Skandal um antisemitisches Flugblatt: Söder schließt die Akte Aiwanger
Die Affäre um Wirtschaftsminister Aiwanger sei ein Schaden für Bayern, aber kein Grund für eine Entlassung, findet Ministerpräsident Söder.
Nein, er habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, sagt Söder bei der Pressekonferenz im Prinz-Carl-Palais gleich neben der Staatskanzlei in München. An genau dieser Stelle hat er am vergangenen Dienstag von der Sondersitzung des Koalitionsausschusses berichtet, seinen Ärger über Freie-Wähler-Chef Aiwanger zum Ausdruck gebracht und von dem Fragenkatalog berichtet, den Aiwanger nun zu beantworten habe.
Die Antworten bekam Söder schon am Freitagabend zurück. Dass diese ihn befriedigen würden, davon hatte er es abhängig gemacht, ob er seinen Wirtschaftsminister im Amt belasse oder nicht. Wie leicht Söder, angesichts der unkalkulierbaren Situation, die eine Entlassung Aiwangers für ihn bedeutet hätte, zu befriedigen ist, zeigt sich, als die Staatskanzlei den bislang unter Verschluss gehaltenen Fragenkatalog samt Antworten im Anschluss an die Pressekonferenz ins Netz stellt: Die 25 Fragen, die sich fast nur mit dem Nazi-Pamphlet aus Aiwangers Schulzeit befassen, dessen Urheberschaft er verdächtigt wird, werden von dem Chef der Freien Wähler auf vier DIN-A4-Seiten knapp beantwortet. Es enthält gegenüber den wenigen bisherigen Aussagen Aiwangers in der Angelegenheit nichts Neues.
Antisemitismus habe keinen Platz in Bayern, schickt Söder seinem Statement voraus. Bayern sei ein Bollwerk gegen Rassismus und Antisemitismus, das garantiere er persönlich als bayerischer Ministerpräsident. Die Rolle des Schutzpatrons ist eine, in der sich Söder in den vergangenen Jahren immer öfter präsentierte, sei es in der Pandemie, sei es beim Thema Antisemitismus. Gern spricht er dann persönliche Sicherheitsgarantien aus. Zuletzt tat ihm auch Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, den Gefallen, ihn als Schutzpatron der jüdischen Gemeinde zu bezeichnen.
Söder als König Salomon
Die Vorwürfe, so Söder, die gegen Aiwanger im Raum stünden, schadeten Bayern. Bei seiner Entscheidungsfindung sei es ihm aber darum gegangen, ein faires, geordnetes Verfahren zu finden. Der Entscheidung, dass Aiwanger weiter das Amt des bayerischen Wirtschaftsministers und des stellvertretenden Ministerpräsidenten ausüben dürfe, seien die Bewertung der Antworten auf Söders 25 Fragen, Aiwangers Äußerungen in der Öffentlichkeit und ein langes, persönliches Gespräch am Samstag vorausgegangen.
Natürlich ist der vermeintliche König Salomon, der sich hier als Richter in der Causa Aiwanger inszeniert, alles andere als eine neutrale Instanz. Söder ist nicht Beobachter, sondern Akteur – und letztlich sicherlich einer derjenigen, auf den das landespolitische Beben der vergangenen Tage die größten Auswirkungen haben dürfte. Eine Entlassung Aiwangers hätte aller Voraussicht nach ein Ende der Koalition fünf Wochen vor der Wahl bedeutet, da sich die Spitze der Freien Wähler bislang in Nibelungentreue hinter ihrem Chef versammelte, das Ganze als reine „Schmutzkampagne“ der Süddeutschen Zeitung hinstellte. Somit wäre auch nach der Wahl eine Wiederauflage der Koalition mit anderem Personal schwer vorstellbar gewesen. Kurzum: Söder hätte sich wohl in einer Koalition mit den Grünen oder der SPD wiedergefunden – mit einem vermutlich gestärkten Aiwanger in der Opposition. Ein Szenario, das Söders schlimmsten Albträumen recht nahe kommen dürfte.
In der Opposition, wo man für eine Regierungsbeteiligung jederzeit bereitstünde, sieht man das freilich ganz anders. Katharina Schulze, Chefin der Grünen-Fraktion, spricht von einem „bitteren Tag für unser Bayern“, an dem Söder es versäumt habe, Haltung zu zeigen. Und ihr Co-Vorsitzender Ludwig Hartmann ergänzt: „Taktik geht bei Markus Söder vor Haltung.“ Er toleriere weiter einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, an dessen demokratischer Gesinnung Zweifel bestünden.
SPD-Chef Florian von Brunn bezeichnet Aiwanger gar als „Schande Bayerns“ und moniert: „Die Entschuldigungen von Herrn Aiwanger sind zu spät, zu unvollständig und auch zu uneinsichtig.“ Und auch FDP-Fraktionschef Martin Hagen gibt sich wenig überzeugt von Söders Entscheidung: „Alles, was Aiwanger künftig sagt und tut, wird nun auf ihn zurückfallen. Ich bin gespannt, wie sehr Hubert Aiwanger diesen Freifahrtschein ausreizen wird.“
Söder selbst räumt ein, Aiwangers Entschuldigung am Donnerstag sei spät gekommen – aus seiner Sicht aber nicht zu spät. Zur Erinnerung: Zwei Minuten hatte sich der Politiker am Donnerstagnachmittag genommen, um sich ganz allgemein für Gefühle, die er eventuell verletzt habe, zu entschuldigen. Statt konkretes Fehlverhalten zuzugeben oder zu erklären, ging er bei der Gelegenheit allerdings gleich wieder in den Kampfmodus über und behauptete, man wolle ihn persönlich und politisch „fertigmachen“. Eine Behauptung, die er nun auch bei der Beantwortung des Fragebogens wiederholte. Warum eine solche Entschuldigung für Söder ausreicht, darauf gibt es am Sonntag keine Antworten. Fragen der Journalisten sind auch diesmal nicht gestattet.
Es sei ihm wichtig gewesen, „nicht nur nach Medienberichten zu entscheiden“ und „ganz bewusst keine Vorverurteilung vorzunehmen“, sagt Söder. Vor allem ging es ihm dabei allem Anschein nach um das Flugblatt, das in schlimmstem Nazi-Jargon die Opfer des Holocaust verhöhnte und in Aiwangers Schultasche gefunden wurde. Sollte es stimmen, dass dieses nicht von Aiwanger, sondern von seinem Bruder verfasst worden war, so kann man heraushören, sei die Sache ja halb so schlimm. Zu Aiwangers Gunsten sei zu bewerten, dass er sich erneut vom Inhalt des Flugblatts distanziert habe und dass ihn die Angelegenheit sehr belaste. Es ist ein Satz aus den Antworten auf seine Fragen, den Söder besonders positiv hervorhebt: Der Vorfall mit dem Nazi-Pamphlet habe bei ihm „wichtige gedankliche Prozesse angestoßen“. Welche? Mit welcher Folge? Dazu äußert sich Aiwanger nicht.
Zum Umgang des heutigen Politikers Aiwanger mit den Geschehnissen von damals sagt Söder: „Leider war sein Krisenmanagement der letzten Woche nicht sehr glücklich.“ Sein Verhalten habe die Glaubwürdigkeit nicht erhöht. Aber eine Entlassung sei „nicht verhältnismäßig“.
Letztlich seien es fünf Aspekte gewesen, erklärt der Ministerpräsident, die ihn bewogen hätten, Aiwanger nicht zu feuern: Erstens habe er schwere Fehler zugestanden, sich zweitens entschuldigt, drittens gebe es keinen Beweis, dass er das Flugblatt geschrieben oder verbreitet habe, viertens sei seit dem Vorfall nichts Vergleichbares mehr passiert, und überhaupt sei das Ganze fünftens 35 Jahre her. Söders generelle Argumentationslinie ist klar: Es geht um die Bewertung des damaligen Jugendlichen Aiwanger, nicht um den heutigen Politiker. Das hatte er schon in den vergangenen Tagen durchscheinen lassen. Und wenn man dann noch das Verhalten des heutigen Aiwanger als „unglückliches Krisenmanagement“ durchgehen lässt, fällt es umso leichter, unter der Überschrift „Jugendsünde“ einen Haken hinter die Affäre zu setzen.
Gegen Ende seines Statements zieht Söder noch einen Trumpf aus der Tasche, gewissermaßen das Placet von ganz oben. Er habe am morgen auch mit Knobloch und Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, gesprochen, berichtet der CSU-Chef. Knobloch gibt kurz darauf auch noch eine Pressemitteilung heraus.
Söders Entscheidung sei politisch zu akzeptieren. Aiwanger müsse nun „Vertrauen wiederherstellen und deutlich machen, dass seine Aktionen demokratisch und rechtlich gefestigt sind“. The winner is …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind