Obdachlosigkeit in Berlin: Auf der Lichtenberger Platte
Vor dem Bahnhof Lichtenberg haben sich Obdachlose häuslich eingerichtet. Doch niemand weiß, wie lange sie noch bleiben dürfen.
Es gibt mehrere Matratzen, Sofas, eine Küche. Sogar ein Bücherregal steht an der Wand. Die Einrichtung vermittelt einen Hauch von Beständigkeit, doch der Schein trügt. Wajda deutet auf eine Gruppe von Mitarbeitern des Ordnungsamts und BVG-Securities. Am Montag seien sie das erste Mal aufgetaucht, um den Bewohner*innen der gegenüberliegenden Camps mitzuteilen, dass sie geräumt werden. „In so einem Klima wachsen schnell Gerüchte“, sagt Wajda. Keiner weiß, wie lange sie noch bleiben können.
Nach der Schließung des Kältebahnhofs zogen viele Obdachlose, die im Winter in der Unterführung übernachten durften, einfach vor den Bahnhof und schlugen dort ihre Zelte auf. In den folgenden Monaten stießen immer mehr Menschen dazu, der Vorplatz entwickelte sich zudem zu einem Treffpunkt der Trinkerszene.
Beim Bezirksamt häuften sich die Beschwerden, mehr als 50 waren es im Laufe des Sommers. Anwohner*innen und Passant*innen klagten über Belästigungen, Schmutz oder fühlten sich durch den Anblick von Armut gestört, wie aus einem Papier des Bezirksamts hervorgeht, das der taz vorliegt. Dennis Wajda betont, er und seine Gruppe legten großen Wert darauf, den Platz sauber zu halten: „Wir räumen hier mehrmals am Tag auf.“ Doch andere Gruppen auf dem Bahnhofsvorplatz achten offenbar weniger darauf, mangels frei zugänglicher Toiletten wurde oft an die nahestehenden Gebäude uriniert.
Obdachlosigkeit:
Geschätzt gibt es bis zu 10.000 Obdachlose in Berlin, Tendenz steigend. Wohnungsnot und Zuzug aus Osteuropa verschärfen die Situation.
Safe Places:
Sogenannte Safe Places sind als Zwischenlösung für Obdachlose gedacht, die andere Angebote nicht annehmen können oder wollen. In selbstverwalteten Camps mit Betreuung durch Sozialarbeiter*innen und Security sollen bis zu 100 Menschen leben, die so sowohl vor Räumungen als auch vor Übergriffen und Diebstählen geschützt sind. Das Konzept wird in den USA bereits erfolgreich praktiziert. (jwa)
Die Bahn drängte den Bezirk Ende vergangenen Monats, den kompletten Vorplatz räumen zu lassen, doch das Bezirksamt des links-regierten Lichtenbergs war zunächst dagegen. Man einigte sich mit der Deutschen Bahn darauf, zumindest die Fahrradständer und den Zugang zum Aufzug freizuhalten. De facto bedeutete das eine Räumung des Camps links des Eingangs, zu dem Wajdas Gruppe nicht gehört.
Am Donnerstagmorgen räumte dann ein Großaufgebot von BSR und Ordnungsamt die Überreste des Camps weg, die meisten Obdachlosen waren da schon verschwunden. Für Wajda und seine Gruppe, die rechts des Eingangs kampieren, ist vorgesehen, bis zum Ende des Monats eine Ausweichfläche zu finden.
Unsinnige Räumungen
Der aus dem Rheinland kommende Wajda lebt seit einem Jahr auf der Straße. Als die Obdachlosigkeit unvermeidbar schien, zog er nach Berlin. Er lebte zunächst im Tiergarten, dann an der Oberbaumbrücke. Bei jeder Räumung verlor er Hab und Gut, schließlich kam er zum Kältebahnhof Lichtenberg, wo er bis jetzt bleiben konnte.
„Und auf der nächsten Platte werden wir wieder verdrängt“, sagt Wajda resigniert, „wie soll man sein Leben auf die Reihe kriegen, wenn man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, eine sichere Bleibe zu finden?“ Der Weg aus der Obdachlosigkeit sei lang und beschwerlich, benötige viel Kraft – und davon bleibe nicht mehr übrig, wenn man auf der Straße überleben will.
„Räumungen sind besonders langfristig gesehen unsinnig“, sagt Jörg Richert, Geschäftsleiter der Karuna Sozialgenossenschaft, die auch die Menschen am Lichtenberger Bahnhof betreut. „Man verschiebt das Problem und hat an einem anderen Ort eine ähnliche Situation.“
Wajda und die Bewohner*innen der Lichtenberger Platte wollen nicht mehr auf Versprechungen vom Bezirk oder Senat warten. Deshalb haben sie selbst Initiative ergriffen und eine Liste von neun Freiflächen und leerstehenden Gebäuden im Bezirk erstellt, die sie selbstverwaltet bewohnen wollen.
Wenn Wajda über die Idee spricht, kehrt hörbar Optimismus in seine Stimme zurück; er spricht von Erdaufbereitung, Gemüseanbau, Schmuckherstellung und Holzbearbeitung, die vor Ort realisiert werden könnten. Es gebe hier viele Leute mit enormem Potenzial. „Es ist nicht so, als ob wir nicht in der Lage wären, so etwas zu tun“, sagt Wajda, „wir dürfen nur nicht.“ Nach wochenlangen Versuchen der Kontaktaufnahme übergaben sie die Liste schließlich dem Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke). Aus dem Büro des Bürgermeisters heißt es nüchtern, die vorgeschlagenen Flächen seien nicht im Besitz des Bezirksamts, aber man prüfe „derzeit eigene Flächen“.
Der Vorschlag der Bewohner*innen ähnelt stark dem in Berlin seit Monaten diskutierten Konzept der „Safe Places“ (siehe Kasten). Richert geht noch einen Schritt weiter und fordert sogenannte Common Places, an denen die Bewohner*innen sinnstiftenden Tätigkeiten wie etwa Urban Gardening zusammen mit der Nachbarschaft nachgehen können.
Wajda sehnt sich vor allem nach einem Ort, an dem er und die anderen länger als ein paar Monate bleiben können. Wichtig sei auch, dass die Gruppe zusammenbleibt: „Das hier ist eine Familie“, sagt er.
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