SPD-Außenexperte über Waffenlieferungen: „Die Ukraine kann gewinnen“
Gemeinsame Waffenlieferungen machen im Verteidigungskampf einen Unterschied, sagt Michael Roth. Deutschland solle Kampfpanzer schicken.
taz: Herr Roth, die Bundesregierung hat neue Lieferungen von Raketenwerfern und gepanzerten Fahrzeugen angekündigt, will aber nach wie vor keine Kampfpanzer an die Ukraine schicken. Olaf Scholz' Begründung: Andere Länder tun das ja auch nicht. Sie fordern dennoch die Lieferung von Kampfpanzern. Warum?
Michael Roth: Die Ukraine hat bislang Großes geleistet, um sich gegen die brutale russische Aggression zu verteidigen. Inzwischen ist sie sogar in der Lage, von Russland besetzte Gebiete wieder zu befreien. Das zeigt: Die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen, obwohl russischer Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus sie nach wie vor zu vernichten versucht.
Was heißt gewinnen?
Gewinnen heißt für mich, dass die Ukraine ein freies, demokratisches Land unter Wahrung ihrer territorialen Integrität bleibt.
Sollte die deutsche Regierung ihre Haltung durch die zuletzt im zurückeroberten Isjum entdeckten Massengräber noch einmal überdenken?
Butscha, Irpin und Isjum zeigen, dass die russischen Truppen vor nichts zurückschrecken. In den besetzten Gebieten finden tagtäglich grausamste Kriegsverbrechen statt: Mord, Folter, Vergewaltigungen und Unterdrückung. Die Unterstützung der Ukraine bei ihrer Gegenoffensive ist eben auch ein Gebot der Humanität, damit die Menschen in den befreiten Gebieten wieder in Freiheit und in Würde leben können.
Der ukrainische Präsident Selenski hat die Rückeroberung der Krim als Kriegsziel ausgegeben. Liefern wir so lange Waffen?
Was soll denn der ukrainische Präsident sonst öffentlich sagen? Völkerrechtlich gehört die Krim ja weiterhin uneingeschränkt zur Ukraine, auch die Bundesregierung hat die Annexion nie anerkannt. Wie dann am Ende eine friedliche Verhandlungslösung aussehen kann, liegt alleine in den Händen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Nur müssen wir erst mal dahin kommen. An den Verhandlungstisch wird Herr Putin, dieser brutale Zyniker, erst gehen, wenn er einsieht, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann.
Die jüngsten militärischen Erfolge hat die Ukraine auch mit Hilfe deutscher Waffen, den Panzerhaubitzen etwa, errungen. Es läuft also. Wieso jetzt also noch Panzer?
ist SPD-Politiker und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Von 2013 bis 2021 war er Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
Richtig ist: Deutschland hat schon eine Menge geleistet, und die gemeinsamen Waffenlieferungen mit unseren Partnern machen im Verteidigungskampf einen echten Unterschied. Jetzt befindet sich die Ukraine aber in einer neuen Phase des Krieges, sie braucht nun andere Waffen für ihre Gegenoffensive. Und dabei spielen auch westliche Schützen- und Kampfpanzer eine wichtige Rolle. Ich habe Respekt vor der Haltung des Kanzlers, der nationale Alleingänge ausschließt. Die will auch ich nicht. Deshalb plädiere ich ja dafür, jetzt rasch eine abgestimmte europäische Initiative zu starten. Wir haben in Europa 13 Staaten, die über den Leopard 2 verfügen. Wenn davon jedes Land nur einige Panzer aus seinen Beständen abgibt, könnten wir der Ukraine signifikant helfen. Ich werbe für europäisches Teamspiel, für geteilte Verantwortung. Dafür hätten wir im Übrigen auch die Rückendeckung der USA.
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht ist skeptisch. Sie sagt, wir müssen auch an die eigene Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit denken. Da hat sie doch Recht, oder?
