Selbstbestimmungsgesetz: Alice Schwarzer irrt
Transidentität als Weg des geringeren Widerstands? Mitnichten. Es ist in Deutschland bis heute einfacher, schwul oder lesbisch zu sein als trans.
W er einen anderen Mann mit Wolllust küsst, wird mit 60 Peitschenhieben bestraft“. So steht es in Artikel 124 des iranischen Strafgesetzbuches. Was hat das mit dem deutschen Selbstbestimmungsgesetz zu tun, das die Bundesregierung plant und das es trans, inter und nonbinären Menschen erleichtern soll, ihren amtlichen Geschlechtseintrag und Vornamen ändern zu lassen? Nicht viel. Wäre da nicht die These von Alice Schwarzer, dass der Weg zur Transidentität heute ein Weg des geringeren Widerstands und das Gesetz gefährlich sei.
Doch schauen wir genauer hin, was uns der Fall Iran zeigt. Das Land wirft ein anderes Licht auf die These von Alice Schwarzer: Denn während im Iran homosexuelle Handlungen verboten sind und Geschlechtsverkehr gar mit dem Tod bestraft wird, ist Transidentität weitgehend akzeptiert. Bereits 1984 erließ der damalige oberste Führer des Iran, Ajatollah Chomeini, eine Fatwa für eine transsexuelle Frau, Maryam Khatoon Molkara, und erlaubte ihr eine Geschlechtsangleichung.
Damit sollte Ordnung in die Geschlechterverhältnisse gebracht werden. Die Fatwa wirkt bis heute nach. So werden Menschen mit „Gender-Dysphorie“ vom Wehrdienst befreit oder erhalten eine befristete Freistellung. Wenn sie sich jedoch nicht in ärztliche Behandlung begeben, erhalten sie einen staatlich verordneten Termin bei einem Arzt oder vor Gericht, um sich geschlechtsangleichenden Maßnahmen zu unterziehen.
wurde 1977 in Nordfrankreich geboren, ist Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ (Hanser Berlin). Er lebt in Berlin.
Der Fall Iran zeigt, dass es Kontexte gibt, in denen Menschen die Geschlechtsangleichung als Weg des geringsten Widerstands wählen können. Alice Schwarzer behauptet, dies sei in Deutschland der Fall: Junge Menschen würden lieber den Weg der Transition gehen, als schwul oder lesbisch zu leben. Mädchen und Frauen würden sich nur deshalb als transgender definieren, weil sie glauben, als Mann bessere Chancen zu haben, oder um einer Homophobie zu entkommen – nach dem Motto: „Lieber ein Leben als heterosexueller Mann als ein Leben als Lesbe“.
Doch dies hält einigen Fakten nicht stand: Erstens ist es in Deutschland nach wie vor einfacher, schwul oder lesbisch zu leben als trans. Rechtlich sind homosexuelle Menschen gleichgestellt, und gesellschaftlich ist Homosexualität akzeptierter als Transgeschlechtlichkeit. Zweitens leben viele trans Menschen nicht heterosexuell. Homosexuelles Begehren ist eine sexuelle Orientierung für sich, und das ändert sich nach der Transition manchmal gar nicht: Manche Menschen haben vorher lesbisch gelebt, danach stehen sie auf Männer.
Die Transidentität als Ausweg aus einer verinnerlichten Homophobie ist auf den zweiten Blick nicht sehr nahe an der Realität. Aber, so Schwarzer, trans Menschen würden die Heteronormativität verfestigen, gegen die Schwule und Lesben ein Jahrhundert lang gekämpft haben. Bei allem Respekt: Trans Menschen sollten das Recht haben, heterosexuell zu sein. Sie sollten sogar das Recht haben, normativ zu sein. Trans Menschen müssen nicht subversiv sein. Trans Menschen können sich genauso nach Normalität sehnen oder rebellisch sein wie alle anderen.
Deniz Yücel kommentierte in der Welt die Entwicklung der LGBT-Rechte in Deutschland und bedauert, dass das Selbstbestimmungsgesetz ohne Rücksicht auf Einwände durchgepeitscht werden solle. Ein Irrglaube: Das Selbstbestimmungsgesetz ist nicht zu hastig eingeführt worden.
Eine alte Debatte
„Das Transsexuellengesetz (TSG) ist fast 30 Jahre alt und entspricht nicht dem Stand der Wissenschaft.“ Das Zitat stammt aus einem Gesetzentwurf der grünen Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2010. Schon damals legte die Opposition um den Abgeordneten Volker Beck einen Reformvorschlag auf den Tisch, der das Transsexuellengesetz ersetzen sollte. Damals regierte das Kabinett Merkel II. Bereits drei Jahre zuvor, im Kabinett Merkel I, hatten die Grünen einen ähnlichen Entwurf eingebracht, der jedoch gescheitert war. Damals wurde die öffentliche Diskussion nicht so breit geführt. Die Welt war eine andere: Twitter steckte noch in den Kinderschuhen, soziale Netzwerke überhaupt, Trans war kaum ein Thema, und nicht jeder hatte eine Meinung dazu.
Klar ist: Das Selbstbestimmungsgesetz kommt eher im Schritt als im Galopp voran. Ich stimmte Deniz Yücel zu, dass die bisherigen Reformen wichtige Fortschritte in Richtung Gleichberechtigung und individuelle Freiheit ermöglicht haben. Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass alle bisherigen großen sexualpolitischen Reformen in Deutschland von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen worden sind. Viele der bisherigen Reformen im Bereich geschlechtlicher und sexueller Vielfalt waren von heftigen Kontroversen begleitet: die Ehe für alle, die eingetragene Lebenspartnerschaft, die Aufhebung des Werbeverbots für Abtreibungen – all diese Reformen wurden gegen den Widerstand großer Teile der Gesellschaft und der Politik durchgesetzt.
Konsens gab es nie
Gegen LGBT-Rechte gab es zahlreiche Demonstrationen, gegen Abtreibungen protestieren regelmäßig sogenannte Lebensschützer auf der Straße: Es sind vor allem konservative Christen und Mitglieder der AfD, die mittlerweile zur zweitstärksten Partei in Deutschland aufgestiegen ist. Ein breiter gesellschaftlicher Konsens? Weit gefehlt. Schon immer, so der Historiker Benno Gammerl, habe es Kräfte gegeben, die sich mit den immer gleichen, alten Argumenten gegen gesellschaftlichen Fortschritt gestemmt hätten: von den Sittlichkeitsvereinen im Kaiserreich über die konservativen Parteien in der Weimarer Republik, die CDU in den Nachkriegsjahren bis zu den rechten Strömungen der Gegenwart.
Also, nein: Es ist nicht das erste Mal, dass in Deutschland eine entscheidende Reform nicht im Konsens verabschiedet wird. Und nein, es sind nicht die trans Menschen, die einen Kulturkampf anzetteln, sondern sie haben bisher viel Mühe, Hartnäckigkeit und Geduld bewiesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung