Die Qual der Klimawahl

Obwohl das Thema Klima viel Aufmerksamkeit bekommt, wird es die Wahl wohl nicht entscheiden. Was ist da schiefgegangen?

Links: Altenahr im September. Wochen nach dem Hoch­wasser ist die Zerstörung im Ahrtal immer noch groß Foto: Thomas Frey/dpa

Aus Ahrweiler, Bad Saulgau, Berlin, Bremen und Köln Sabine am Orde
, Christoph Schmidt-Lunau
, Malte Kreutzfeldt
und Kersten Augustin

Am Freitag in Berlin ist die Stimmung noch einmal so, wie sich das Kli­ma­schüt­ze­r:in­nen erhofft hatten. „Wenn ich das erste Mal wählen darf, ist unser CO2-Budget aufgebraucht“, ruft der zehnjährige Johann von der Bühne vor dem Reichstagsgebäude – und viele tausend Menschen jubeln. „1,5 Grad – Klima in den Bundestag!“, ruft die Menge. Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg ist extra aus Stockholm nach Berlin gereist, um beim globalen Klimastreik die große Bedeutung dieser Wahl zu unterstreichen.

Die Grünen können diese Unterstützung gut gebrauchen, sie stützt ihre zentrale Botschaft. „Die nächste Bundesregierung ist die letzte, die die Klimakrise noch aktiv beeinflussen kann“, das wiederholt ihre Kanzlerkandidatin Anna­lena Baerbock bei praktisch jedem Auftritt.

Lange sah es so aus, als ob diese Aussage verstanden und geteilt wird: Klimaschutz wird in vielen Umfragen als eines der wichtigsten Themen genannt, den Grünen die höchste Kompetenz dafür zugesprochen. Noch im Mai schlug sich das in den Umfragen nieder, die Grünen lagen ganz vorn. Mittlerweile sind sie auf Platz drei gefallen. Und in den Fernsehtriellen der Spit­zen­kan­di­da­t:in­nen wird vor allem diskutiert, wie hoch der Benzinpreis steigen darf. Der Anstieg des Meeresspiegels? Verdorrte Länder? Kein Thema.

Warum hatte die Klimapolitik nicht den Stellenwert im Wahlkampf, der notwendig wäre?

Wir haben uns auf eine Reise durch das Land begeben, um Antworten zu finden. Wir waren im Ahrtal, das im Sommer überflutet wurde, 133 Menschen kamen dort ums Leben. Die immer häufiger auftretenden Wetter­ex­treme sind eine Folge des Klimawandels. Hat sich hier der Blick auf die Politik geändert? Wir waren bei Wiebke Winter in Bremen, die die Klima-Union gegründet hat und für die CDU in den Bundestag will. Macht ihr Einsatz für eine fortschrittliche Union den Wahlsieg wahrscheinlicher? Wir haben den Wahlkreis Sigmaringen in Schwaben besucht, den einer der größten Klimabremser der CDU seit 16 Jahren bei jeder Bundestagswahl gewinnt – jetzt könnte er ihn gegen einen Grünen verlieren. Und wir sind nach Köln zu den Psychologen des Rheingold-Instituts gereist, um zu fragen: Wenn den Menschen die Klimapolitik so wichtig ist, warum streiten sich dann Laschet und Scholz um den Einzug ins Kanzleramt?

Ahrtal: Nach der Flut

Am Bahnhof Ahrweiler sammeln Bagger verbeulte Schienenstränge ein, die von der Flutwelle herausgerissen wurden. In diesem Streckenabschnitt fährt statt der Ahrtalbahn bis auf Weiteres ein Bus. Am gegenüberliegenden Flussufer räumen Bauarbeiter mit schwerem Gerät die Reste der demolierten Uferstraße. Im Flussbett liegen auch elf Wochen später noch Trümmer und Treibholz. Am Ortseingang stehen einsam zwei Großplakate von CDU und FDP, hier und da sieht man kleinere Plakate anderer Parteien. Am Ort der Katastrophe gibt es nur wenige Hinweise, dass auch hier am Sonntag gewählt wird.