Das Argument wiegt selbstverständlich schwer, es ist in Zeiten knapper Bestände eine nicht ungefährliche Situation. Zumal wir uns stark an der NATO-Ostflanke in Litauen, in Rumänien oder in der Slowakei engagieren. Aber auch der Nato-Generalsekretär hat ja darauf hingewiesen, dass es jetzt wichtiger ist, die Ukraine militärisch zu unterstützen, weil es dort eben nicht nur um das Überleben eines benachbarten Landes geht, sondern auch um unsere eigene Sicherheit. Da lässt sich doch sicherlich ein pragmatischer Weg finden, wie wir im vollen Einverständnis mit unseren osteuropäischen NATO-Partnern der Ukraine noch umfassender beistehen können. Bündnis- und Landesverteidigung einerseits sowie unsere Unterstützung für die Ukraine andererseits, schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.
Wie bewerten Sie die Warnungen des russischen Botschafters Netschajew vor weiteren Waffenlieferungen?
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hätte ja schon die Lieferung eines einzigen Luftgewehrs eine rote Linie überschritten. Wir bewegen uns auf dem Boden des Völkerrechts, und darum geht es. Die Ukraine ist angegriffen worden. Sie hat das Recht zur Selbstverteidigung. Und wir haben das Recht, ja die Pflicht, einem angegriffenen Land militärisch beizustehen. Dabei gibt es völkerrechtlich keine Grenzen, außer dass wir dort nicht mit eigenen Soldatinnen und Soldaten präsent sind.
Wie lange kann dieser Krieg noch dauern?
Putin schert sich nicht um Menschenleben. Schon jetzt sind ihm die menschlichen und die ökonomischen Verluste, die Russland erleidet, völlig egal. Je schneller wir die Ukraine in eine Position der anhaltenden Stärke und Wehrhaftigkeit bringen, desto schneller wird dieser furchtbare Krieg auch enden.
Ist es trotzdem richtig, mit Putin zu sprechen, wie es der Bundeskanzler vergangene Woche getan hat?
Es ist richtig, allein schon, um Putin regelmäßig mit den Fakten und unseren Erwartungen zu konfrontieren. Es ist gut, dass der Bundeskanzler in aller Klarheit deutlich gemacht hat, dass ein Diktatfrieden für die Ukraine nicht akzeptabel ist, und das bedeutet: Waffenruhe, vollständiger Rückzug der russischen Truppen und Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine. Auch dieser Krieg wird am Verhandlungstisch enden.
Aber jetzt ist noch nicht die Zeit für Verhandlungen?
Wenn Sie Verhandlungen über ein Ende der russischen Aggression meinen, sehe ich das derzeit leider noch nicht. Putin hält nach wie vor an seinem Kriegsziel fest, die Ukraine als souveränen Staat von der Bildfläche verschwinden zu lassen und die ukrainische Nation zu vernichten. Es gibt von russischer Seite schlicht keinerlei Bereitschaft, ernsthaft zu verhandeln.
In der Bevölkerung, aber auch in der SPD mehren sich Stimmen, die sagen, Deutschland muss sich stärker um eine Verhandlungslösung bemühen. Immerhin gibt es auch diplomatische Erfolge, zum Beispiel darf das ukrainische Getreide aus den Häfen ausgeschifft werden.
Mir geht es ziemlich auf den Keks, wenn mir unterstellt wird, ich sei gegen Diplomatie, nur weil ich für Waffenlieferungen eintrete. Das ist doch Unsinn! Beides ergänzt sich. Die diplomatischen Bemühungen laufen permanent weiter, auf allen möglichen Kanälen. Es gibt auch zarte Erfolge, das stimmt. Aber den großen Durchbruch sehe ich derzeit nicht. Natürlich gaukelt uns Putin immer wieder Verhandlungsbereitschaft vor. Aber nur zu seinen Bedingungen, das sind vergiftete Angebote. Und im Übrigen entscheidet die Ukraine selbst, wann der richtige Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass am Ende auch Deutschland eine wichtige Rolle dabei spielen wird, zu einer dauerhaften Friedenslösung zu kommen.
