Schulbeginn in der Ukraine: Unterricht im Bombenhagel

In der Ukraine beginnt das Schuljahr – wieder in Präsenz. Bunker werden zu Klassenräumen umfunktioniert, Wasser und Medikamente eingelagert.

Klassenzimmer in einem Luftschutzbunker

Klassenzimmer in einem Luftschutzbunker in der Ukraine Foto: Sergey Dolzhenko/EPA

LUZK taz | In diesen Tagen kursieren in der Ukraine Fotos, die sehr beliebt sind. Oftmals ist ein „Klassenzimmer“ zu sehen, das in einem Luftschutzbunker der jeweiligen Schule eingerichtet ist – in der Regel ist das der Keller oder ein verlassener Schießstand. Letzteres ist noch ein Relikt aus Sowjetzeiten. Darunter steht dann zum Beispiel: „Für das neue Schuljahr ist alles vorbereitet.“

Am 1. September beginnt in der Ukraine das neue Schuljahr. Offiziell heißt es aus dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft, dass es Hybridunterricht geben wird. Es ist den Eltern überlassen, ob sie ihre Kinder mitten im Krieg in den Präsenzunterricht schicken oder lieber zu Hause behalten wollen. Doch bis jetzt ist nicht ganz klar, wer wo wie lernen kann.

Fest steht: Viele Kinder vermissen ihre Schulen und das Miteinander dort. In den vergangenen Jahren gab es in der Ukraine gigantische Probleme mit dem Präsenzunterricht. Im Frühjahr 2020 sowie im Herbst und Winter 2021 waren alle Schü­le­r*in­nen wegen Corona in häuslicher Quarantäne. Da das Bildungssystem nicht auf Distanzunterricht vorbereitet war, hat die Qualität der Wissensvermittlung massiv gelitten.

Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar fiel für die Mehrheit der Schü­le­r*in­nen der Unterricht erneut aus. Nach dem ersten Schock wurde der Unterricht auf online umgestellt, aber nicht alle Lehrkräfte hatten die Möglichkeit, ins Netz zu gehen. Auch die psychologischen Voraussetzungen für den Unterricht waren nicht die besten. Zudem verließen viele Leh­re­r*in­nen und Schü­le­r*in­nen die Ukraine und gingen in Länder der Europäischen Union. In deutschen, polnischen oder tschechischen Schulen erhielten sie Präsenzunterricht, nahmen jedoch gleichzeitig an Onlinekursen ihrer Schulen zu Hause teil.

Prüfungen im Geheimen

Am schwierigsten war es für Erstklässler*innen, bei denen der direkte Kontakt zu Lehrkräften besonders wichtig ist. Probleme gab es auch bei Jugendlichen, die auf eine weiterführende Bildungseinrichtung wechseln wollten. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen war es unmöglich, die Leistungen unabhängig zu bewerten – was aber etwa für die Aufnahme an einer Universität notwendig ist.

Die Regierung hat deshalb den sogenannten nationalen Mehrfächertest entwickelt, der Prüfungsfragen zur ukrainischen Sprache, Mathematik und Geschichte kombiniert. Diese Prüfungen fanden unter halb geheimen Bedingungen statt – die Daten und Orte der Tests wurden zur Sicherheit der Schü­le­r*in­nen unter Verschluss gehalten.

Die Entscheidung, Präsenzunterricht wieder aufzunehmen, war schwierig. Aber bereits im Mai hatte Bildungsminister Sergij Tschkarlet versichert, dass die Kinder am 1. September wieder zur Schule gehen würden. „Vergessen Sie nicht, dass Vollzeitunterricht ein weiterer Indikator für die Rückkehr zur,Normalität' des ganzen Landes ist“, hatte auch der Ombudsmann für Bildung Sergej Gorbatschow gesagt.

In Elternchats geht unterdessen die Diskussion weiter – eine Mehrheit spricht sich zwar für Präsenzunterricht aus, es gibt aber auch Stimmen dagegen. Viele befürchten, dass die Überprüfung von Luftschutzräumen in den Schulen einfach nur „abgehakt“ werde und Eltern in diesem Fall ihre Kinder in Gefahr brächten. Die meisten Eltern wünschen sich hybride Lösungsansätze. Die Regierung beschloss, die Entscheidungsfindung so weit wie möglich an Eltern und Schul­di­rek­to­r*in­nen zu delegieren, und hat nur wenige Rahmenvorgaben gemacht.

Unterricht im Schichtsystem

Dort, wo es gelingt, die entsprechenden Schutzräume in den Kellern herzurichten, soll das Schuljahr im Vollzeitmodus beginnen. Ein Teil der Kinder kann dann mit der Lehrkraft im Klassenzimmer sein, während die, die nichts riskieren und von zu Hause aus lernen wollen, dem Unterricht dann via Internet folgen.

Es gibt aber auch andere Varianten, bei dem die Hälfte der Kinder zwei Wochen zur Schule geht, und die andere online lernt – danach wird gewechselt. Oder praktische Übungen und Laborunterricht können direkt in der Bildungseinrichtung abgehalten werden, Frontalunterricht erfolgt online.

Einige Schulen reduzieren die Stundenzahl, um den Unterricht in zwei Schichten zu organisieren. In Präsenz werden dann vor allem Hauptfächer unterrichtet – Mathematik, Sprachen, Physik oder Chemie. Die restlichen Fächer werden über Projektarbeit oder im Selbststudium abgedeckt.

Wenn es an oder in der Nähe der Schule keinen Luftschutzbunker gibt, findet der Unterricht nur online statt. Das betrifft die Regionen, die an Belarus grenzen. Noch immer drohen von dort russische Angriffe, die Flugzeit der Raketen ist kurz. Auch Kinder, die in den Frontregionen und in den von Russland besetzten Gebieten leben, werden nicht zur Schule gehen.

Die Angst der Eltern sitzt tief

Bis zum 1. September muss das Lehrpersonal in medizinischer Versorgung geschult werden. Nach den Ferien werden die Lehrkräfte zudem unterwiesen, wie sie sich bei einem Luftangriff zu verhalten haben. Die Schutzräume sollen über ausreichend Wasser und Medikamente verfügen und, wenn möglich, auch über Wi-Fi für den Unterricht.

Das Büro des Bildungsombudsmanns Sergej Gorbatschow hat unlängst eine Umfrage durchgeführt: Mehr als 60 Prozent der Befragten sind nicht bereit, ihre Kinder ab September am Präsenzunterricht teilnehmen zu lassen. Das Bildungsministerium erklärte hingegen, dass es die Ergebnisse der Umfrage nicht anerkenne und eigene Daten veröffentlichen wolle. Eltern können ihre Kinder ohnehin vom Präsenzunterricht abmelden – auch wenn die jeweilige Schule über entsprechende Schutzräume verfügt. „Manche Eltern haben Angst, ihr Kind in die Schule zu bringen. Sie müssen dann die Schulleitung benachrichtigen. Diese ist verpflichtet, dem Kind Online-Lehrangebote zugänglich zu machen“, sagte Bildungsminister Tschkarlet.

Mittlerweile haben 41 Prozent aller Bildungseinrichtungen (Stand vom 15. August) die Erlaubnis für Präsenzunterricht erhalten. Am schwierigsten ist die Situation in der Frontstadt Mykolajiw und Umgebung sowie im Gebiet Donezk. Dort sind nur 16 Prozent aller Schulen mit den erforderlichen Schutzräumen ausgestattet. Am besten sieht es im Westen der Ukraine aus, wo etwa 80 Prozent der Schulen ihre Tore öffnen werden. In der Hautstadt Kyjiw liegt diese Quote bei 68 Prozent – von 1.063 Schulen werden 740 öffnen.

Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen, wird es an den Schulen keine einheitlichen Lösungen geben. So gibt es in der Kiewer Schule Nr. 225 zwar einen Luftschutzbunker, jedoch keinen zweiten Ausgang und keine Internetverbindung. Die Schule Nr. 2 in der Stadt Mukatschevo in Transkarpatien im Westen des Landes kann nicht pünktlich zum Schuljahr öffnen, weil die Arbeiten an einem Lagerraum noch in vollem Gange sind.

In der Schule Nr. 2 in Lutsk wird es Ersatzunterricht geben, da nicht alle Schüler gleichzeitig in den Schutzraum hineinpassen. Die Schü­le­r*in­nen wechseln sich im Zweiwochenrhythmus beim Online- und Präsenzunterricht ab.

Unterrichten aus dem Ausland

Derzeit befinden sich 22.000 von 450.000 ukrainischen Päd­ago­g*in­nen im Ausland, das sind etwa 5 Prozent. Die Regierung hofft darauf, dass es keine personellen Engpässe geben wird. Es sei sogar gut, dass ein Teil im Ausland sei. Die Lehrkräfte könnten in ukrainischen Schulen arbeiten und Fernunterricht erteilen, sagte Ombudsmann Gorbatschow kürzlich.

Nach unterschiedlichen Schätzungen halten sich derzeit zwischen 700.000 und 1,5 Millionen Schü­le­r*in­nen im Ausland auf. Daher wird es in diesem Jahr in der Ukraine viel weniger Schulen geben, schon jetzt gibt es Probleme, erste Klassen einzurichten.

Schü­le­r*in­nen im Ausland können auf verschiedene Art und Weise lernen: online in ukrainischen Schulen, Präsenzunterricht dort, wo die Kinder und Jugendlichen jetzt wohnen oder eine Kombination aus beidem.

Eltern mit Kindern im Ausland berichten, dass in einigen Ländern Geldstrafen verhängt werden können, falls die Kinder die Schulen nicht besuchten. Das ist ein Problem, denn oft fallen die Unterrichtszeiten in ukrainischen und ausländischen Schulen zusammen.

Ombudsmann Gorbatschow hält es für ideal, wenn ukrainische Schü­le­r*in­nen an ausländischen Schulen täglich zwei bis drei Stunden Zeit hätten, um mit ukrainischen Lehrkräften zu arbeiten. Dies könne jedoch nur im Einvernehmen mit den Bildungsministerien der verschiedenen Länder erfolgen.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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