Ein paar Kilometer flussabwärts in Bad Bodendorf wohnen Ulrike und Anton Simons. Er ist Lokalreporter, beide sind Mitglieder der Grünen. In ihrem Haus war das Hochparterre und das Erdgeschoss überflutet, an der Fassade kann man sehen, wie hoch die Flut gestiegen ist. Ihre Hühner, Tauben und Kaninchen sind in der Flut ertrunken. Zehn Wochen später sind die Innenräume und die Fassade weitgehend gesäubert, die verdreckten Möbel entsorgt. Rundherum wird gehämmert und gearbeitet.

Anton Simons nennt es „kollektive Verdrängung“, dass weder die politisch Verantwortlichen noch der Katastrophenschutz vorbereitet waren. In den letzten Jahrzehnten seien im Tal immer weitere Flächen versiegelt worden, die Bebauung verdichtet und näher an den Fluss herangerückt. „Wir müssen jetzt neu entscheiden, wie viel Platz wir der Ahr lassen“, sagt Ulrike Simons.

Das Ehepaar sitzt auf der inzwischen wieder sauberen Terrasse. Zu Besuch ist an diesem Tag Grünen-Kreissprecherin Stefanie Jürries. Sie ist im Wahlkampf unterwegs. An den Wahlständen werde schon über das Klima gesprochen, sagt sie. Aber zentral sei das Thema für die meisten Menschen im Ahrtal nicht: „Die haben jetzt andere Sorgen.“ Es gebe noch immer regelmäßig Suizide, von Menschen, die nicht mehr weiter wissen.

Die Region sei seit Jahrzehnten von der CDU dominiert. Doch der Stellenwert grüner Themen, der Klimaschutz vor allem, sei auch hier gestiegen, nicht erst seit der Flut. Bei der Landtagswahl im März hätten die Grünen ihren Stimmenanteil im Wahlkreis fast verdoppeln können, auf 9,5 Prozent der Zweitstimmen. Für den Wahlsonntag ist sie deshalb optimistisch.

In allen Prognosen, die es zur Wahl im Ahrtal gibt, liegen nicht die Grünen vorn, sondern CDU und SPD. Das Portal wahlkreisprognose.de rechnet beim Zweitstimmenergebnis mit einem knappen Sieg der SPD. Das Direktmandat werde mit 69-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder die CDU-Abgeordnete Mechthild Heil gewinnen. Die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsiegs der Grünen: null Prozent.

Nun sind Prognosen für einzelne Wahlkreise mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie kann das sein? An dem Ort, an dem die Klimakrise in Deutschland sichtbar und tödlich wurde wie nirgendwo sonst, wählt die Mehrheit jene Parteien, die für die mangelhafte Klimapolitik der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich sind.

Auf ihrem Großplakat posiert die CDU-Bundestagsabgeordnete Mechthild Heil vor einem idyllischen Ausblick aufs Ahrtal. „Fassungslos, aber nicht tatenlos – Wir bauen unsere Heimat wieder auf!“, das ist ihre Botschaft. Vor vier Jahren hat Heil den Wahlkreis mit deutlichem Abstand gewonnen, gegen die damalige SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles.

Dass ihre Wäh­le­r:in­nen ihr einen Denkzettel verpassen könnten für die Klimapolitik ihrer Partei, fürchtet Heil nicht. „Die Menschen haben hier im Moment andere Sorgen als das Klima“, sagt sie. Dass der Starkregen mit dem Klimawandel zusammenhänge, sei unstrittig, doch die tödliche Verkettung der Ereignisse in der Katastrophennacht habe andere Ursachen. „Auch in Zukunft, nach dem Wiederaufbau, wird es im Ahrtal Hochwasser geben. Wir müssen dafür sorgen, dass deshalb nicht Menschen sterben und die Schäden sich in Grenzen halten“, sagt Heil. Nicht alle Häuser werde man an gleicher Stelle wieder aufbauen können. Doch auf die Bergrücken könne man nicht ausweichen: „Da wächst unser Wein, das sind unsere wertvollsten Flächen.“

Heil ist Architektin, und sie ist Vorsitzende des Bauausschusses im Bundestag. Deshalb hat sie gleich eine Reihe von Vorschlägen parat: Man könne Häuser vor Unterspülung schützen, es müsse einen zweiten Fluchtweg über das Dach geben. Der Stromkasten dürfe künftig nicht mehr im Keller hängen, damit bei der nächsten Flut nicht sofort der Strom ausfällt und die Kommunikation zusammenbricht. Klimapolitik? Darüber spricht Heil nicht.

Es überwiege der Rückzug ins „eigene Schneckenhaus“, sagt Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut

Es scheint, als könnte im Ahrtal eine Kandidatin mit dem Erfolgsrezept von Olaf Scholz gewinnen: Mechthild Heil ist den Wäh­le­r:in­nen vertraut. Und sie hat für die größte Herausforderung der Menschheit eine kleinteilige, technische Lösung parat: Die Erderhitzung wird nicht bekämpft, sondern das Ahrtal umgebaut, damit die nächste Flut nicht so tödlich wird wie die letzte.

Schwaben: Campact gegen CDU

„Klimabremser abwählen“ steht auf Plakaten, die etwa 20 Ak­ti­vis­t:in­nen auf dem Marktplatz von Bad Saulgau hochhalten. Der CDU-Abgeordnete Thomas Bareiß kämpft hier im schwäbischen Wahlkreis Sigmaringen-Zol­lern­alb um den Wiedereinzug in den Bundestag. Von der Bühne ruft er seinen An­hän­ge­r:in­nen und den Protestierenden entgegen: „Ich bin stolz auf das, was wir in den letzten 16 Jahren bei diesem Thema gemacht haben.“ Das Publikum, das auf Bierbänken seiner Rede lauscht, klatscht begeistert, ein Storch, der oben auf dem Kirchturm hinter Bareiß in seinem Nest sitzt, stimmt klappernd ein.

Wie auch im Ahrtal ist Sigmaringen tiefstes CDU-Land – seit 1949 hat die Partei die Mehrheit. Bareiß hat bei den letzten vier Bundestagswahlen den Wahlkreis direkt gewonnen. Doch dieses Mal wird es knapp. Das liegt, neben den sinkenden Zustimmungswerten für die Union, auch am Klimaschutz.

„50 Prozent unseres Stroms stammt aus erneuerbaren Energien“, ruft Bareiß den Protestierenden zu. „Das hat kein anderes Land geschafft in der Welt.“ Die erste Aussage stimmt, die zweite ist Unsinn. Doch Bareiß’Behauptungen bleiben, von den Plakaten abgesehen, unwidersprochen.

Thomas Bareiß gilt nicht nur bei Umweltverbänden als einer der einflussreichsten Blockierer beim Klimaschutz. Als energiepolitischer Sprecher seiner Fraktion hat er bis 2018 daran mitgewirkt, den Ausbau erneuerbarer Energien zu verlangsamen; parallel war er Mitglied im Lobbyverband „Zukunft Erdgas“ und reiste mehrmals ins autoritär regierte Aserbaidschan, das Gas exportiert. Seit 2018 ist er parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, wo er daran beteiligt war, dass strengere Abstandsregeln für Windräder eingeführt wurden. Den CO2-Preis, den die Regierung beschloss, lehnte er lange ab; am Kohleausstiegsdatum 2038 und am Verbrennungsmotor will er festhalten.

Im seinem ländlich geprägten Wahlkreis nördlich des Bodensees hat Bareiß’ Haltung zum Klimaschutz bisher kaum eine Rolle gespielt. Hier ist er als heimatverbundener Kümmerer bekannt. „Die Menschen wissen, was sie an mir haben“, sagt Bareiß im Gespräch mit der taz. Dass sich das bald ändern könnte, liegt vor allem an Campact. Die Organisation, die sonst eher thematische Protestkampagnen organisiert, mischt sich diesmal in mehreren Wahlkreisen in den Wahlkampf ein.

