Wohnraum gibt. Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus dem November machen diese Geflüchteten rund zwei Drittel aller Wohnungslosen in Deutschland aus.
Die Kommunen sind verpflichtet, unfreiwillig obdachlose Menschen unterzubringen. Die sogenannte ordnungsrechtliche Unterbringung ergibt sich aus den Ordnungs- und Polizeigesetzen. Wo und wie diese Menschen untergebracht werden, ist dagegen gesetzlich nicht geregelt. So ist die Bandbreite dem Bericht zufolge groß: von normalen Wohnungen bis hin zu Mehrbettzimmern in Sammelunterkünften, von hygienisch einwandfrei bis an der Grenze zur Verwahrlosung, von Anknüpfung ans Hilfesystem bis zu völlig auf sich allein gestellt.
Nur in einzelnen Bundesländern gibt es verbindliche Mindeststandards an die ordnungsrechtliche Unterbringung. Generell gelten für Not- oder Wohnungslosenunterkünfte geringere Standards als für regulären Wohnraum, weil es sich um ein Notversorgungssystem handelt, ausgelegt für eine kurzfristige Überbrückung.
Kranke haben es besonders schwer
Tatsächlich verbringen laut den für den Bericht befragten Expert*innen wohnungslose Menschen aber in vielen Fällen Monate und Jahre in diesem Notsystem, teilweise bis zu ihrem Lebensende. Auch Repräsentative Befragungen in Hamburg und Baden-Württemberg ergaben, dass rund die Hälfte der ordnungsrechtlich untergebrachten Menschen bereits länger als ein beziehungsweise zwei Jahre in der Einrichtung waren. Der Hauptgrund dafür liegt auf der Hand: die Diskriminierung wohnungsloser, geflüchteter und oft auch psychisch erkrankter Menschen auf dem angespannten Wohnungsmarkt.
Im aktuellen Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland wird außerdem kritisiert, dass einzelne Kommunen immer wieder ihre Verpflichtung zur Unterbringung missachten. Insbesondere weil sie die Unterbringung an einen sozialrechtlichen Leistungsbezug knüpfen und damit etwa EU-Ausländer*innen ausschließen oder weil sie schlicht zu wenig Unterbringungsplätze haben.
Für Frauen und Menschen mit Behinderung lassen die wenigen verfügbaren Daten vermuten, dass bedarfsgerechte Unterkunftsplätze fehlen. Suchtkranke und psychisch kranke Menschen landeten zwar oft in der ordnungsrechtlichen Unterbringung, gehörten aber mit ihrem umfassenden Hilfebedarf gar nicht hierher – die Herausforderung für Mitarbeiter*innen und andere Bewohner*innen sind entsprechend hoch. Pflegebedürftige Wohnungslose lebten oft unter menschenunwürdigen Bedingungen in Unterkünften, weil sie keinen Zugang zum Pflegesystem haben.
Der Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte wirft die Frage auf, ob die Praxis der ordnungsrechtlichen Unterbringung dem im Grundgesetz zugesicherten Recht auf menschenwürdiges Wohnen entspricht. Die Autor*innen beantworten die Frage vor dem Hintergrund der teils jahrelangen Wohndauer klar mit Nein. Zur Einhaltung verfassungs- und menschenrechtlicher Verpflichtungen könnten Bund und Länder nicht länger auf die Kommunen verweisen, sondern seien selbst in der Pflicht, Mindestanforderungen an die Unterbringung wohnungsloser Menschen beispielsweise in einem Modellprojekt zu entwickeln.
„Dies ist aber nur ein Baustein, um die Situation wohnungsloser Menschen zu verbessern“, so Direktorin Rudolf. „Ziel staatlichen Handelns sollte es in erster Linie sein, Wohnungslosigkeit zu vermeiden beziehungsweise zu überwinden und damit auch die Aufenthaltsdauer in der ordnungsrechtlichen Unterbringung wieder zu verkürzen.“ Der Bundestag ist gesetzlich verpflichtet, zum Bericht des Instituts Stellung zu nehmen.
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