Soziologe El-Mafaalani über Integration: „Die Infrastruktur bröckelt“
Aladin El-Mafaalani hat lange positiv auf die Integration in Deutschland geblickt. Nun sagt er: Wenn sich Bildungs- und Sozialpolitik nicht ändern, geht es bergab.
wochentaz: Herr El-Mafaalani, vor fünf Jahren ist Ihr Buch „Das Integrationsparadox“ erschienen, das der Spiegel das „Gute-Laune-Buch des Jahres“ genannt hat. Die Botschaft: Mit der deutschen Einwanderungsgesellschaft läuft es besser als gedacht. Inzwischen steht die AfD bundesweit bei über 20 Prozent, alle reden darüber, dass die Anzahl der Geflüchteten begrenzt werden muss, und auf Demos wird die Hamas verherrlicht. Sind wir immer noch auf einem guten Weg?
Aladin El-Mafaalani: In der Langzeitperspektive würde ich immer noch sagen, bislang läuft es im Hinblick auf Integration im Allgemeinen gut. Die Arbeitsintegration etwa von denen, die 2015 zu uns gekommen sind, ist nach sieben Jahren schon so, wie es viele erst nach zehn Jahren erwartet hätten. Und das trotz Pandemie. 80 Prozent der Männer arbeiten, das ist sehr gut. Aber bei den Frauen sind es nur etwa 20 Prozent. Der Hauptgrund dafür sind die fehlenden Kitaplätze. Und da sind wir beim Problem: Die Integration läuft unter den derzeitigen Rahmenbedingungen noch gut. Aber die Rahmenbedingungen verschlechtern sich. Die Infrastruktur, also Schulen, Kitas, das Gesundheitssystem, bröckelt – und mehr als das. Deshalb werden wir künftig Probleme haben, die gleiche Anzahl an Zugewanderten wie bisher zu integrieren. Wenn wir bei der Infrastruktur nicht richtig viel tun, müssen wir die Anzahl reduzieren. In die Zukunft geblickt sieht es also gar nicht gut aus.
Wenn man das hört und an den Fachkräftemangel denkt und an die Wahlumfragen, kann man nervös werden.
Dass es mit der Infrastruktur nicht läuft, merkt man an jeder Ecke. Die Menschen kriegen mit, dass es so nicht weiter gehen kann. Ich bin selbst auch enttäuscht, mit wie wenig Weitblick in der Politik grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden.
Nämlich?
Es ist komplett falsch, jetzt zu sparen. So kann man nur entscheiden, wenn man die Größe des Problems nicht verstanden hat. Der Bund, die Länder: Wir müssten investieren in Bildung und Integration. Ein Sondervermögen in Milliardenhöhe wäre wirklich sinnvoll. Jetzt gäbe es noch personelle Kapazitäten, wenn auch begrenzt: beim pädagogischen Personal, das wir in den Schulen zusätzlich einsetzen könnten, bei den Handwerkern, die die Schulen umbauen könnten. Zumindest das sollte man ausschöpfen. Bald wird sich der Arbeitskräftemangel zuspitzen. Spätestens dann bräuchten wir dringend Zuwanderung, aber auch die entsprechende Integrationsinfrastruktur.
Bislang sind Sie öffentlich eher als Optimist verstanden worden. Hat sich die Lage so verschlechtert oder haben wir Sie alle missverstanden?
Ich glaube, ich wurde auch ein bisschen missverstanden. Ich habe ja nur gesagt: Deutschland ist in Sachen Integration nicht schlechter als andere Länder. Und wir sind besser, als wir früher waren. Viele Diskussionen und Konflikte haben wir, weil es besser läuft.
Jahrgang 1978, ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück und hat über viele Jahre zu den Themen Bildung, Integration und Rassismus geforscht. Bekannt wurde er mit seinem Buch „Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ (2018). Er hat 2023 das Bundesverdienstkreuz erhalten und ist Mitgründer des PEN Berlin.
Sie benutzen dafür das Bild vom Tisch, an dem erst nicht alle sitzen dürfen. Und irgendwann wollen die Neudazugekommenen nicht nur mitessen, sondern auch darüber mitbestimmen, nach welchen Rezepten gekocht wird.
Genau, deshalb nehmen die Konflikte zu. Das stimmt alles noch, was ich im „Integrationsparadox“ geschrieben habe. Aber es zeichnet sich ab, dass es nun bergab gehen wird. Besonders Sorgen machen mir die Rahmenbedingungen bei allem, was mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat – also Kitas, Schulen, Jugendhilfe, auch die Infrastruktur für Kindesgesundheit.