„Thomas Bareiß ist mitverantwortlich dafür, dass Deutschland seine Klimaziele deutlich verfehlen wird und dass in den letzten Jahren mehr als 100.000 Arbeitsplätze in der Solar- und Windindustrie weggefallen sind“, sagt Campact-Mitarbeiter Damian Ludwig. „Eine solch unverantwortliche Politik muss abgewählt werden.“ Die Organisation steckt nicht nur hinter den „Klimabremser“-Plakaten bei der Kundgebung in Bad Saulgau. In E-Mails und per SMS mobilisiert sie ihre An­hän­ge­r:in­nen aus dem Wahlkreis, auf Tausenden von Haustürhängern ruft sie dazu auf, statt Bareiß den Grünen-Kandidaten Johannes Kretschmann zu wählen. In einer Wahlkreisumfrage von Mitte August liegt der gleichauf mit Bareiß, was in diesem Wahlkreis eine echte Überraschung ist.

Im schwäbischen Sigmaringen könnte den Grünen gelingen, woran sie bundesweit scheitern dürften: die CDU überholen. Das allerdings dürfte auch lokale Gründe haben, für die auch der Name Kretschmann steht: Die baden-württembergische Variante der Grünen ist es, die hier erfolgreich ist, kombiniert mit außerparlamentarischer Hilfe von Campact.

Johannes Kretschmann, 40, ist Sprachwissenschaftler und Sohn des Ministerpräsidenten. Mit der CDU hat er ebenso wenig Probleme wie sein Vater, sein Auftreten ist trotz längerer schwarzer Haare ebenfalls sehr bürgerlich: Im schwarzen Jackett mit Hohenzollernwappen am Revers beschreibt er nach einem Wahlkampfspaziergang durch das Städtchen Albstadt sein Unbehagen bei der Campact-Kampagne.

„Das ist nicht unser Stil“, sagt Kretschmann. Schließlich habe er zu Bareiß „ein freundliches, höfliches Verhältnis“. Und vielleicht müsse man nach der Wahl zusammenarbeiten. Einen Anti-Bareiß-Wahlkampf will er nicht führen. Im Mittelpunkt seines Wahlkampfs steht dann auch weniger die große Klimapolitik als lokale Themen wie die Elektrifizierung von Bahn­strecken.

Das mag eine taktische Anpassung an die Bedürfnisse im konservativen Wahlkreis sein. Es passt aber auch zur Strategie der Grünen: Bloß niemanden mit zu radikalen Positionen abschrecken. Die Kritik der Klimabewegung, dass auch das grüne Wahlprogramm nicht reicht, um Deutschland auf 1,5-Grad-Kurs zu bringen, fürchtet man weniger als Verbotsdebatten vom politischen Gegner und dem Springer-Verlag. Ob sich diese Strategie am Sonntag auszahlt, ist offen. Für Kretschmann Junior könnte sie funktionieren.

Im schwäbischen Sigmaringen haben Thomas Bareiß und die CDU gemerkt, dass ein Wahlkampf ohne Bekenntnis zum Klimaschutz in diesem Jahr nicht funktioniert. Die Union versucht, bei dem Thema aus der Defensive zu kommen. Aber wäre die CDU tatsächlich erfolgreicher, wenn sie sich glaubwürdiger für Klimaschutz einsetzen würde?

Bremen: Die Klima-Union

„Die Menschen haben hier im Moment andere Sorgen als das Klima“

Mechthild Heil, CDU Ahrweiler

Ein Samstagvormittag Anfang September, die Bremer CDU hat vor der Volksbank in der Einkaufsstraße in Vegesack im Norden der Stadt einen Wahlkampfstand aufgebaut. Für die Union sieht es laut Umfragen gerade düster aus. Das „Politikbarometer“ des ZDFs sieht die Konservativen nur noch bei 22 Prozent, die SPD liegt erstmals vorn. Wiebke Winter, 25, Direktkandidatin vor Ort, steht vor dem Stand und bietet den Vorbeilaufenden Flyer und Kulis an. Winter sitzt seit Dezember im Bundesvorstand ihrer Partei, im März hat sie die KlimaUnion gegründet, weil ihr die Politik ihrer Partei „nicht ehrgeizig genug“ war. Armin Laschet, der Kanzlerkandidat, hat sie gerade in ein Expertenteam berufen. Was wie eine sinnvolle Maßnahme klingt, wirkt verzweifelt, weil Laschet erst spät auf die Idee kam.

Die Sonne kämpft sich durch die Wolken, Winter zieht ihr Jackett aus. Zwei ältere Männer wollen mit ihr sprechen – nicht übers Klima, über den Kandidaten. „Söder wäre gut gewesen“, sagt einer. Sie sei ja auch für Söder gewesen, sagt Winter. Aber jetzt, wo sie Laschet näher kennengelernt habe, schätze sie seine offene Art. „Er kann zuhören“, entgegnet sie. Aber im entscheidenden Moment habe er nicht zugehört, fällt der andere Mann ein, und meint jene Szene im Flutgebiet, als Bundespräsident Steinmeier zu Betroffenen sprach, und Laschet im Hintergrund lachte.

Eine Frau tritt an den Stand und will wissen, was denn nun mit den 500 Millionen sei, die CSU-Verkehrsminister Scheuer mit der Maut in den Sand gesetzt habe, ein alter Mann kommt und beklagt sich über die Schließung von Sparkassenfilialen, ein anderer über die Maskenaffäre. Und immer wieder geht es um Laschet. Die Klimapolitik aber, sie ist hier kein Thema. Obwohl es die Priorität der Kandidatin ist. Das Hauptgesprächsthema sei die schlechte Performance des Kanzlerkandidaten, sagt auch eine der Helferinnen am Wahlkampfstand.

Winter glaubt trotzdem, dass die Klimapolitik für den Wahlkampf immens wichtig ist. Immerhin hätten die Grünen ihre Werte laut Umfragen fast verdoppelt. Und Laschet habe das Expertenteam zum Klima als Erstes von fünf präsentiert. „Wenn die CDU dieses Thema für so wichtig erachtet, obwohl es kein traditionelles CDU-Thema ist, sagt das etwas.“ Sie werde oft angesprochen, von jungen Leuten sowieso. „Viele sagen: Sie sind doch die mit der Umwelt, Sie sind doch die mit dem Klima. Die Leute kennen mich darüber.“

In der Tat dürfte Wiebke Winter, die es mit ihrem Engagement für Klimapolitik bis in die Talkshow von Markus Lanz geschafft hat, bekannter sein als die meisten anderen Kandidat:innen, die zum ersten Mal antreten. Ihre Chance, aus Bremen in den Bundestag einzuziehen, ist allerdings schlecht. Sie steht auf dem dritten Platz der Landesliste, aus dem kleinen Bremen wird voraussichtlich nur ein Christdemokrat nach Berlin gehen. In der CDU könnte Winter trotzdem Karriere machen.

Köln: Auf der Couch

Warum schlägt sich die Klimapolitik im Wahlkampf nicht deutlicher nieder? Das weiß Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut. Rheingold ist ein kleines Marketinginstitut, das für seine tiefenpsychologischen Interviews bekannt ist. Seit 2002 führt es vor jeder Bundestagswahl zweistündige Interviews und Gruppendiskussionen mit etwa 50 Wäh­le­r:in­nen durch. „Wir legen die Wäh­le­r:in­nen sinnbildlich auf die Couch“, so nennt Grünewald das.

Rheingold versucht, die In­ter­view­part­ne­r:in­nen so auszusuchen, dass die Gruppe nach Parteipräferenzen, aber auch nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Bildung ausgewogen ist. Repräsentativ im klassischen Sinne aber ist die Studie nicht.

In einem Sitzungsraum in Köln zieht Grünewald, 60, Psychologe und Mitbegründer des Instituts, eine ernüchternde Bilanz. „Es gibt keine Aufbruchstimmung“, sagt er. Nach anderthalb Jahren Pandemie seien die Wäh­le­r:in­nen damit beschäftigt, ihren Alltag in den Griff zu kriegen. „Die Leute denken nicht mehr so global oder europäisch.“ Es überwiege der Rückzug ins „eigene Schneckenhaus“.

„Und wenn sie aus diesem Schneckenhaus mal ihre Fühler ausstrecken“, sagt Grünewald, „dann realisieren die Menschen, dass die Delta­va­riante im Anmarsch ist, dass die Taliban Afghanistan erobern, die Flutwelle anrollt und Waldbrände unsere Urlaubs­re­gio­nen zerstören. Da türmen sich Problemberge auf – und man hat keinen Plan, wie man sie lösen kann.“

Rechts: Ak­ti­vis­t:in­nen halten auf dem Marktplatz von Bad Saulgau Plakate hoch. Hier, im schwäbischen Wahlkreis Sigmaringen-Zollernalb, kämpft der CDU-Abgeordnete Thomas Bareiß um den Wiedereinzug in den Bundestag Foto: Chris Grodotzki/Campact

Daraus entsteht, was Grünewald ein Machbarkeitsdilemma nennt: „Zwar erkennen die Menschen den Handlungsbedarf, sie sind aber zu angstvoll oder bequem, um das in Handlungsbereitschaft zu überführen.“ Dieses Dilemma präge auch den Blick auf die Kanzlerkandidat:innen: Einerseits wünschten sich viele Befragte starke Personen, die die Probleme angehen. Andererseits seien sie fast erleichtert, dass es diese nicht gibt. „Das ist ein Projektionsmechanismus. Wenn die Kan­di­da­t:in­nen stark sind, muss ich auch stark sein.“

In den Tiefeninterviews stellten die Rheingold-Mitarbeiter:innen eine „Kleinredelogik“ fest. Die Grünen, so Grünewald, würden am stärksten Wandlungsanspruch repräsentieren. Da seien die Menschen fast erleichtert über die Fehltritte der Spitzenkandidatin – denn damit seien sie selbst aus der Pflicht.

Die CDU, das ergeben die Interviews, gelte zwar weiter als starke und verlässliche Partei, Armin Laschet aber als zu weich. Sein Lachen im Flutgebiet habe ihn diskreditiert. „Ich habe selten erlebt, dass ein einzelner Fehler einen Kandidaten so geschwächt hat“, sagt Grünewald. Wenn Laschet nicht Kanzler werde, dann auch wegen dieses einen Bildes.

Scholz werde als jemand erlebt, der vor allem von den Fehlern der anderen profitiere. „Die Wäh­le­r:in­nen konstatieren mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung, dass scheinbar keiner der Kan­di­da­t:in­nen diese Herkulesaufgabe stemmen kann.“

Die Aktivistin Luisa Neubauer hatte in dieser Woche noch einmal dafür plädiert, ein paar bittere Wahrheiten in den Wahlkampf einzuführen. Sie wirkte dabei etwas resigniert: „Wir haben“, sagte sie in einer Talkshow am Dienstag, „nicht mehr die Wahl zwischen mehr oder weniger Klimaschutz, mehr oder weniger Pendlerpauschale. Wir haben nur die Wahl zwischen richtig gutem, radikalen Klimaschutz und einer Klimakrise, wie wir sie uns nicht vorstellen wollen.“

Am Sonntag werden die Menschen überall im Land in Grundschulen spazieren, um abzustimmen. Im Ahrtal nicht, sie sind zu beschädigt. Stattdessen sind schon seit Wochen Busse unterwegs, um Briefwahlunterlagen auszuteilen und die Stimmzettel gleich wieder mitzunehmen.

Deutlich mehr Menschen als je zuvor werden bei ihrer Stimmabgabe auch an die Erderwärmung denken, an den steigenden Meeresspiegel, an Brände und Flut. Das ist eine neue Entwicklung. Doch ob im zerstörten Ahrtal, im konservativen Sigmaringen, ob in Bremen, Köln oder Berlin: Dies wird voraussichtlich die Wahl nicht entscheiden. Statt konsequentem Klimaschutz will die Mehrheit der Po­li­ti­ke­r:in­nen das Gefühl vermitteln: Fürchtet euch nicht. Dabei gab es selten so gute Gründe sich zu fürchten wie heute.