Ukrainer lehnen Russisch ab: Zur eigenen Sprache überwechseln
Der Krieg entfremdet Ukrainer und Russen sehr schnell voneinander. Immer mehr russischsprachige Ukrainer wollen jetzt kein Russisch mehr sprechen.
![Menschen stehen in den Rängen des Opernhauses von Odessa und singen die ukrainische Nationalhymne Menschen stehen in den Rängen des Opernhauses von Odessa und singen die ukrainische Nationalhymne](https://taz.de/picture/5843200/14/Ukraine-Tagebuch-1.jpeg)
I n Lwiw konnte man immer viel Russisch hören. Viele Touristen aus der Zentral- und Ostukraine, die nicht zum Ukrainischen übergegangen waren, verständigten sich auf Russisch mit den Einheimischen. Doch jetzt haben sich die Dinge geändert. Zehntausende Menschen aus den überwiegend russischsprachigen Städten Charkiw, Mariupol, Cherson und dem Donbass haben im ukrainischsprachigen Lwiw Zuflucht gefunden, viele von ihnen gehen jetzt zum Ukrainischen über und besuchen ukrainische Sprachkurse und -klubs.
Einer dieser Klubs kommt im Lwiwer Museum für Volksarchitektur zusammen, einem Freilichtmuseum. Geflüchtete singen hier mit Einheimischen ukrainische Volkslieder, um ihre Aussprache zu verbessern und ihren Wortschatz zu erweitern. Wenn man sie singen hört, ist es schwer zu glauben, dass für einige von ihnen Ukrainisch nur die Zweitsprache ist.
Tatjana, die gleich am ersten Tag des Krieges aus Charkiw gekommen ist und bis dahin Russisch gesprochen hatte, erzählt mir, dass der Übergang zum Ukrainischen – die „Rückkehr zur Muttersprache“ – für sie eine Frage des Prinzips sei. „Ich kann und möchte nichts mehr mit denen gemein haben, die mein Volk töten.“
Eine andere Tatjana, die bereits nach der Annexion der Krim 2014 von dort nach Lwiw gekommen war, ist in einer russischsprachigen Familie ukrainischer Patrioten aufgewachsen. Die Menschen in Lwiw haben am Anfang noch mit ihr Russisch gesprochen oder sie gebeten, sie selbst solle doch lieber Russisch sprechen, sobald sie bemerkten, wie schwer sich Tatjana mit der ukrainischen Sprache tat.
Konnte man früher, selbst nach dem ersten russischen Angriff auf die Ukraine vor acht Jahren, im Stadtzentrum von Lwiw noch Straßenmusiker auf Russisch singen hören, ist jetzt alles anders. An den Türen einiger Läden hängen Zettel mit der Aufschrift: „Wir sprechen nicht in der Sprache der Besatzer.“ Für Tatjana ist das kein Problem. Außer dem Singkreis im Museum besucht sie jetzt auch schon ihren zweiten richtigen Ukrainisch-Sprachkurs. Vor Aufregung wechselt sie ins Russische und erzählt, dass sie sich sehr wünscht, dass ihre Enkel Ukrainisch sprechen.
Nicht nur in Lwiw ändert sich die Situation. Ein Bekannter von mir aus Odessa ist zwar in einem ukrainischsprachigen Dorf aufgewachsen, spricht aber im überwiegend russischsprachigen Odessa selber nur Russisch. Sogar im Gespräch mit mir ist er früher nicht zum Ukrainischen gewechselt.
Die taz glaubt an das Recht auf Information. Damit möglichst viele Menschen von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine lesen können, veröffentlich sie die Texte der Kolumne „Krieg und Frieden“ auch auf Russisch. Hier finden sie die Kolumne auf Deutsch.
Nachdem Ostern in Odessa eine russische Rakete ein Wohnhaus getroffen und acht Menschen getötet hatte, schrieb ich ihm, um zu fragen, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Er schrieb mir auf Ukrainisch zurück und unterhält sich, zumindest mit mir, nur noch in dieser Sprache. Russland entfremdet jetzt selber die Ukrainer von allem, was sie früher mit ihren östlichen Nachbarn verband.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
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