Historisches Erbe und Ukraine-Krieg: Erinnerung endgültig auslöschen

Schon einmal hat man in der Westukraine versucht, die Vergangenheit zu tilgen. Die Ukrainer kämpfen jetzt auch dafür, dass sich Geschichte nicht wiederholt.

Eine Frau lässt sich die Trysub tätowieren

Kulturelle Identität: patriotisches ukrainisches Tattoo, Lwiw, 2022 Foto: Bernat Armangue

Wenn man beim Gang durchs Stadtzentrum von Lwiw aufmerksam nach links und rechts schaut, kann man an den Wänden einiger Gebäude unter abblätternder Farbe verblasste Inschriften entdecken.

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Es sind sogenannte „Geisterschilder“, die Namen ehemaliger Geschäfte und der Waren, die sie damals im Angebot hatten. Die meisten sind auf Polnisch oder Jiddisch, manchmal sieht man auch ukrainische oder deutsche Aufschriften.

Denn bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in der Stadt Hunderttausende Juden, Polen und Ukrainer. Nur wenige Jahre später waren davon nur noch zweihundert Juden am Leben. Die Mehrheit der Polen war gezwungen worden, die Stadt zu verlassen und viele Ukrainer hatte man in Konzentrationslager verschleppt oder wegen Nichtanerkennung der Sowjetmacht umgebracht.

Unter dem wachsamen Auge des KGB machte man sich dann daran, im Land eine „leuchtende Zukunft“ aufzubauen, in der für die komplizierte Vergangenheit kein Platz mehr sein sollte. Straßen wurden umbenannt, Denkmäler geschleift, Ladenschilder übermalt.

Der russische Einmarsch in die Ukraine, der, wie es russische Medien berichten, der Klärung der „ukrainische Frage“ dient, soll ebenfalls sicher stellen, dass alle Erinnerungen an die Vergangenheit ausradiert und übermalt werden.

Die aufmüpfigsten Ukrainer kann man umbringen, die anderen einschüchtern oder kaufen. Und dann erst können russische Propaganda und Zensur aus der Ukraine einen fügsamen Teil des russischen Imperiums machen.

„Aufmüpfig“ zeigt sich allerdings die gesamte Ukraine. Um mit ihr fertig zu werden, sind die Russen bereit, jede dafür benötigte Anzahl an Menschen zu töten: durch die völlige Zerstörung von Mariupol, die Bombardierung von Wohnhäusern in Charkiw und die Erschießung von Zivilisten auf den Straßen von Butscha.

Und genau deshalb, um „diese tödliche Liebe“ Russlands trotzdem zu überleben, verteidigen sich die Ukrainer weiter. Sie kämpfen für ihre Sprache und Kultur, für das Recht, selber Entscheidungen zu treffen. Dafür, dass sie sich nicht in Geister auf den Straßen ihrer Städte verwandeln müssen.

Gleichzeitig führt die Ukraine weiter Verhandlungen mit Russland, in der Hoffnung, dadurch Menschenleben zu retten. Denn das Allerwichtigste, das sind die Menschen und ihre Würde, und nicht Land und Macht.

Solange die Russen das Leben nicht für ebenso wertvoll erachten wie das Gefühl der eigenen Größe und den Erwerb von Land – durch Blutvergießen der Soldaten und ihrer Opfer werden sich die russisch-ukrainischen Beziehungen nicht verbessern.

Und offene, ehrliche Gespräche werden nur mit den Russen möglich sein, die zumindest ihr Bedauern darüber ausdrücken, was ihr Staat und ihre Landsleute tun. Davon, offen gegen die Ermordung derjenigen aufzustehen, die sie noch bis vor kurzem „Brudervolk“ genannt haben, wollen wir hier gar nicht sprechen.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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