Hinzu kommt jetzt eine weitere Krise, die bis in die Schulen durchschlägt: der Terroranschlag der Hamas auf Israel und die Folgen. Wie blicken Sie darauf?
Ich habe schon vor mehr als zehn Jahren einen Text dazu geschrieben, dass wir sowohl die deutsche Geschichte als auch den Nahostkonflikt anders unterrichten müssten. Wie wir das tun, passt nicht in eine Migrationsgesellschaft. Der Unterricht richtet sich an Kinder und Jugendliche, deren Großeltern schon Deutsche waren. Aber in den westdeutschen Großstädten trifft das auf die meisten Schülerinnen und Schüler nicht mehr zu. Hinzu kommt ja noch, dass viele von denen familiäre Wurzeln im Nahen Osten haben. Für sie ist das alles kein historisches Thema, sondern sehr aktuell. Der Unterricht geht an den jungen Leuten vorbei. Und weil die herkömmliche Geschichtsvermittlung nicht funktioniert und zu Konflikten führen kann, findet sie an vielen Schulen gar nicht mehr umfangreich statt. Man versucht, das Thema auszuklammern, insbesondere den Nahostkonflikt.
Haben Sie das untersucht?
Nein, aber das wird immer wieder berichtet. Es ist ein extrem schwieriges Thema, nicht nur für die Jugendlichen, deren Familien vom Nahostkonflikt betroffen sind. Meiner Wahrnehmung nach gibt es einen großen Unterschied zwischen dem medialen und politischen Diskurs auf der einen Seite und der Haltung in der jüngeren Bevölkerung auf der anderen Seite.
Inwiefern?
Viele Jüngere können nicht nachvollziehen, warum die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, und das hat gar nicht so viel mit einem Migrationshintergrund zu tun. Das sieht man etwa auf TikTok sehr deutlich.
Berlin, aber auch andere Städte, verbieten propalästinensische Demonstrationen, in manchen Schulen dürfen derzeit keine Palästinensertücher getragen werden. Ergibt das für Sie Sinn?
Ich verstehe, dass es schwierig ist, diese Demos stattfinden zu lassen. Aber Verbote bringen nichts.
Sie stammen aus einer syrischen Familie, sind in Deutschland geboren und zur Schule gegangen, und haben, wie Sie sagen, sich selbst lange als Araber und nicht als Deutscher verstanden. Hätten Sie auch bei Demos landen können, wie sie gerade in Berlin-Neukölln stattfinden – und wo sich auch Antisemitismus und Gewalt Bahn brechen?
Ich bin früher auf ganz vielen Attac-Demos gewesen, bei denen es häufig gewalttätige Auseinandersetzungen gab, an denen ich aber nie beteiligt war. Ich hatte keine Affinität zu Hass und Gewalt. Und ja, als Teenie fühlte ich mich ausschließlich als arabisch, und die deutsche Geschichte war nicht meine.
Wie hat sich das geändert?
Erst später ab der Oberstufe. Da haben wir uns den Film Schindlers Liste angeguckt und Holocaustüberlebende getroffen. Dadurch wuchs in mir das Verständnis, dass es eine Verantwortung für alle ist und nicht nur für die Nachfahren der Täter.
Was muss an den Schulen anders werden?
Es ist schwer, das kurz zu fassen. Ich glaube, es funktioniert besser, wenn man nicht nur von der Shoah ausgeht, sondern beschreibt, dass Juden über Jahrhunderte verfolgt wurden. Dass sie keine Reiche und Kolonien gebildet oder Kriege geführt haben, aber trotzdem an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten ausgegrenzt, benachteiligt und verfolgt wurden und sie gleichzeitig für alle möglichen Probleme verantwortlich gemacht wurden. Dass die staatlich organisierte Massenvernichtung also der unvorstellbare Höhepunkt einer langen Geschichte war und die Antwort darauf der eigene Staat war, um nie wieder Opfer zu sein. Und man muss auch darüber sprechen, was die Gründung des Staates Israel für die Palästinenser, für die sich die Situation seit Jahrzehnten kontinuierlich verschlechtert und die heute in unwürdigen Verhältnissen leben, bedeutet. Und ich würde sogar noch weiter gehen: Man müsste mit Jugendlichen auch andere ethnische und religiöse Konflikte thematisieren, zu denen die zugewanderten Familien eine direkte Beziehung haben. Aber derzeit haben wir nicht genügend Lehrkräfte, die das hinbekommen könnten. Und die Rahmenbedingungen in Schulen sind, wie schon gesagt, insgesamt wirklich nicht günstig.
