Urteil im Diesel-Skandal: Erstmals ist hierzulande die Natur im Recht
Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung in Dieselautos schädigen nicht nur den Käufer, sondern auch die Natur. Das hat ein Erfurter Gericht entschieden.
![Ein Feuersalamander im Moos Ein Feuersalamander im Moos](https://taz.de/picture/7315780/14/36849738-1.jpeg)
Gemeint ist ein Rechtsverständnis, nach dem nicht nur Menschen geschützt sind gegen Übergriffe auf ihre Person, sondern auch Ökosysteme wie Flüsse, Wälder, Teiche oder Moore mit ihren Tieren. „Diese Rechte der Natur sind … von Amts wegen … zu berücksichtigen“, heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung, die jetzt vorliegt.
Es geht um einen BMW 750 D X-Drive, in dem ohne Wissen des Käufers eine Abschalteinrichtung installiert worden war. Dieses im Fachjargon genannte „Thermofenster“ sorgt dafür, dass der Ausstoß von schädlichen Stoffen in den Abgasen eben nicht gesenkt wird, wie gesetzlich eigentlich vorgeschrieben. Der Kläger hatte moniert, dass das von ihm erworbene Auto deshalb weniger wert sei und auf Schadenersatz geklagt. Dieser wurde ihm vom Landgericht Erfurt auch zugesprochen.
Allerdings fällt die Entschädigung höher aus, eben weil die illegal eingebaute Abschalteinrichtung nicht nur den Kläger, sondern auch die Natur geschädigt hat. „Die Anerkennung von spezifischen Rechten ökologischer Personen … ist aufgrund der Wichtigkeit und Dringlichkeit der ökologischen Herausforderungen – Klimawandel, Artensterben und Globalvermüllung – und angesichts drohender irreversibler Schäden geboten“, heißt es in der Begründung.
Weiterreichende Bedeutung
Das Urteil könnte von großer Bedeutung sein. „Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde in einer unscheinbaren Verhandlung eines Erfurter ‚Dieselfalls‘ ein juristischer Samen gesetzt, der Früchte tragen wird“, formuliert Christine Ax, Vorständin des Netzwerks Rechte der Natur: Wenn diese Rechtspraxis Bestand hat, könnten „Anwälte der Natur“ gegen die Einleitung von Chemikalien in die Oder klagen, gegen das Abholzen des Hambacher Forstes, gegen das Abschmelzen von Gletschern oder gegen zu viel Dünger auf den Feldern, der Grundwasser und Meere verseucht.
„Das juristische Konzept ist nicht neu“, sagt Philosophieprofessor Tilo Wesche. In Südamerika gibt es etliche Länder, die die „Rechte der Natur“ festgeschrieben haben, in ihrer Verfassung oder in der Rechtspraxis. In Spanien erklärte das Parlament die Lagune Mar Menor zur Rechtsperson, sie kann damit Verschmutzer verklagen. Auch für den Klimaschutz haben Klagen immer wieder etwas gebracht, beispielsweise urteilte 2021 das deutsche Verfassungsgericht, dass die aktuelle Politik die Rechte künftiger Generationen verletzt. „Neu ist, dass die Rechte der Natur von einem deutschen Gericht zum ersten Mal anerkannt wurden“, sagt Wesche.
Deutsches Neuland
Freilich hat das Urteil ein paar Haken. Es ist erstens zwar rechtskräftig, kann aber vor der übergeordneten Instanz angefochten werden – falls die Beklagten das anstreben. Zweitens kommt das „Mehr an Entschädigung“ nicht der Natur zu Gute – außer der Kläger würde es einem Naturschutzprojekt spenden. Drittens ist diese Rechtsauffassung bislang in Deutschland Neuland.
„Artikel 14, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes gibt das allerdings absolut her“, argumentiert Tilo Wesche. Der kürzeste Absatz der deutschen Verfassung besagt: „Eigentum verpflichtet.“ Diese Pflicht, so Wesche, bestehe auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit: „Wirtschaften oder anderes Handeln kann eben nicht bedeuten, dass andere Lebenswesen wie Tiere oder Pflanzen darunter zu leiden haben.“
Bedrohte Lurche oder Bienen, die künftig gegen tödliche Pestizide von Chemiefirmen klagen können – dass das Urteil in Erfurt so ausgefallen ist, liegt möglicherweise auch an dem Vorsitzenden Richter: Martin Borowsky ist ein anerkannter Experte der EU-Grundrechtscharta. Aber Borowsky ist mit dieser Charta kein Einzelkämpfer. „Die Gründe, mit denen das Urteil die ‚Rechtsperson Natur‘ als juristisch gegeben darlegt, wird von weiteren anerkannten Experten geteilt“, erklärt Christine Ax. Philosophieprofessor Wesche erhofft sich durch das Urteil eine „öffentliche Diskussion“. Richter könnten nur geltendes Recht auslegen. Dies aber würde von der Politik gemacht. Wesche: „Wichtig ist deshalb, eine Mehrheit für die ‚Rechte der Natur‘ innerhalb der Gesellschaft zu organisieren“.
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