Skandalwahl in Thüringen: Nichts aus der Geschichte gelernt
Die Thüringer Ministerpräsidentenwahl hat einen historischen Vorläufer. Versagen „bürgerliche“ Parteien wie in der Weimarer Republik?
Auch am Tag danach ist die Fassungslosigkeit nicht gewichen, das bodenlose Entsetzen nicht verflogen. Die FDP und die CDU haben den Grundkonsens der demokratischen Parteien in der Bundesrepublik aufgekündigt. Kein Fußbreit den Faschisten? Zumindest für ihre Ableger in Thüringen gilt das nicht mehr.
Wie skrupellos und geschichtsvergessen muss man sein, um so zu agieren wie die Frei- und Christdemokraten in dem ostdeutschen Bundesland? „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“, hat die FDP im Landtagswahlkampf für ihren Spitzenkandidaten geworben. Falls das stimmt, hat Thomas Kemmerich entweder das Falsche gelernt oder die falschen Schlüsse aus dem Gelernten gezogen.
Der Tabubruch vom Mittwoch hat einen historischen Vorläufer. Schon einmal war den „bürgerlichen“ Parteien in Thüringen ihr fanatischer Kampf gegen alles Linke wichtiger als die Verteidigung demokratischer Grundwerte. Das war 1924, zu Zeiten der kurzlebigen Weimarer Republik. Damals setzte der Thüringer Ordnungsbund – ein Wahlbündnis, dem auch die beiden FDP-Vorgängerparteien DVP und DDP angehörten – ebenfalls mit Erfolg auf eine von völkischen Nationalisten und Nationalsozialisten mitgewählte Minderheitsregierung, um der bis dahin amtierenden linken Koalition den Garaus zu machen.
„Bürgerliche“ Steigbügelhalter des Faschismus
Das war fatal: Damit machten sich die DVP und die DDP zu Wegbereitern des deutschen Faschismus. Dass die NSDAP 1930 in Thüringen erstmals in Deutschland an einer „bürgerlichen“ Landesregierung beteiligt wurde, war eine logische Konsequenz. Das einst rote Thüringen hatte sich auf den Weg zum „Mustergau“ gemacht. 1932 wurde die NSDAP zur stärksten Partei und Gauleiter Fritz Sauckel übernahm die Regierungsgeschäfte – ein halbes Jahr vor der Machtübernahme der Nazis in ganz Deutschland.
Nein, die Verhältnisse im heutigen Thüringen sind nicht mit denen in der Weimarer Republik gleichzusetzen. Die Bundesrepublik befindet sich nicht am Vorabend eines Vierten Reichs. Gleichwohl: Wenn der Freidemokrat Kemmerich in Geschichte aufgepasst hätte, müsste er eigentlich wissen, was für fatale Folgen sein unverantwortliches Handeln haben kann. Ist eine Brandmauer erst einmal geschleift, gibt es bisweilen kein Halten mehr für die Flammen.
„Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und damit Thüringen und das ganze Land in Brand gesetzt“, hat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak die Ministerpräsidentenwahl kommentiert. Ein passendes Bild. Allerdings: Auch seine Parteifreunde im Erfurter Landtag haben kräftig mitgezündelt. Und sie zündeln weiter. Während die Union auf Bundesebene mit scharfen Worten das gelb-schwarz-braune „Experiment“ geißelt, halten Landeschef Mike Mohring und die Seinen noch unbeirrt an ihrem Irrweg fest.
Statt ihn zum sofortigen Rücktritt aufzufordern, hat die Thüringer CDU Kemmerich ihrer weiteren Unterstützung versichert. Ihre am Mittwochabend veröffentlichte Erklärung enthält einen unglaublichen Satz: „Über den Einfluss der AfD auf die parlamentarische Arbeit entscheiden die LINKE, die SPD und Bündnis 90/Die Grüne mit, indem sie sich konstruktiv an der parlamentarischen Arbeit beteiligen.“ Das heißt übersetzt: Wenn ihr nicht mitmacht, machen wir's eben mit den Faschisten. Das ist unfassbar.
Neuministerpräsident Kemmerich schwadroniert derweil davon, dass trotz seiner Wahl mit AfD-Stimmen die Brandmauern zu den „Extremen“ sowohl auf der Rechten als auch der Linken bestehen blieben. Das ist in gleich doppelter Hinsicht eine skandalöse Aussage. Zum einen ist es einfach nur infam, in totalitarismustheoretischer Manier die AfD Björn Höckes mit der Linkspartei Bodo Ramelows gleichzusetzen. Wer Antidemokraten nicht von Demokraten unterscheiden kann oder will, der disqualifiziert sich.
Schlimmer ist: Diese krude Totalitarismustheorie dient nur zur Verschleierung einer völlig anderen Praxis, in der sich der Umgang mit rechts und mit links sehr wohl unterscheidet. Die Thüringer AfD ist eine zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus. Während Kemmerichs „Brandmauer“ gegenüber der demokratischen Linken unüberwindlich ist, ist die Abgrenzung gegenüber der antidemokratischen Rechten nur rein rhetorischer Natur.
Die von ihm behauptete Äquidistanz ist ein Täuschungsmanöver. Nicht nur dass der FDP-Mann ein Ministerpräsident von Gnaden des Faschisten Höcke ist, die beiden verbindet eine ganze Reihe inhaltlicher Schnittmengen – von der Abwehr vermeintlicher Flüchtlingsströme über die Vorliebe zum Diesel bis zum Kampf gegen die „Klimahysterie“. Was sie vor allem verbindet: Der gemeinsame Feind steht links.
Kein Mann der „demokratischen Mitte“
Anders als von ihm behauptet ist Kemmerich mitnichten ein „Angebot der demokratischen Mitte“. Sonst hätte er sich nicht mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen können. Er wäre für die AfD nicht wählbar gewesen. Dass er die Wahl angenommen hat, zeigt seine innere Verwandschaft. Kemmerich ist einer jener Parteifunktionäre, die für eine Renaissance jener längst verdrängten stramm nationalliberalen Zeiten der FDP vor der soziallberalen Wende Ende der 1960 Jahre stehen – und das bedeutet: ideologisch weit offen nach rechts.
Die Differenz zwischen nationalliberal und nationalsozialistisch kann kleiner sein, als viele wahrhaben wollen. Auch das lehrt die Geschichte. Für die Weimarer Republik galt: Wenn es darauf ankam, war auf die „bürgerlichen“ Parteien kein Verlass. Gilt das inzwischen wieder? Das werden die kommenden Wochen zeigen.
Es gibt keine Alternative zu Neuwahlen. Kemmerich muss umgehend den Weg dafür frei machen. Will die FDP ihren Platz im demokratischen Parteienspektrum behalten, steht sie in der Verantwortung, dafür zu sorgen. Und dann haben die Thüringer Bürgerinnen und Bürger das Wort. Seit Mittwoch wissen sie: Wer die AfD verhindern will, muss jetzt auch gegen die FDP und die CDU stimmen. In Thüringen sind diese beiden Parteien ohne grundlegende personelle Erneuerung für Antifaschisten nicht mehr wählbar.
Vielleicht trifft für Thüringen das Bonmot von Karl Marx zu, dass sich Geschichte bisweilen zweimal ereignet: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Und hoffentlich bleibt die Farce der Herren Kemmerich, Mohring und Höcke eine kurzlebige Episode.
Das Einzige, was davon bleiben sollte, ist die Erinnerung an die starke Geste der Linksfraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow, die Kemmerich nach seiner Wahl einen Blumenstrauß als „Gratulation“ vor die Füße geworfen hat. Sich nach einem derart unerträglichen Ereignis ans Protokoll zu halten, sei nicht angemessen, erklärte sie danach. So ist es.
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