Sourani über das Recht der Palästinenser: „Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Wie kommen die Palästinenser zu ihrem Recht? Der palästinensische Menschenrechtsanwalt Raji Sourani hat an Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof und Internationalen Strafgerichtshof mitgewirkt.
taz: Herr Sourani, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu, Yoav Galant und Mohammed Deif wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erlassen – aber nicht wegen des Genozidvorwurfs. Was halten Sie von dieser Entscheidung?
Raji Sourani: Die Entscheidung, Netanjahu und Yoav Galant zu verhaften, ist sehr wichtig. Das ist eine Errungenschaft. Aber ich bin total unglücklich und traurig darüber, wie lange es gedauert hat und wie selektiv und politisiert mit dem Völkerrecht umgegangen wird. Wir haben versucht, alle legitimen rechtlichen Mittel einzusetzen, aber der Genozid in Gaza geht trotzdem weiter. Das macht mein Herz sehr schwer. Gaza ist ein Friedhof des internationalen Rechts.
ist der bekannteste Menschenrechtsanwalt in Gaza. Er gründete und leitet das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte und vertritt Opfer vor dem israelischen Rechtssystem, dem IStGH und dem IGH. Im Jahr 2013 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
taz: Sie reden von Völkermord.
Sourani: Der Völkermord im Gazastreifen wird live in den sozialen Medien übertragen, und der IGH hatte bereits vorläufige Maßnahmen angeordnet, um die Gräueltaten zu beenden. Das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Konflikt der Geschichte. Aber die internationale Gemeinschaft hat nichts getan. Der Holocaust und viele andere Gräueltaten sind geschehen, und die Welt hat daraus geschlussfolgert: Zivilist*innen dürfen nicht Opfer eines Kriegs sein. Deshalb gibt es die Genfer Konventionen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Aus diesem Grund gibt es die Völkermordkonvention. Und deshalb berufen wir uns als Palästinenser auf das humanitäre Völkerrecht.
taz: Wie beurteilen Sie die Reaktionen aus Deutschland auf die Haftbefehle?
Sourani: Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend, dass Borrell, der Leiter der EU-Außenpolitik, sagt, dass alle EU-Mitglieder die Entscheidung des Gerichtshofs vollständig umsetzen müssen. Das ist kein politisches Argument, das ist eine Gerichtsentscheidung. Wie kann Deutschland Verbrecher schützen, die vom wichtigsten Gericht der Welt, dem Internationalen Strafgerichtshof, gesucht werden? Deutschland steht auf der falschen Seite der Geschichte. Es ist nicht nur ein Komplize, sondern ein Partner bei den Verbrechen. Deutschland ficht sie an, obwohl diese Verbrechen online live und in Echtzeit in die ganze Welt übertragen werden. Warum unterstützt Deutschland Israel immer noch mit Waffen und warum sagt die deutsche Außenministerin, sie unterstütze die israelische Bombardierung von Schutzräumen in Gaza?
Der Internationale Gerichtshof (IGH) wurde 1945 gegründet und hat seinen Sitz in Den Haag. Er ist für Konflikte zwischen UN-Mitgliedstaaten zuständig. Aktuell befasst er sich mit einer Klage Südafrikas gegen Israel wegen des Verdachts auf Völkermord im Gazastreifen. Im Juli erklärte er in einem Gutachten die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete und den Mauerbau im Westjordanland für rechtswidrig.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist seit 2002 tätig und hat seinen Sitz ebenfalls in Den Haag. Er soll Personen verfolgen, denen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Er kann eine Tat nur verfolgen, wenn sie nicht national verfolgt wird. Die USA, Israel, Russland und China haben den IStGH nicht anerkannt. Palästina ist seit 2015 Mitglied. Im Mai 2024 beantragte der IStGH-Chefankläger Karim Khan Haftbefehle gegen drei Hamas-Anführer, Israels Ministerpräsidenten Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Galant. Am 21. November 2024 erließen die Richter Haftbefehle gegen Haftbefehle gegen die beiden und Hamas-Chef Mohammed Deif.
taz: Es hat auch ein Jahr gedauert, bis der Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat. Dauert es nicht normalerweise eine Weile, bis die Gerichte tätig werden?
Sourani: Als Russland in die Ukraine einmarschiert ist, haben die Europäer den ukrainischen Widerstand schnell unterstützt, politisch und mit Waffen. Wir haben gehofft, das würde den Westen aufrütteln, damit er sich der Besatzung in Palästina bewusst wird. Wir mussten die Landkonfiszierung im Westjordanland ertragen, die 17 Jahre andauernde Blockade hat den Gazastreifen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht erstickt. Der 7. Oktober war nicht der Beginn des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der Westen hat die darauf folgenden Angriffe völlig zu Unrecht legitimiert.
taz: Haben Sie versucht, das israelische Rechtssystem in Anspruch zu nehmen?
Sourani: Ja, aber wir und die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem sind zu dem Schluss gekommen, dass sie nichts unternimmt, um die organisierten, systematischen Kriegsverbrechen der Besatzung und ihrer Armee zu stoppen, sondern sie vielmehr unterstützt und rechtlich vertuscht. Deshalb haben wir uns an die universelle Gerichtsbarkeit in Ländern wie Spanien, Großbritannien, Südafrika und der Schweiz gewandt. Aber wir wurden politisch blockiert. Sie sagten, dass Israels Machthaber „diplomatische Immunität“ genießen. Bereits nach dem Gaza-Krieg 2009 sagte die UN-Erkundungsmission: Wenn Israel die mutmaßlichen Verbrecher nicht innerhalb von sechs Monaten zur Rechenschaft ziehe, solle der Internationale Strafgerichtshof eingeschaltet werden. Aber wir haben keine Rechenschaftspflicht gesehen. Und wir haben bemerkt, dass diese Maschine, der IStGH, sich nicht bewegt hat.
taz: Jetzt hat er sich bewegt. Staatsanwalt Karim Khan hat die Anträge im Mai gestellt.
Sourani: Wir haben uns schon lange vorher an den Strafgerichtshof gewandt. Ich habe nach 2015, als die Palästinensische Autonomiebehörde das Römische Statut des Gerichtshofs ratifiziert hatte, Fälle zur israelischen Blockade des Gazastreifens nach Den Haag geschickt. Der Anklägerin Fatou Bensouda hat 2021 ein Verfahren eröffnet. Die Ermittlungen gerieten ins Stocken, als Khan das Amt übernahm: Zwei Jahre lang unternahm er nichts. Wir haben immer wieder an seine Tür geklopft. Sechs Treffen wurden angesetzt und in letzter Minute abgesagt. Israel muss den Eindruck gehabt haben, dass es über dem Gesetz steht. Deshalb haben wir uns am 29. Dezember als Teil des südafrikanischen Anwaltsteams an den Internationalen Gerichtshof gewandt und die Klage wegen Völkermordes eingereicht.
taz: Wie war Ihre Erfahrung am Internationalen Gerichtshof?
Sourani: Das Gericht hat fantastisch gehandelt. Es hat den Fall angenommen und den Vorwurf, Israel begehe einen Genozid, damit als plausibel erachtet. Die Richter haben dreimal vorläufige Maßnahmen erlassen: im Januar, im Februar und im April. Sie wurden überhaupt nicht umgesetzt. Dann begann Khan endlich zu handeln und versuchte, die Glaubwürdigkeit des Strafgerichts zu retten.
taz: Hatte er Erfolg?
Sourani: Wir werden sehen. Die Haftbefehle kamen sehr spät. Sie sind keineswegs ausreichend. Darüber hinaus waren der IStGH und der IGH Angriffen, Kritik, Drohungen und Anschuldigungen gegen Richter und Staatsanwälte durch die USA und Israel ausgesetzt.
taz: Sie meinen, der Westen ist voreingenommen?
