SPD-Debatte zu Identitätspolitik: Versöhnen statt spalten
Die Sozialdemokraten streiten über die Grenzen von Identitätspolitik. Der Debatte, die nur am Rande die SPD betrifft, würde Abkühlung gut tun.
W olfgang Thierse hat vor ein paar Tagen ein paar kluge und ein paar weniger kluge Anmerkungen zur Identitätspolitik gemacht. Es drehe sich zu viel um gender und race, zu wenig um Gerechtigkeit. Auch das Standardargument gegen moralisch gut ausgerüstete pressure groups fehlt nicht: Minderheiten haben nicht immer recht, und die Mehrheit ist nicht immer repressiv. Eine Gesellschaft, die kein republikanisches Wir mehr kennt und in Minderheiten mit wachsenden Geltungsansprüchen zerfällt, sei wenig erstrebenswert.
Schief liegt Thierse, der sich praktisch gegen Rassismus im Osten engagierte, wenn er rechte und linke Identitätspolitik rhetorisch nahe rückt. Da mögen sich Muster ähneln. Aber rechter Rassismus kann für die Opfer tödlich enden, übertriebene Wokeness nur schwer nerven.
Vor zwei, drei Jahren wäre der Text wohl auf freundliches Desinteresse gestoßen. Doch die Zeiten sind nervös geworden. Gesine Schwan hat zudem eine Debatte mit einer FAZ-Journalistin moderiert, die in einem Kommentar spöttisch über eine Initiative queerer SchauspielerInnen geschrieben hatte.
Der Lesben-und Schwulenverband LSVD forderte die SPD auf, sich bei der queeren Community für den Auftritt der Journalistin zu entschuldigen „und die durch diesen Auftritt entstandenen Wunden anzuerkennen“. Die SPD-Spitze zeigte sich „beschämt“ über SPD-Vertreter wie Thierse und Schwan. Thierse bot seinen Parteiaustritt an.
Voller persönlicher Einsatz
Missverständnisse, Gereizheiten, explodierende Egos – dieser Fall versammelt alles, was identitätspolitische Debatten so trübsinnig macht. Weil es immer um die Sprecherposition geht, wird mit vollem persönlichen Einsatz gekämpft. Es geht nicht nur um das bessere Argument, sondern um die eigene Integrität, die aggressiv verteidigt werden muss, als queere Person oder weißer Mann.
Deshalb neigen identitätspolitische Debatten zu einer toxischen Mischung aus Sprachlosigkeit, Beleidigtsein und Bekenntniszwang. Ältere Angehörige der undogmatischen Linken können sich fragen, ob Politik in der ersten Person wirklich eine so fabelhafte Idee war.
Sind wir nach all den gemütlichen Merkel-Jahren, in denen Streit immer im Konsensnebel verschwand, unversöhnliche Debatten nicht mehr gewöhnt? Kann sein. Aber diese Kultur ist keine Mode, die wieder verschwindet. Der Identitätsdiskurs, immer mit viel Ich, erfüllt ja perfekt das Anforderungsprofil der Aufmerksamkeitsökonomie.
Und er greift in den Zeichen und Wissen produzierenden Gewerben, vor allem Medien und Universität, rapide um sich. Identitätsinszenierungen sind ein politischer Kommunikationsmodus in einer individualisierten, kulturell pluralen Gesellschaft. Dazu gehört die plausible Selbstdarstellung als Opfer, das aus diesem Status Rechte ableitet. So meint der LSV, Anspruch auf rhetorische Entschädigung zu besitzen, weil die SPD die falsche Journalistin einlädt. Die Grenze zwischen berechtigtem Anliegen und Betonierung einer Opferrolle, aus der es keinen glücklichen Ausweg gibt, ist hier tangiert.
Mit der SPD hat all das nur am Rande zu tun. Sie ist eher zufällig das Stadion für einen Fight, der in den Zentren des Wissenskapitalismus um sich greift. Aus der Kette der diskursiven Unfälle in der SPD lassen sich aber vielleicht Leitplanken zur Schadensvermeidung entwickeln. Nicht so schnell beleidigt zu sein würde helfen. Schuldbekenntnisse und -vorwürfe nutzen der rationalen Debatte auch selten. Authentizität ist gut, Selbstdistanz nötig. Und: Sprechverbote für Missliebige zu fordern, ist verboten.
Ist sonst noch was passiert? Die SPD hat ihr Wahlprogramm präsentiert, 12 Euro Mindestlohn, Mietenmoratorium und Kindergrundsicherung. Aber das fällt eher durch das Raster der Aufmerksamkeitsökonomie. Und es betrifft eine soziale Gruppe, für die Wokeness nicht spielentscheidend ist.
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