Würden Sie der These zustimmen, dass unsere Gesellschaft gespalten ist, so polarisiert wie lange nicht mehr?
Die Diskurse sind polarisiert, die Gesellschaft ist mehrstimmig, also wenn überhaupt, dann multipolar.
Heißt was?
Dass es nicht, wie in den USA, zwei Pole gibt, die sich immer weiter auseinanderbewegen. Wir sind multipolarisiert und haben keine verhärteten Fronten. Es gibt eher super viele unterschiedliche Perspektiven und ein ziemliches Durcheinander. Rechtsextreme und antiliberale Einstellungen waren in der Bevölkerung aber immer verbreitet, nur dass wir heute eine Partei haben, die das alles aufsammelt, und einen Diskurs, in dem solche Positionen offensiver vertreten werden.
In einem Vortrag haben Sie jüngst gesagt, dass vor allem gesellschaftliche Liberalisierung und Emanzipationsbewegungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschwächt haben. Was bedeutet das?
In westlichen Demokratien bildeten vor allem drei Sachen die sozialen Bindekräfte: gemeinsame nationale Traditionen, eine gemeinsame ethnische Herkunft oder ein gemeinsames religiöses Bekenntnis. Das gab auch in Zeiten des Wandels Orientierung. Aber die geht umso stärker verloren, je einflussreicher emanzipatorische Bewegungen sind. Von Pierre Bourdieu kann man etwa lernen: Wenn man Herrschaftsstrukturen bekämpft, bekämpft man auch Orientierung und Sinnverhältnisse. Stellen Sie sich das wie einen schmutzigen Schneeball vor, da kriegt man den Dreck nicht mehr vom Schnee getrennt.
Meinen Sie, die Emanzipationsbewegungen überspannen den Bogen also?
Nein, diese Dynamik wohnt der Entwicklung inne, und es ist gut, dass es sie gibt. Aber wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es, dass die Leute, die schon lange in verantwortungsvollen Positionen sind, ein bisschen mehr zuhören und ein bisschen mehr entgegenkommen. Und dass diejenigen aus den sozialen Bewegungen wahrnehmen, dass sie mittlerweile mit am Tisch sitzen, dass sie Verantwortung haben und den Kampfmodus manchmal verlassen können. Am ehesten sehe ich diese Entwicklung beim Feminismus.
Was meinen Sie damit?
Dass die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen zwar noch nicht vollends erreicht, aber so weit fortgeschritten ist, dass viele Männer von sich aus Zugeständnisse machen und Frauen nicht mehr alleine kämpfen müssen. Das zeigt aber auch, wie viel Zeit das braucht. Aber mich interessiert auch, warum die Entwicklung gerade jetzt als so schlimm empfunden wird, obwohl es den Prozess schon lange gibt.
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Und warum?
Aus meiner Perspektive gibt es zwei relevante Aspekte: Zum einen melden sich sehr viele verschiedene „Gruppen“ gleichzeitig – Feminismus, LGBTQ+, Antirassismus und andere – und mischen sich ein. Zum anderen hatten wir ein Beruhigungsmittel. Meine These ist, dass das Wirtschaftswachstum den Orientierungsverlust lange beruhigt hat. Es gab mehr zu verteilen, Aufstieg war möglich, und wenn es schief ging, gab es einen starken Sozialstaat. Aber dieses Beruhigungsmittel verlieren wir zunehmend. Die Wachstumsraten werden immer kleiner, die ökonomische Ungleichheit wächst, und nicht zuletzt durch den Klimawandel stehen bisherige Selbstverständlichkeiten unserer Lebensweise wie Mobilität und Konsum zur Disposition. Beides, sowohl die Emanzipationstendenzen als auch die Gefährdung des Wirtschaftswachstums – auch durch Ideen wir Degrowth – wird sehr einseitig den Grünen zugeschrieben, die dadurch für viele zum Hassobjekt werden. Von all dem profitieren am stärksten Populisten: Die nehmen das Gefühl auf, dass alles Mist ist, dass die Politik die Probleme nicht löst. Und die populistische Lösung ist ganz einfach: „Früher war es besser“. Dabei war früher nur eins besser: Die Zukunft. Ohne eine glaubhafte positive Zukunftsperspektive wird es kaum möglich sein, etwas gegen Rückwärtsgewandtheit zu bewirken. Und es könnte noch schlimmer werden.