Sourani: Die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien sagen, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung. Aber die israelische Besatzung an sich wird in den Römischen Statuten als Verbrechen der Aggression definiert. Diese gesamte Position ist also rechtlich und politisch falsch. Aber mit diesem Argument legitimieren sie, dass Israel Tausende von Zivilist*innen angreift und tötet, sie vertreibt und aushungert. Und auf der anderen Seite haben Europa und die USA versucht, uns Palästinenser daran zu hindern, uns an internationale Rechtsinstanzen zu wenden.
taz: Sie wurden nach Ägypten vertrieben. Wie arbeitet Ihr Team in Gaza unter diesen schwierigen Bedingungen?
Sourani: Ich habe mein Haus verloren. Unsere drei Büros sind zerstört. Wir sind 65 Mitarbeiter*innen, die meisten sind im Gazastreifen und einige im Westjordanland. Sie arbeiten unter sehr harten Bedingungen. Wir haben zwei unserer Anwältinnen verloren, und viele unserer Mitarbeiter*innen haben den Großteil ihrer Familien verloren. Sie alle wurden vertrieben, ihre Häuser und Grundstücke wurden zerstört. Sie leiden unter dem Hunger, wie alle Menschen in Gaza. Sie sind Eltern und müssen nach Brot und Wasser für ihre Kinder suchen. Aber wir haben die Verantwortung, alle Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Völkermord im Gazastreifen weiterhin rechtlich zu dokumentieren.
taz: Möchten Sie nach Gaza zurückkehren?
Sourani: Ja, natürlich. Mir wurde angeboten, in Beirut, New York, London und Genf zu arbeiten. Aber ich habe mich entschieden, mein Leben lang in Gaza zu leben. Es ist definitiv mein Wunsch und Traum, so bald wie möglich zurückzukehren.
taz: Verteidigt das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) auch Fälle von palästinensischen Opfern gegen palästinensische Gruppen?
Sourani: In den letzten 30 Jahren haben wir Hunderte von Fällen bearbeitet und die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah oder die Hamas in Gaza kritisiert.
taz: Wie kann man angesichts der Massenflucht und der Stromausfälle praktisch dokumentieren?
Sourani: Unsere Arbeit war nie einfach. Wir haben schon früher Angriffe und Kriegsverbrechen während der Kriege dokumentiert. Aber dieser genozidale Krieg hat eine ganz andere Dimension. Ich bin 70 Jahre alt. Ich habe mehr als 40 Jahre meines Lebens dieser Arbeit gewidmet, aber das Ausmaß der ethnischen Säuberung im Westjordanland und in Ostjerusalem durch das Apartheidsystem und das massive Töten, die Zerstörung, die Vertreibung und den Hunger in Gaza hätte ich mir nie vorstellen können. Dieser Schmerz und dieses Leid sollten in Akten dokumentiert und vor den zuständigen Rechtsorganen vertreten werden. Das ist unsere schwierige Aufgabe im Namen der Opfer.
taz: Was bringt Sie dazu, weiterzumachen?
Sourani: Wir sind romantische Revolutionäre. Wir glauben an die Rechtsstaatlichkeit, an diese zivilisierten Normen und Werte. Wir sind Expert*innen für internationales Recht und werden von den besten Anwält*innen der Welt unterstützt.
taz: Mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin klagen Sie gegen deutsche Waffenexporte nach Israel. Sind Sie zuversichtlich, in Deutschland recht zu bekommen?
Sourani: Wir arbeiten nicht nur mit hervorragenden europäischen und amerikanischen Menschenrechtsorganisationen zusammen, sondern auch mit israelischen Kollegen. Das Recht sollte universell angewendet werden. Die selektive Anwendung des Rechts durch den Westen ist eine Gefahr für die Glaubwürdigkeit des globalen Rechtssystems.
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