Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband: Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Viel mehr Menschen als bisher angenommen sind armutsgefährdet, wenn die Wohnkosten mit berücksichtigt werden. Das hat der Paritätische neu errechnet.
![Eine Seniorin mit Geld in der HAnd Eine Seniorin mit Geld in der HAnd](https://taz.de/picture/7411622/14/36631803-1.jpeg)
Nur ist es so: Frau Müller hat einen alten Mietvertrag, zahlt eine Warmmiete von 450 Euro und hat somit 1.320 Euro zum Leben. Frau Schmidt musste aber umziehen, weil sie mit zunehmenden Alter auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen war. Für ihre neue und sanierte Zweizimmerwohnung muss sie nun aber 900 Euro warm zahlen. Nach Abzug der Miete bleiben ihr also nur noch 870 Euro – und das ist nicht viel.
Mit diesem fiktiven Modellbeispiel macht der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer neuen Kurzexpertise auf ein alltägliches Problem aufmerksam. Das 28 Seiten lange Papier mit dem Titel „Wohnen macht arm“ wurde am Freitag veröffentlicht und lag der taz vorab vor. Es zeigt mit lebensweltlichen Beispielen auf, dass es einen erheblichen Unterschied macht, wie hoch die Wohnkosten einer Person sind. Sie sind für die meisten Menschen der größte monatliche Ausgabenposten.
Neue Berechnungsmethode
Um „das alltagspraktische Ausmaß der Armut besser zu erfassen“, hat der Paritätische deshalb eine neue Armutsermittlung entwickelt. Hierzu wurden die Einkommen um die Wohnkosten bereinigt und danach eine neue Armutsgrenze ermittelt. Die verwendeten Daten beruhen auf einer Sonderauswertung des Mikrozensus durch das Statistische Bundesamt.
Die Kurzexpertise kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Demnach sind 5,4 Millionen Menschen mehr von Armut betroffen, als bisher angenommen. Insgesamt seien 21,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, also 17,5 Millionen Menschen, von Wohnarmut betroffen. Das ist jede fünfte Person. In den konventionellen Armutsstatistiken seien diese Menschen „bislang unsichtbar“ geblieben.
Zur Einordnung: Im Jahr 2023 galt laut Statistischem Bundesamt jede siebte Person (14,3 Prozent der Bevölkerung) als armutsgefährdet, was knapp 12 Millionen Menschen entspricht. Für einen Einpersonenhaushalt lag die Armutsgrenze 2023 bei einem Einkommen von 1.314 Euro – mit inbegriffen sind dabei alle Transferleistungen wie zum Beispiel Bürgergeld oder Wohngeld. Nach der neuen Berechnungsmethode gilt eine allein lebende Person als arm, wenn dieser nach Abzug der Wohnkosten weniger als 1.016 Euro im Monat bleiben.
Um nochmals auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Frau Schmidt, die eine barrierefreie Wohnung brauchte, die nach Abzug der Mietkosten nur noch 870 Euro zur Verfügung hatte, würde so als arm gelten.
Die Berücksichtigung von Wohnkosten in der Armutsmessung lege damit „ein bislang nicht gesehenes Ausmaß an Armut offen“, heißt es in der Kurzexpertise. In der Tendenz gelte: Je niedriger das Einkommen, desto höher seien die relativen Ausgaben für Wohnen.
Da sich Wohnkosten je nach Lage, Stadt oder Land, Ost oder West erheblich unterscheiden, zeigen sich auch regionale Unterschiede. Mit der neuen Rechenmethode sei die Armutsquote besonders hoch in Bremen (29,3 Prozent), Sachsen-Anhalt (28,6 Prozent) und Hamburg (26,8 Prozent). In Baden-Württemberg (18,5 Prozent) und Bayern (16,3 Prozent) sind vergleichsweise weniger Menschen betroffen. Was interessant ist: In Hamburg und Schleswig-Holstein ist der Unterschied zwischen beiden Armutsquoten besonders hoch.
Es trifft viele Rentner*innen
Armutsgefährdet sind laut Bericht insbesondere junge Erwachsene (18 bis unter 25 Jahre) sowie ältere Menschen ab 65 Jahren (27,1 Prozent). Schlüsselt man die Daten nach Haushaltstypen auf, zeigt sich, dass Einpersonenhaushalte und Alleinerziehende in hohem Maße armutsbetroffen sind, Frauen noch stärker als Männer.
Wohnen entwickele „sich mehr und mehr zum Armutstreiber“, erklärte Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Es brauche daher neben guten Löhnen und besserer sozialer Absicherung auch „eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält“. Die künftige Bundesregierung müsse zudem „neue, dauerhaft sozial gebundene Wohnungen schaffen“.
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