Inwiefern?
Bei uns werden bald die Rentnerinnen und Rentner die Wahlen allein entscheiden, bei der nächsten Bundestagswahl ist das Durchschnittsalter 55. Die Rentner sind relativ wenig divers. Aber die Leute, die den Laden am Laufen halten, sind wenige und sehr divers. Das wird zu Reibungen führen. In einer immer älteren Bevölkerung werden die Interessen und Bedürfnisse von jungen Menschen immer weniger berücksichtigt. Ich führe darauf auch zurück, dass die Jüngeren, die durch Covid am wenigsten gefährdet waren, durch die Gegenmaßnahmen am stärksten belastet wurden.
Merken Sie auch ganz persönlich, dass sich die gesellschaftliche Stimmung verschlechtert hat?
(lacht) Wenn ich ein Bundesverdienstkreuz kriege, läuft es schlecht, also gesellschaftlich schlecht.
Warum?
Ich beschäftige mich ausschließlich mit sozialen Problemen und Konflikten. Wenn ich besonders gefragt bin oder meine Arbeit öffentlich stark wahrgenommen und anerkannt wird, dann ist das ein guter Hinweis dafür, dass einiges nicht gut läuft.
Dann hat das Bundesverdienstkreuz, das Sie kürzlich bekommen haben, für Sie keine große Bedeutung?
Mit dem Bundesverdienstkreuz konnte ich erst mal nichts anfangen. Bis ich dann in Schloss Bellevue gesehen hab, dass das eine große Sache ist und wie wichtig das für andere ist. Sogar arabische Medien haben über mich berichtet, mein Vater und meine Mutter waren total stolz. Über diese Umwege gewann der Orden auch für mich an Bedeutung. Also ja, ich fühle mich sehr geehrt.
Sie haben eine beachtliche Karriere als Wissenschaftler mit einer öffentlich wahrgenommenen Stimme gemacht. Hat Ihre Herkunft dabei geholfen?
Welche Herkunft jetzt?
Dass Sie Kind syrischer Einwanderer sind.
Das hatte nicht viel Einfluss, inzwischen gibt es ja viele Wissenschaftler mit Migrationshintergrund. Mindestens genauso wichtig ist, dass ich Punk war und manchmal noch ein bisschen so drauf bin. Dass mir egal ist, wenn Kollegen das zu wenig professoral finden, wie ich rüberkomme. Dass ich gerne Sachen einfach und auch unterhaltsam formuliere, auch wenn es dann nicht superpräzise ist, damit ich ein Publikum erreiche, das man sonst nicht erreicht. Dazu kommt dann noch, ja klar, dass ich Aladin heiße, muslimisch bin und so weiter.
Und was bedeutet die Herkunft für Ihre Forschung?
Da spielt sie eine größere Rolle. Die Biografie beeinflusst, welche Fragen man stellt und wie man sie stellt. Die Migrations- und die Bildungsforschung waren am Anfang relativ einseitig, es gab noch nicht viele Forschende mit biografischen und familiären Migrationsbezügen. Deshalb konnte ich Fragen stellen, die vorher so noch nicht gestellt wurden. Und Fragen zu stellen mit hoher wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Relevanz, das kann ich ganz gut.
Sagen Sie mal ein Beispiel.
Eigentlich fing es schon bei meiner Doktorarbeit an, die war zu Bildungsaufsteigern aus benachteiligten Milieus. Ich habe damals nicht verstanden, warum die migrationsspezifischen Hindernisse so betont wurden.
Warum?
Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen. Meine Eltern haben beide Abitur, beide studiert, mein Vater war Arzt. Und ich dachte: Alles, was dem Migrationshintergrund zugeschrieben wird, habe ich nicht erlebt. Deshalb habe ich mich sehr ausführlich damit beschäftigt, Schichtzugehörigkeit und Migrationskontexte zu differenzieren.
Ihr jüngstes Buch, das vor zwei Jahren erschienen ist, heißt „Wozu Rassismus?“. Warum jetzt ein Buch über Rassismus?
Ich habe auch schon vorher zu Rassismus und Diskriminierung gearbeitet, aber das Thema ist durch den Fall George Floyd hier gesellschaftlich ganz anders relevant geworden. Es gibt viele Unterschiede, zum Beispiel zu den USA, deshalb kann man den Diskurs nicht einfach übernehmen. Ein Unterschied: Deutschland ist nach den Völkermorden der Nazis so homogen gestartet wie kein anders westliches Land, hatte danach aber auch so viel Einwanderung wie kaum ein anderes. Beim Anteil der Migranten an der Bevölkerung liegen wir vor den USA, Großbritannien und Frankreich. Und nun kommen mehrere Aspekte zusammen: Wir haben einerseits inzwischen also wesentlich mehr Menschen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sein könnten, als jemals zuvor. Gleichzeitig gibt es deutlich bessere Teilhabechancen, was ein Hinweis auf eine Schwächung diskriminierender Strukturen ist, aber: Betroffene sind deshalb sensibilisierter für Ungleichbehandlung.
Dass der Rassismusvorwurf heute so häufig wie nie zuvor kommt, ist also ein gutes Zeichen?
Ja. Das liegt zum großen Teil daran, dass es in Deutschland so viele mögliche Betroffene wie noch nie gibt und diese Menschen gleichzeitig einen höheren Anspruch an Gleichheit und Zugehörigkeit haben. Deshalb wird häufiger gesagt: So geht's nicht.
Dieses „So geht’s nicht“ wird oft harsch vorgebracht, obwohl es anders vielleicht sogar eher ans Ziel führen würde …
Man kann sich wünschen, dass der Diskurs anders geführt wird, aber das geht im Augenblick nicht. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich die benachteiligten Menschen anschauen. Der größte Teil von ihnen meldet sich gar nicht zu Wort, obwohl sie am stärksten betroffen sind und am wenigsten von den Teilhabechancen profitieren. Den anderen Teil kann man in drei Strömungen teilen. Die ersten sagen ganz funktional: Ich rede nur über meine syrische Herkunft, weil ich sonst nicht darüber reden kann, dass ich diskriminiert werde. Aber eigentlich soll Herkunft keine Rolle spielen. Die zweiten sagen sehr normativ: Ich liebe meine syrische Herkunft. Ich will, dass alle wissen, dass ich aus Syrien und Muslim bin, ich bin stolz darauf. Pride! Diese beiden Positionen können sich kaum ausstehen.
Und die dritte?
Die dritten sagen: Die „alten weißen Männer“ haben uns diesen Nationalismus eingebrockt. Die beiden anderen Strömungen reproduzieren diesen und damit die Herrschaftsstrukturen, die es aus der dritten Perspektive zu dekonstruieren gelte. Diese drei Strömungen haben alle das gleiche Interesse. Sie nehmen wahr, diskriminiert zu werden, und wollen dagegen etwas tun. Aber über den Weg sind sie sich sehr uneinig. Das ist eine verkürzte Darstellung des „Trilemma der Inklusion“ von Mai-Anh Boger. Da stecken Widersprüche und Energie drin und deshalb ist das so intensiv. Ähnliches ließe sich übrigens auch bei anderen Bewegungen wie dem Feminismus oder behinderten Menschen zeigen.
Sie sagen: Wenn jemand etwas Rassistisches macht oder sagt, muss er sich dafür nicht schämen, aber er muss es ändern. Das klingt vergleichsweise soft.
Der Rassismusvorwurf ist zu hoch gehängt. Pädophil zu sein ist vielleicht das Einzige, was derzeit noch schlimmer ist. Das ist ein Problem. Denn wenn jeder Fehltritt gleich ein Skandal ist, kommt das Gegenüber in eine Verteidigungsposition. Sonst müsste man ja eingestehen, etwas katastrophal Schlimmes gemacht zu haben. Stattdessen wird der Vorwurf zum Vorwurf. Das steigert die Hitzigkeit. Das könnte man umgehen, wenn man sagt: Das ist nicht in Ordnung, aber kein Weltuntergang. Vielmehr ist Rassismus noch immer Alltag. Um daran etwas zu ändern, muss man darüber sprechen.
Wie kann man trotz dieser Kämpfe die Gesellschaft beisammenhalten?
Diejenigen, die auf der mächtigeren Seite sind, müssten freiwillig etwas Platz machen. Dafür stehen die Chancen durch den demografischen Wandel gerade sogar gut. Am Tisch werden nun nach und nach Plätze frei, es gibt mehr Stühle für Frauen, für PoCs, für Queere. Nur leider wackelt nun der Tisch bedenklich, weil der Boden darunter morsch ist. Damit sind wir wieder bei der Infrastruktur, die wirklich das Wichtigste ist. Sie ist die Grundlage dafür, dass wir uns überhaupt vernünftig streiten können.
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