Streit zwischen Grünen und Tübingens OB: Sarrazin springt Palmer bei
Die Südwest-Grünen haben ihr seit Jahren umstrittenes Mitglied aufgefordert, die Partei freiwillig zu verlassen. Boris Palmer will ihnen diesen Gefallen nicht tun.
Unklar ist, was auf Palmer jetzt zukommt. Die Satzung der Landespartei listet mögliche Ordnungsmaßnahmen gegen Parteimitglieder auf: Verwarnungen, Aberkennung der Leitungsfunktion, zeitweiliges Ruhen der Mitgliedsrechte bis zu zwei Jahren, Ausschluss aus der Partei. Auf der Bundesebene strebt man derzeit jedoch kein Ausschlussverfahren an.
„Die kursorische Prüfung hat gezeigt, wie schwer die Erfolgsaussichten einzuschätzen sind“, sagte eine Parteisprecherin am Samstag in Berlin. „Wir legen deswegen unser gemeinsames Augenmerk auf die politischen Maßnahmen.“ Der Bundesvorstand habe Anfang der Woche deutlich gemacht, dass er Palmer politisch nicht mehr unterstützen werde.
Gegenüber der Presseagentur dpa sagte Palmer: „Ich bin aus ökologischer Überzeugung Grüner. Deswegen bleibe ich Mitglied.“ Er forderte die Grünen zu einer öffentlichen, argumentativen Auseinandersetzung mit ihm auf. Er werde verurteilt für etwas, was er nicht gesagt habe. Die Grünen beteiligten sich daran, die Demokratie zu einer „Empörungsarena“ umzugestalten, meinte er.
Palmer hatte in einem Interview zur Conona-Pandemie gesagt: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Er erklärte seine Aussage mit der Sorge um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht sei. Palmer räumte nach Kritik aber ein, dass sein Satz ohne den Kontext und wegen seiner scharfen Formulierung Anlass zum Missverständnis gegeben habe. Das bedauere er. Er habe nicht davon gesprochen, alte und kranke Menschen aufzugeben. „Ich erwarte selbstverständlich, dass jeder Mensch die bestmögliche medizinische Versorgung erhält.“ In einem Gespräch mit der taz hatte er sich für eine temporäre Quarantäne von Senioren und Menschen mit Vorerkrankungen ausgesprochen.
Sarrazin: gröbere Form der Äußerungen Schäubles
Unterstützung bekam Palmer von dem früheren SPD-Politiker Thilo Sarrazin, der ebenfalls seit Jahren mit seiner Partei im Streit liegt. Offensichtlich sei, dass die Grünen Palmer mehrheitlich schon länger nicht mehr mögen würden, sagte Sarrazin am Samstag den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Jetzt sehen viele einen willkommenen Anlass, in Bezug auf Boris Palmer ‚reinen Tisch‘ zu machen.“
Palmers Äußerungen zu den Corona-Kranken entsprächen „in etwas gröberer Form etwa dem, was Wolfgang Schäuble etwas abstrakter geäußert hatte“, sagte Sarrazin. Die SPD versucht seit Jahren, Sarrazin wegen islamkritischer Bücher und Thesen aus der Partei auszuschließen.
Schon am Montag hatten Bundes- und Landesspitze erklärt, Palmer nicht mehr unterstützen zu wollen. Der Landesvorstand bekräftigte nun: „Boris Palmer spricht nicht für die Grünen und die Grünen stehen nicht hinter Boris Palmer.“ Für einen Parteiausschluss gibt es hohe Hürden. Führende Grünen hatten sich deshalb bislang gegen die Einleitung eines solchen Verfahrens ausgesprochen.
In einem vor der Entscheidung des Landesverbandes geführten Interview mit dem Spiegel sagte die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock über Palmer: „Wir sind ein freies Land, da kann jeder sagen, was er will. Aber wir haben die Freiheit, deutlich zu machen, dass wir eine weitere Kandidatur und seinen Wahlkampf nicht unterstützen werden. Boris stellt sich immer wieder bewusst provokativ gegen die Werte unserer Partei und schadet ihr.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip