SPD-Fraktionschef über russische Ängste: „Die Nato bietet keine Garantie“

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnt vor einem Konfrontations­kurs mit Russland – und träumt von Allianzen ohne Militär.

Portrait von Rolf Mützenich

Foto: Stefanie Loos

taz: Herr Mützenich, was ist bei der Ampel anders als bei der Großen Koalition?

Rolf Mützenich: Wir sprechen auf Augenhöhe und arbeiten gemeinsam.

Das war mit der Union nicht so?

Die Union hat uns gegenüber immer klar gemacht, dass sie die stärkste Fraktion ist, und damit unnötige Konflikte provoziert.

62, ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2004 bis 2009 war Mützenich für die SPD im Bundestag abrüstungs- und nahostpolitischer Sprecher, von 2009 bis 2013 deren außenpolitischer Sprecher und danach Vizefraktionschef.

1991 promovierte er als Politikwissenschaftler an der Uni Bremen mit einer Arbeit zum Thema „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“. (taz)

Die größte Fraktion ist jetzt die SPD. Ist Augenhöhe da das richtige Wort?

Wir wollen den Koalitionsvertrag zusammen erfolgreich umsetzen. Dafür brauchen wir alle Abgeordneten aus den drei Ampelfraktionen. Dass die SPD-Fraktion qualitativ und quantitativ besonders stark ist, muss kein Nachteil sein.

Die Grünen mussten – Stichwort Tempolimit, Nord Stream 2 und EU-Siegel für Atomkraft – eine Menge einstecken. Tun Ihnen die Grünen leid?

Mitleid ist keine politische Kategorie. Aber ich kann verstehen, dass der Weg aus der Opposition in die Regierung schwierig ist. Das ist mitunter ein harter Realitätsschock.

Stört Sie an der Ampel etwas?

Nein, es gibt keine Störgeräusche.

Was wird mit der Impfpflicht? Kommt die noch?

Wenn es nach der Mehrheit der Mitglieder meiner Fraktion geht – ja. Wir hatten am Dienstag eine ausführliche, offene Debatte mit Expertinnen und Experten über ethische und rechtliche Fragen der Impfpflicht. Ich rechne damit, dass viele Kolleginnen und Kollegen einen Gruppenantrag für die Einführung einer Impfpflicht unterstützen werden, dem sich auch viele Abgeordnete vonseiten unserer Koalitionspartner anschließen können. Wir sind dazu in einem engen, respektvollen Austausch.

Aber wann gilt die Impfpflicht?

Das muss gut überlegt und vorbereitet sein. Wir müssen genügend Impfstoff bereithalten, und wir werden vor der Impfpflicht eine Informationskampagne machen. Auch die auf Einrichtungen des Gesundheitssystems bezogene Impfpflicht, die wir Ende 2021 beschlossen haben, tritt ja erst am 15. März in Kraft.

Das klingt nach sehr lange …

Die Impfpflicht wird rechtzeitig in Kraft treten, um eine weitere Welle der Pandemie im Verlauf dieses Jahres zu kontrollieren und vielleicht sogar zu verhindern.

Also im Herbst?

Ohne ein konkretes Datum zu nennen: Die Impfpflicht wird früh genug kommen, um zu verhindern, dass sich Situationen wie in den letzten beiden Wintern wiederholen. Wir müssen in eine endemische Lage kommen.

Olaf Scholz hatte die Impfpflicht schon für März angekündigt. FDP-Justizminister Buschmann forderte eine schnelle Entscheidung, Grüne wie Britta Haßelmann wollen mehr Zeit. Warum gibt die Ampel bei der Impfpflicht so ein konfuses Bild ab?

Das sehe ich völlig anders. Wir führen eine sachliche, ehrliche Debatte über einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff, der aber ein wirksames Mittel ist, um die Pandemie in ­Zukunft in den Griff zu bekommen. Bundeskanzler Scholz hat gesagt, dass wir diesen Prozess im März im Bundestag abschließen wollen. Das ist auch mein Ziel.

Omikron verbreitet sich so schnell, dass es sich im März schon erledigt haben kann. Und dann?

Das ist ein Trugschluss. Ich warne davor, Omikron für das Ende der Pandemie zu halten.

Und wie soll die Impfpflicht konkret aussehen? Gibt es Strafen für Impfverweigerer?

Es wird Sanktionen geben und einen Bußgeldkatalog.

