70 Jahre Bundesverfassungsgericht: Bisweilen radikal

Im September 1951 wurde das Bundesverfassungsgericht gegründet. Welchen Einfluss hat es heute? Die jüngsten Entscheidungen zeigen ein buntes Bild.

Bundesverfassungsgericht Beratungszimmer mit roten Roben

Beratungszimmer im Bundesverfassungsgericht: Karlsruhe kann politische Prozesse anstoßen Foto: Uli Deck/dpa

Deutschland ist ein „Schiedsrichterstaat“. Bei jeder großen politischen Frage gibt es in Deutschland stets zwei parallele Diskussionen. Ist das Gesetz sinnvoll? Und ist es verfassungskonform? Wer sich politisch nicht durchsetzen kann, geht zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe. Ein:e Klä­ge­r:in findet sich immer.

Dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) so mächtig werden würde, ahnte vor 70 Jahren noch niemand, als das Gericht im September 1951 seine Arbeit aufnahm. Kein Wunder, denn die Verfassungsgerichtsbarkeit war eine junge Idee und ein Gericht mit dieser Machtfülle gab es noch nicht. Das BVerfG konzentriert sich ganz auf die Verfassungsinterpretation, es kann sogar Gesetze für nichtig erklären und je­de:r Bür­ge­r:in kann es einschalten.

In diesen Tagen wird viel über die Leistung des Bundesverfassunggerichts in den letzten Jahrzehnten geschrieben. Doch wie steht es um seine Leistungsfähigkeit und seinen Einfluss heute? Schauen wir uns fünf aktuelle Entscheidungen an.

Der Klima-Beschluss – nicht Urteil – vom April war eine echte Sensation. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Klimaschutz zum Staatsziel und es hob die Theorie, dass jeder Staat nur ein bestimmtes CO2-Budget verbrauchen darf, in den Verfassungsrang. Es war ein Riesenerfolg der Umweltbewegung. Zudem sind Klagen nun auch gegen künftige Beeinträchtigungen der Grundrechte möglich. Dass die Rich­te­r:in­nen vom Bundestag dabei nur kleine Änderungen am Klimaschutzgesetz forderten, ging eher unter.

Trotz der verwegenen juristischen Konstruktion fand der Klima-Beschluss überwältigende Zustimmung. Und der Bundestag verschärfte binnen weniger Wochen die Ziele der deutschen Klimapolitik. Die Umsetzung dieser Ziele in konkrete Einschränkungen wird aber schwieriger, das BVerfG hat hierfür auch keine Vorgaben gemacht. Zwar wird die Umweltbewegung das Gericht jetzt regelmäßig um Hilfe bitten, doch Karlsruhe wird sich wohl kaum in eine Rolle als Klima-Ersatzgesetzgeber drängen lassen.

Recht auf Selbstbestimmtes Sterben

Auch im Februar 2020 hatte das BVerfG ein unerwartet radikales Urteil verkündet. Die Rich­te­r:in­nen kippten das strafrechtliche Verbot von Suizidhilfe-Vereinen und entwickelten dabei ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, nicht nur für Todkranke. Der Bundestag plant zwar eine Neuregelung, ist damit aber noch nicht weit gekommen. Deshalb agieren Vereine wie Dignitas Deutschland derzeit weitgehend unreguliert. Das Urteil stieß bei den Kirchen durchaus auf Kritik.

Nach wie vor haben Suizidwillige aber keinen Anspruch auf Verschreibung von Suizid-Medikamenten, wie sie in der Schweiz üblich sind. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde lehnte das BVerfG Anfang 2021 ab, unter anderem mit dem Argument, dass man dem Gesetzgeber nicht vorgreifen wolle. Das Gericht nahm sich also zunächst wieder etwas zurück, um den Bogen nicht zu überspannen.

Erst vor wenigen Wochen, im August, hat das BVerfG den Rundfunkbeitrag von 17.50 Euro auf 18.36 Euro erhöht. Das hatten die Bundesländer zwar schon 2020 beschlossen, aber der Landtag von Sachsen-Anhalt machte nicht mit. Karlsruhe erklärte diese Weigerung des Magdeburger Landtags nun für verfassungswidrig. ARD, ZDF und Deutschlandradio stehe die verbesserte Finanzausstattung zu, weil die unabhängige KEF-Kommission dies empfohlen hatte.

Hier reduzierte das Gericht die Handlungsmöglichkeiten der Politik – indem es ein unabhängiges Experten-Gremium stärkte. Die Akzeptanz bei AfD und anderen Geg­ne­r:in­nen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde so zwar nicht erhöht. Aber für die Sender signalisierte das Gericht Verlässlichkeit. Es hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk längst eine Bestands- und Entwicklungsgarantie gegeben – obwohl er im Grundgesetz nicht einmal erwähnt wird. Die Entscheidung zum Rundfunkbeitrag blieb auf diesem Pfad und löste deshalb keine großen Kontroversen aus.

Zurückhaltung in der Pandemie

Orientierung aus Karlsruhe wurde dagegen in der Corona-Pandemie vermisst. Das Bundesverfassungsgericht hielt sich lange zurück und überließ den Verwaltungsgerichten der Länder den Rechtsschutz gegen die Corona-Verordnungen. Als dann aber im April per Bundesgesetz die Bundesnotbremse (inklusive nächtlicher Ausgangssperre) eingeführt wurde, gingen in Karlsruhe sofort Hunderte Verfassungsbeschwerden und Eilanträge ein.

Doch im Mai lehnten die Rich­te­r:in­nen die Eilanträge gegen die Ausgangssperre ab und enttäuschten die weithin bestehenden Erwartungen auf ein Karlsruher Machtwort. Zwar will das BVerfG noch in diesem Herbst die endgültige Entscheidung verkünden. Angesichts der Wechselhaftigkeit des Pandemie-Geschehens könnte es aber gut sein, dass das Gericht erneut mit dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers argumentiert. Das ist der Luxus eines Verfassungsgerichts: Wenn es selbst keine bessere Lösung hat, kann es einfach auf die Politik verweisen.

Fehde mit dem EuGH

Auch im Mai 2020 – im Urteil zum Anleiheankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) – hätte sich das Bundesverfassungsgericht besser zurückgehalten. Damals warf Karlsruhe dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor, dessen Urteil über die EZB-Politik sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und daher in Deutschland nicht anwendbar. Eigentlich sollte das nur ein Schuss vor den Bug des EuGH sein, damit dieser die EZB künftig strenger kontrolliere.

Doch die Karlsruher Rich­te­r:in­nen haben die (internationale) Wirkung ihres Urteils falsch eingeschätzt. Die Karlsruher Weigerung, ein EuGH-Urteil als rechtmäßig anzuerkennen, gilt in einer Zeit, in der die EU mit den Regierungen in Polen und Ungarn um die Akzeptanz des EU-Rechts ringt, weithin als Sakrileg. Inzwischen hat die EU-Kommission wegen des BVerfG-Urteils ein Vertrags-Verletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.

Wo also steht das Bundesverfassungsgericht heute? Das Gericht kann mit mutigen Entscheidungen, etwa zur Klimapolitik, politische Prozesse anstoßen. Es ist, wie bei der Suizidhilfe, der zentrale Garant von individuellen Freiheiten. Es kann auch, wie bei der Sicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, große Politik betreiben, muss dann aber über Jahrzehnte hinweg verlässlich agieren. Zugleich hat die heftige Kritik am EZB-Urteil gezeigt, wie schnell das Gericht an Akzeptanz einbüßen kann, wenn es nur noch seine eigenen Interessen im Blick hat.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.