Aber es geht fast nur um Waffenlieferungen und eine deutsche militärische Führungsrolle. Wird der Beitrag Deutschlands da nicht überschätzt? Der Großteil der militärischen Hilfe für die Ukraine kommt aus den USA, im Vergleich zu den 25 Milliarden sind die deutschen 1,3 Milliarden überschaubar.
Die Rolle der USA ist überragend. Aber wenn ich von Führungsverantwortung rede, dann denke ich auch an die baltischen Staaten und Polen. Warschau hat schon zu Beginn des Krieges innerhalb kürzester Zeit mehr als 200 Kampfpanzer geliefert. Respekt! Unsere Partner erwarten, dass Deutschland, entsprechend seiner Größe, Wirtschaftsleistung und Verantwortung für Europa, auch militärisch einen gerechten Beitrag leistet.
Wäre nicht eine Arbeitsteilung denkbar? Die einen liefern die Waffen und Deutschland hält Europa bei den Sanktionen zusammen und die Gesprächskanäle nach Russland offen.
Davon halte ich nichts. Das erinnert mich ein bisschen an die Kohlsche Scheckbuch-Diplomatie: Wir schicken Geld, die anderen Soldaten. Es käme bei unseren Partnern gar nicht gut an, wenn einige die großen Risiken eingehen, während wir uns auf die Finanzierung und Entwicklungszusammenarbeit beschränken. Und es passt ja auch nicht zu unserem eigenen Anspruch, in der NATO und der EU außen- und verteidigungspolitisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Kein Land in Europa profitiert so stark von Frieden und Stabilität wie wir!
Wie lange hält Deutschland diesen Krieg noch durch? Im Hinblick auf die Sanktionen schwindet die Zustimmung in der Bevölkerung.
Das ist eine Frage, die mich sehr umtreibt. Im Gegensatz zu autoritären Regimen wie Russland oder China brauchen wir in einer Demokratie gesellschaftliche Akzeptanz für politische Entscheidungen. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen jetzt auch spüren, dass wir sie mit ihren Sorgen vor Inflation und steigenden Energiepreisen nicht allein lassen. Deswegen haben die beschlossenen Entlastungspakete auch eine immense außenpolitische Bedeutung, weil sie mithelfen, dass der Rückhalt für unsere Unterstützung der Ukraine nicht wegbricht. Wir müssen aber auch kommunikativ deutlich besser werden.
Zum Beispiel?
Es geht zwei Flugstunden von uns entfernt nicht um einen Krieg zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken. Es muss uns allen klar sein: Wenn Russland erfolgreich ist und die Ukraine von der Landkarte verschwinden lässt, dann drohen weitere militärische Konflikte in unserer Nachbarschaft. Ob in Georgien oder Moldau, vielleicht sogar in den baltischen Staaten. Wir müssen endlich verstehen, dass Putin in historischen Kategorien denkt. Er hat eine Obsession. Er will den Zerfall der Sowjetunion rückgängig machen. Die Ukraine spielt für ihn dabei eine ganz zentrale Rolle. Und deswegen müssen wir der Ukraine beständig auch militärisch beistehen. Nur so sichern wir Frieden und Stabilität in Deutschland und in Europa.
Was passiert, wenn die Stimmung kippt und die Menschen in Deutschland mehrheitlich der Auffassung sind: weg mit den Sanktionen. Im Osten passiert das gerade.
Ich bin froh, dass die Zustimmung weiterhin so groß ist. Aber ja, die Leute sind besorgt. Untergangsszenarien von kalten Wohnzimmern und Volksaufständen sind da sicher nicht hilfreich. Wir müssen den Menschen Mut machen: Wir kommen da gemeinsam durch.
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