„Sea-Watch“-Kapitänin festgenommen: Lebensretterin unter Hausarrest
Carola Rackete hat 53 Menschen aus Seenot gerettet. Nach dem Anlegen in Lampedusa wurde die Kapitänin der „Sea-Watch 3“ festgenommen.
Nach mehr als zwei Wochen auf offener See hat Carola Rackete am frühen Samstagmorgen eine Entscheidung getroffen. Die Kapitänin der „Sea-Watch 3“ hat mit dem Seenotrettungsschiff auf Lampedusa angelegt, obwohl sie dafür keine Erlaubnis der italienischen Behörden hatte. Nach dem Einlaufen in den Hafen wurde das Schiff beschlagnahmt und die 31-jährige Rackete festgenommen – laut Behörden wegen mutmaßlicher Gewalt gegen ein Kriegsschiff und versuchter Verursachung einer Havarie. Das Rettungsschiff hatte beim Einlaufen ein Motorboot der Polizei gerammt. Ein Versehen, wie Rackete mitteilen ließ.
Die 40 auf dem Boot verbliebenen aus Seenot Geretteten durften aber an Land gehen. Der Rest der Rettungscrew blieb an Bord, um das Boot vor den italienischen Behörden zu schützen, sagt Einsatzleiter Hahn.
Der italienische Innenminister Matteo Salvini hatte zuvor ein Verbot gegen das Einlaufen der „Sea-Watch 3“ in Lampedusa ausgesprochen – obwohl sich bereits verschiedene europäische Städte bereit erklärt hatten, die Geflüchteten aufzunehmen. Am Mittwoch bezeichnete Salvini das Schiff als „gesetzlos“ und als „Komplize der Schleuser“ und forderte die Staatsanwälte auf, einen Haftbefehl gegen Rackete auszustellen.
„Obwohl die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen mich eingeleitet hat, hat sie auch gleichzeitig bekannt gegeben, dass sie uns nicht helfen wird, die Geretteten von Bord zu holen“, sagte Rackete in einem Video der „Sea-Watch“ in der Nacht vom Freitag auf den Samstag. „Das heißt, nach wie vor warten wir auf eine Lösung, die sich leider nicht abzeichnet. Deswegen habe ich mich jetzt entschlossen, selbstständig im Hafen anzulegen.“
Mehrere Tage lang hatte die Deutsche auf eine politische Lösung für die 53 Menschen gewartet, die sie am 12. Juni vor der Küste Libyens gerettet hatte. Dreizehn von ihnen konnten bereits in Italien an Land gehen. 40 weitere Geflüchtete mussten aber noch auf dem Schiff ausharren. „Die Situation war hoffnungslos. Und mein Ziel war es lediglich, erschöpfte und verzweifelte Menschen an Land zu bringen“, sagte die 31-jährige Deutsche über ihre Anwälte der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera am Sonntag. „Ich hatte Angst.“ Sie habe Suizide befürchtet.
„Das ist ein Skandal“
Im Interview mit der taz sprach Rackete am Mittwoch vergangener Woche über die psychologischen Belastungen der Geretteten. Viele brächten traumatische Erfahrungen mit: „Die Geschichten reichen von Versklavung, über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr von Retraumatisierungen.“ Sie bräuchten vermutlich eine psychologische Betreuung, „weil sie Menschenrechtsverletzungen erleben mussten“. Zum Verbot Italiens, mit dem Schiff anzulegen und die Menschen an Land gehen zu lassen, sagte sie: „Das ist ein Skandal, denn im Seerecht ist klar geregelt, dass Schiffbrüchige so schnell wie möglich an Land gebracht werden müssen.“
Die Staatsanwaltschaft Sizilien hat gegen Rackete Ermittlungen wegen des Verdachts der Unterstützung von Menschenhändlern eingeleitet. Italienischen Medienberichten zufolge drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft. Ein „Sea-Watch“-Sprecher wies die Vorwürfe zurück und sagte, Rackete habe sich streng an internationales Recht gehalten. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) warnte vor einer Vorverurteilung. „Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung“, schrieb der SPD-Politiker am Samstag auf Twitter. „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären. #Seawatch“.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die italienischen Behörden ebenfalls wegen der Festnahme kritisiert. Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe. „Nur: Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht“, sagte Steinmeier im ZDF-Sommerinterview.
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn fordert seinen italienischen Kollegen Enzo Moavero Milanesi auf, sich für die Freilassung der deutschen Kapitänin einzusetzen. In einem über Facebook verbreiteten offenen Brief schrieb er, Rackete sei gezwungen gewesen, die 40 Geflüchteten nach Lampedusa zu bringen. „Menschenleben retten ist eine Pflicht“, erklärt auch Asselborn, „und sollte nie als ein Delikt oder Verbrechen eingestuft werden; diese Pflicht nicht wahrnehmen, hingegen, wäre ein Verbrechen.“
Schon den ganzen Tag treffen Seenotrufe ein
Italien hatte der Crew schon vor dem Anlegen mit Geldstrafen von bis zu 150.000 Euro und der Organisation „Sea-Watch“ wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung mit juristischen Schritten gedroht, sagte Rackete im taz-Interview. Die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf haben im Netz zu Spenden aufgerufen. „Wer Menschenleben rettet, ist kein Verbrecher!“, so der Spendenaufruf. „Diesem Unrecht tatenlos zuzusehen, ist keine Option.“ Das Geld könne für anfallende Rechtskosten für Carola Rackete und weitere Ausgaben der Lebensretter genutzt werden. Bis Sonntagnachmittag hatten sie bereits mehr als 500.000 Euro gesammelt.
Währenddessen berichtet Einsatzleiter Hahn von mehreren Zwischenfällen, seit die „Sea-Watch 3“ an Lampedusa angelegt hat. Sonntagmittag sei ein kleines Holzboot mit 15 Asylsuchenden vorbeigeschwommen. Schon den ganzen Tag treffen Seenotrufe ein.
Die Mannschaft der „Sea-Watch 3“ versucht nun schnellstmöglich, eine Ersatzkapitänin zu finden. Nach der Durchsuchung durch die italienischen Behörden soll das Schiff wieder aufbrechen, um im Mittelmeer in Seenot geratene Boote zu retten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr