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Historisches Erbe und Ukraine-KriegErinnerung endgültig auslöschen

Schon einmal hat man in der Westukraine versucht, die Vergangenheit zu tilgen. Die Ukrainer kämpfen jetzt auch dafür, dass sich Geschichte nicht wiederholt.

Kulturelle Identität: patriotisches ukrainisches Tattoo, Lwiw, 2022 Foto: Bernat Armangue

W enn man beim Gang durchs Stadtzentrum von Lwiw aufmerksam nach links und rechts schaut, kann man an den Wänden einiger Gebäude unter abblätternder Farbe verblasste Inschriften entdecken.

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Es sind sogenannte „Geisterschilder“, die Namen ehemaliger Geschäfte und der Waren, die sie damals im Angebot hatten. Die meisten sind auf Polnisch oder Jiddisch, manchmal sieht man auch ukrainische oder deutsche Aufschriften.

Denn bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in der Stadt Hunderttausende Juden, Polen und Ukrainer. Nur wenige Jahre später waren davon nur noch zweihundert Juden am Leben. Die Mehrheit der Polen war gezwungen worden, die Stadt zu verlassen und viele Ukrainer hatte man in Konzentrationslager verschleppt oder wegen Nichtanerkennung der Sowjetmacht umgebracht.

Unter dem wachsamen Auge des KGB machte man sich dann daran, im Land eine „leuchtende Zukunft“ aufzubauen, in der für die komplizierte Vergangenheit kein Platz mehr sein sollte. Straßen wurden umbenannt, Denkmäler geschleift, Ladenschilder übermalt.

privat
Rostyslav Averchuk

ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Der russische Einmarsch in die Ukraine, der, wie es russische Medien berichten, der Klärung der „ukrainische Frage“ dient, soll ebenfalls sicher stellen, dass alle Erinnerungen an die Vergangenheit ausradiert und übermalt werden.

Die aufmüpfigsten Ukrainer kann man umbringen, die anderen einschüchtern oder kaufen. Und dann erst können russische Propaganda und Zensur aus der Ukraine einen fügsamen Teil des russischen Imperiums machen.

„Aufmüpfig“ zeigt sich allerdings die gesamte Ukraine. Um mit ihr fertig zu werden, sind die Russen bereit, jede dafür benötigte Anzahl an Menschen zu töten: durch die völlige Zerstörung von Mariupol, die Bombardierung von Wohnhäusern in Charkiw und die Erschießung von Zivilisten auf den Straßen von Butscha.

Und genau deshalb, um „diese tödliche Liebe“ Russlands trotzdem zu überleben, verteidigen sich die Ukrainer weiter. Sie kämpfen für ihre Sprache und Kultur, für das Recht, selber Entscheidungen zu treffen. Dafür, dass sie sich nicht in Geister auf den Straßen ihrer Städte verwandeln müssen.

Gleichzeitig führt die Ukraine weiter Verhandlungen mit Russland, in der Hoffnung, dadurch Menschenleben zu retten. Denn das Allerwichtigste, das sind die Menschen und ihre Würde, und nicht Land und Macht.

Solange die Russen das Leben nicht für ebenso wertvoll erachten wie das Gefühl der eigenen Größe und den Erwerb von Land – durch Blutvergießen der Soldaten und ihrer Opfer werden sich die russisch-ukrainischen Beziehungen nicht verbessern.

Und offene, ehrliche Gespräche werden nur mit den Russen möglich sein, die zumindest ihr Bedauern darüber ausdrücken, was ihr Staat und ihre Landsleute tun. Davon, offen gegen die Ermordung derjenigen aufzustehen, die sie noch bis vor kurzem „Brudervolk“ genannt haben, wollen wir hier gar nicht sprechen.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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7 Kommentare

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  • ""Kulturelle Identität: patriotisches ukrainisches Tattoo""

    Es ist - gelinde gesagt - ein Euphemismus.

    Meine Solidarität mit der Ukraine bedeutet nicht, Nazi-Symbole zu normalisieren

    • @Clara Raze:

      Der Russische Staatspräsident Medwedjew, von Putins Gnaden auch sein Vertreter führt zur Ukraine genau das aus, was hier Propagandquatisch ist: „Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes - höchstwahrscheinlich die Mehrheit - von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut - die Regierung ist schlecht“ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“



      Und weiter: „Neben den oben genannten (Anm.: die Streitkräfte) ist jedoch auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, schuldig. Sie haben die Naziregierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird.



      Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“



      Und weiter: „Die Entnazifizierung kann nur vom Sieger durchgeführt werden, was (1) seine absolute Kontrolle über den Entnazifizierungsprozess und (2) die Macht, diese Kontrolle zu gewährleisten, voraussetzt. In dieser Hinsicht kann ein entnazifiziertes Land nicht souverän sein... Der Name „Ukraine“ kann offensichtlich nicht als Titel eines vollständig entnazifizierten Staatsgebildes in einem vom Naziregime befreiten Gebiet beibehalten werden.“



      Die einzige "Nazi"-Partei in der Ukraine ist Svoboda, die 2 % bekommen haben. Mit der Begründung könnte man auf Deutschland Atombomben schmeißen wegen der AFD.

    • @Clara Raze:

      Der ganze Post pure Putinpropaganda. Die Symbolik des Staates Ukraine, unter der sich die als Ukrainer angegriffenen und als Ukrainer zur Vernichtung freigegebenen Ukrainerinnen jetzt versammeln, um Widerstand zu leisten als "Nazisymbol" zu diffamieren - da bleibt einem die Spucke weg, vor soviel Zynismus.



      Ekelhaft!

      • @agtaz:

        Man darf das nicht verharmlosen. Nur weil russische Propagandisten groteske Märchen erfinden (deren Adressat die russische Bevölkerung ist, die sowas glaubt, nicht wir, die wir es besser wissen), ist der westukrainische Nationalismus nicht harmlos.



        Und der dauernde Verweis auf den geringen Erfolg der Swoboda-Partei bei den Wahlen von 2019 ist ein Scheinargument. Die Partei ist ja nicht das Problem, sondern die rechtsextremen Freikorps (das ist ja nicht nur Asow, sondern davon gibt es viele) und die rechtsnationalen Netzwerke im SBU. Das Hauptproblem ist, dass diese Akteure durch den Krieg enorm an Einfluss gewinnen, den sie hinterher nicht mehr hergeben.

        Das patriotische Symbol selbst ist bis auf die rechte Ästhetik harmlos und stammt aus dem Mittelalter. Aber wer sich sowas tätowieren lässt, sagt dann eben oft auch "Slawa Ukraini" oder identifiziert sich unkritisch mit der OUN. Und das ist dann schon nicht mehr als harmlos abzuwimmeln.

        Die Gefahr ist eher, dass man sich wegen der abstrusen russischen Propaganda und den damit begründeten Terrorkrieg gar nicht mehr traut, den westukrainischen Nationalismus als das zu benennen, was er ist.

        Außerdem sind solche Tatoos lebensgefährlich, weil die Russen gezielt nach Leuten mit patriotischen Tätowierungen suchen und sie aussondern (und foltern oder töten). Man soll also keinem raten, sich sowas zuzulegen.

        Von einer Relativierung des russischen Angriffskriegs sehe ich im Ausgangsbeitrag von @Clara Raze nichts, sie sagt ja explizit, dass sie mit dem Land solidarisch ist und nur diese unangenehme Symbolik ablehnt.

    • @Clara Raze:

      Hallo Clara, das Tattoo stellt das Hoheitszeichen der Ukraine dar und ist auch auf vielen offiziellen Fotos zu sehen. Es ist kein Nazizeichen, sondern das Wappen der Ukraine. Nicht immer gleich die Nazikeule schwingen, wenn man mal was nicht versteht.

  • 2G
    2422 (Profil gelöscht)

    Ich finde, dass der Mangel dieses Artikels, dass er die Urheber des Holocaust verschweigt, nicht durch einen bloßen Link behoben ist.

    • @2422 (Profil gelöscht):

      Das ist wohl ein Missverständnis, der Artikel ist für Insider geschrieben, die die historischen Anspielungen auf die sehr komplizierten Verfolgungsgeschichten in der Westukraine einordnen können. Kann man leider nicht voraussetzen, und der verlinkte Artikel "Blutiges Erbe" hilft auch nur begrenzt weiter. Insofern ist das tatsächlich ein Manko.

      Bezug ist in erster Linie weniger der Holocaust, sondern die Sowjetisierung Galiziens nach dem russischen Einmarsch im September 1939 (NKWD-Morde, das große Trauma der Westukraine, von Demjaniw Las bis zum Massaker von Lemberg vor dem deutschen Einmarsch 1941). Die Juden wurden anschließend von Deutschen und Ukrainern ermordet, Letztere hielten sie für Komplizen der Russen. Die Polen 1943 in Wolhynien.

      Demjaniw Las und die NKWD-Morde in der Westukraine: www.welt.de/kultur...len-schweigen.html



      Bilder dazu: www.welt.de/kultur...elds-des-NKWD.html

      Lemberg 1941 und die "halbe Geschichte", d.h. die einseitige Geschichtsauffassung der Westukrainer:



      www.fr.de/politik/...chte-11114945.html



      www.via-regia.org/...er.von.Lemberg.pdf



      Maßgebend für Lemberg 1941 ist die Studie von Kai Struve aus 2015 (books.google.de/books?id=Tx1pCgAAQBAJ).

      Die Polen starben dann 1943 in Wolhynien:



      www.welt.de/geschi...xten-zerhackt.html