Bußgeld heißt – am Ende auch Haftstrafen?

Ich will der Ausgestaltung nicht vorgreifen. Die Sanktionen müssen wirksam, aber auch verhältnismäßig sein.

Wer Bußgelder nicht bezahlt, kann im Gefängnis landen.

Wir werden genau prüfen, welche Sanktionen angemessen sind.

In Italien gibt es eine Impfpflicht für über 50-Jährige. Ist das nachahmenswert?

Wir sollten uns auf jeden Fall auch mit den Erfahrungen anderer Länder auseinandersetzen. Wir werden auch sehen, was wir von der auf Einrichtungen bezogenen Impfpflicht lernen können. Es ist gut, dass wir derzeit noch einen breiten Ermessensspielraum haben. Aber ich plädiere dafür, dass wir im Bundestag im März über eine überschaubare Zahl von Anträgen abstimmen. Dies ist eine Gewissensentscheidung. Die Union sollte das berücksichtigen und keinem plumpen Oppositionsreflex folgen.

Themenwechsel: Wie gefährlich ist der Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der Nato?

Das Eskalationspotenzial ist groß und ist vor allem durch Russland befördert worden. Die Besetzung der Krim war völkerrechtswidrig, kann aber offensichtlich zurzeit nicht gelöst werden. In der Ostukraine hilft Russland den Separatisten mit militärischer Ausrüstung und politischer Unterstützung. Allerdings erfüllt auch die ukrainische Regierung die Minsker Vereinbarung nicht. Diese hatte sich dort verpflichtet, mehr Autonomierechte im gesamten Land zuzugestehen. Wir haben es also mit einer sehr komplexen, konflikt­reichen Gemengelage zu tun.

Putin betont immer wieder, dass die Nato Russland einkreise. Ist da was dran?

De facto gibt es diese „Einkreisung“ nicht. Gleichwohl sollten die Nato-Länder beachten, dass diese Ängste in Russland sehr wohl seit Langem existieren. Wir sollten diese Gedankengänge nachvollziehen, unabhängig davon, ob wir sie akzeptieren.

Sie verstehen also, dass sich Russland bedroht fühlt.

Gedanklich kann ich die russische Bedrohungsanalyse nachvollziehen, auch wenn ich sie nicht teile. Die Militärausgaben der Nato sind um ein Vielfaches höher als die Russlands. Alleine die USA geben mehr als das Zehnfache für ihr Verteidigungsbudget aus. Die Nato-Raketenabwehrsysteme, die in Rumänien und Polen angeblich wegen der iranischen Drohung stationiert wurden, können aus Sicht Moskaus als Teil einer Erstschlagsdoktrin missgedeutet werden. Auf Nato-Seite mögen wir das anders sehen, aber Russland sieht es so. Zu alledem gibt es einen ungezügelten, unkontrollierten Rüstungswettlauf. Darüber müssen die Nato und Russland sprechen. Wir brauchen dringend Abrüstungsinitiativen.

Welchen Nutzen hat Aggression ­gegen die Ukraine für Putin?

Ein Teil der Sicherheitsstrategie im Kreml besteht zurzeit darin, außerhalb des russischen Staatsgebiets Konflikte zu schüren. Putin glaubt mit diesem Unfrieden außerhalb des eigenen Territoriums mehr Sicherheit zu gewinnen. Er „zündelt“ nach außen, um seine Macht im Inneren zu konsolidieren. Auch wenn diese russische Sicherheitspolitik ein Irrweg ist, müssen wir uns mit diesen Denkkategorien auseinandersetzen und versuchen, sie aufzuweichen. Das habe ich jedenfalls aus der Entspannungspolitik gelernt.

Zu Putins Taktik gehört: Russland redet gleichrangig mit den USA; Europa hält er für zweitrangig. Was bedeutet das für Deutschland?

Russland kompensiert mit den Gesprächen „auf Augenhöhe“ mit den USA einen schon vorhandenen Minderwertigkeitskomplex. Zuerst einmal ist es wichtig, dass überhaupt geredet wird. Wir sollten zudem beachten, dass die USA für Europa auch ohne Präsident Trump nicht mehr der Partner sind, der sie mal waren. Die USA waren zu Beginn bereit, alleine mit Russland zu reden oder nur mit ganz wenigen Nato-Partnern. Das haben in Deutschland nicht alle auf dem Schirm. Deutschland sollte sich aber auch nicht klein machen und den Nato-Russland-Rat, die OSZE und das Minsker Format stärker nutzen. Aber das Wichtigste ist die Beruhigung und eine Lösung der Krise – egal in welchem Format.

Wenn Sie sagen, dass nicht alle die Veränderung der USA auf dem Schirm haben, meinen Sie Außenministerin Baerbock?

Ich habe das nicht personalisiert. Ich beziehe mich auf manche Debatten in Deutschland.

Ist die Ampel in der Außenpolitik gespalten?

Es gibt keine Spaltung in der Koalition.

Wer macht denn die Außenpolitik – Scholz oder Baerbock?

Die Außenpolitik wird von der Regierung gemacht im Zusammenspiel von Kanzleramt, Außenministerium, Bundesministerium der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und dem Verteidigungsministerium bis hin zur Umweltpolitik.

Sie haben kürzlich gesagt: Die Außenpolitik wird im Kanzleramt bestimmt. Diese Aussage klang für die Grünen nicht nach Augenhöhe.

Und ich kann nur jedem empfehlen, diesen Satz nicht zu überhöhen. Natürlich gestaltet der Bundeskanzler allein schon durch seine häufigen internationalen Kontakte die Außenpolitik maßgeblich mit.

Dass Olaf Scholz sich für Außenpolitik interessiert, merkt man öffentlich bisher nicht.

Was Sie bei Herrn Scholz zu erkennen glauben, kann ich nicht nachvollziehen. Fest steht: er handelt mit Wissen und Erfahrung in einem internationalen Kontext. Er hat schon als Finanzminister und Vizekanzler internationale Vorhaben wie das 750-Milliarden-Euro-Coronaprogramm in der EU und die globale Mindeststeuer auf den Weg gebracht hat.

Ist Scholz in Bezug auf Russland Taube oder Falke?

Diese Kategorien helfen heute nicht mehr weiter. Der Kanzler schätzt die Situation realistisch ein und macht sich, ebenso wie ich, große Sorgen wegen des Eskalationspotenzials.

Der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger hat kürzlich gesagt: Putin wird nicht in der Ukraine einmarschieren, weil das Risiko zu groß wäre.

Wenn Ischingers Einschätzung allein auf Putin bezogen ist, dann sehe ich das ähnlich. Das Problem in diesem Konflikt ist aber, dass auch nichtstaatliche Akteure und innere Machtkämpfe über das Handeln entscheiden.

Sie meinen die prorussischen Rebellen im Donbass?

Sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite müssen Sie mit Akteuren rechnen, die eine zusätzliche Konfliktdynamik für sich als vorteilhaft erachten. Daher meine Sorgen vor einer Eskalation.

Halten Sie zusätzlichen Druck auf den Kreml für sinnvoll? Zum Beispiel die Drohung, Nord Stream 2 zu be­erdigen, wenn Russland noch aggressiver auftritt?

Der Westen hat der russischen Seite in den letzten Wochen sehr deutlich gemacht, mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hätte, wenn sie eine völkerrechtswidrige Intervention betreiben würde. Das ist ein breites Instrumentarium. Ich kann aber nur davor warnen, sich einzelne Teile daraus herauszunehmen. Sonst könnte ich auch fordern, dass in Zukunft die USA auf Öl aus Russland – ihrem drittwichtigsten Lieferanten – verzichten. So gestalte ich keine kluge Außenpolitik.

Wie kann eine langfristige Lösung des Konflikts mit Russland aussehen?

Wir brauchen perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands – auch wenn dies derzeit noch illusorisch erscheint. Ich hoffe dennoch auf eine künftige gesamteuropäische Friedensordnung, die als „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ Krieg zwischen ihren Mitgliedern ausschließt und am Ende die Militärbündnisse überwindet.

Also die Überwindung der Nato …

Ein solches Szenario ist für die nächsten Jahrzehnte sicherlich unrealistisch. Aber ich finde, wir sollten wenigstens damit anfangen, die alleinige Fixierung auf militärisch-politische Überlegungen zu überwinden. Wir müssen ja auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst die Nato keine hundertprozentige Garantie mehr für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bietet – wenn sie es denn je tat.

Sie meinen die Türkei …

… und auch Polen, Ungarn und die USA unter Trump. Wir sollten alle gemeinsam daran arbeiten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit zu stärken und regionale und internationale Friedensordnungen zu etablieren, unter deren Schirm sich alle versammeln können.

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