Prozess gegen Judenhass-Symbol an Kirche: Sauerei am Gotteshaus
In der Lutherstadt Wittenberg hängt ein antisemitisches Relief an der Stadtkirche. Michael Düllmann will, dass es verschwindet.
Es ist hie zu Wittenberg an unserer Pfarrkirchen eine Sau in Stein gehauen; da liegen junge Ferkel und Juden unter, die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbin, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Pirzel über sich, bückt und guckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfs und Sonderlichs lesen und ersehen.“ – Martin Luther
Michael Düllmann, ein hagerer Mann von 76 Jahren, sitzt behaglich in seinem Sessel im Wohnzimmer seiner Bonner Wohnung. Pflanzen und Kakteen lassen den Raum ergrünen, Grafiken hängen an den Wänden und Bücher stehen in den Regalen an den Wänden. Es könnte hier sehr gemütlich sein.
Düllmann will aber nicht gemütlich sein. Er ist zornig, und der Zorn bricht sich in langen Reden Bahn. Was den Mann mit den schneeweißen Haaren so aufregt: ein steinernes Relief, gut 700 Jahre alt. Es ist das von Martin Luther beschriebene Schwein mit den Juden. Es hängt immer noch da. Für diese Art von Schmähwerk, das die religiöse Minderheit verspottet und ihren Glauben verhöhnt, hat sich seit dem Mittelalter ein Begriff eingebürgert: „Judensau“. Düllmann sagt über Wittenberg: „Der Antisemitismus hängt mit der ‚Judensau‘ über dieser Stadt.“
Das Schwein, Symbol für den Judenhass
Im Mittelalter fand dieser Begriff als besonders übles Schimpfwort Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Martin Luther sprach von den Juden als „aller Bosheit voll, voll Geizes, Neides, Hasses untereinander, voll Hochmut, Wucher, Stolz Fluchen wider uns Heiden“.
Auf Luther wiederum berief sich im ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Stürmer-Herausgeber Julius Streicher. 1998 trieben Neonazis ein Schwein über den Berliner Alexanderplatz, auf das sie einen Davidstern gemalt und den Namen des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, geschrieben hatten. Immer wieder werden Gedenkstätten, jüdische Friedhöfe, aber auch Moscheen mit Schweineköpfen geschändet. Und erst am Sonntag wurde bekannt, dass ein jüdisches Mitglied der Fahrbereitschaft des Bundeskanzleramts als „Judensau“ beschimpft worden ist.
Geht es nach Michael Düllmann, dann hat dieses Relief als Symbol des Antisemitismus die längste Zeit an der südlichen Chorfassade der Stadtkirche zu Wittenberg gehangen. Düllmann, selbst Jude, hat die Stadtkirche auf Entfernung des Reliefs verklagt, weil es eine Beleidigung für Juden darstelle. Den ersten Prozess hat er verloren, aber das ficht ihn nicht an. Am Dienstag will das Oberlandesgericht in Naumburg in der Berufung darüber verhandeln, was aus der „Judensau“ wird.
Schön restauriertes Schmähwerk des Mittelalters
Düllmann sagt: „Solange die ‚Judensau‘ an der Kirche hängt, solange das von der Stadt unterstützt wird, ist die Kirche antisemitisch belastet.“ Nein, zu Staub zermalmen will Düllmann die „Judensau“ deshalb nicht. Das Relief gehöre nicht in die Öffentlichkeit, sondern in ein Museum, wo sein Kontext erklärt werden könne, meint er.
Steht man vor der Stadtkirche in Wittenberg, übrigens einem Unesco-Weltkulturerbe, in dem einst Luther predigte, muss man den Hals ein wenig recken, um sie in gut vier Meter Höhe zu entdecken: die „Judensau“. Sie ist seit den 1980er Jahren schön restauriert, die Zitzen der Sau sind gut zu erkennen, die Juden mit ihren mittelalterlichen spitzen Hüten, die damals jüdische Männer zur diskriminierenden Kennzeichnung tragen mussten, darum herum, der Rabbiner; darüber prangt seit 1570 ein hebräischer Spruch: „Rabini Schem HaMphoras“ steht für den unaussprechlichen Namen Gottes. Was nichts anderes bedeutet als: Der jüdische Gott ist ein Schwein.
Nun ist es nicht so, als seien die Vertreter der Stadtkirche besonders stolz auf ihre „Judensau“. Ganz im Gegenteil. Sie selbst schreiben von einer „Schmähplastik“, einem „Schandmal“ und „gräulicher Judenverspottung“. Nur sieht Pfarrer Johannes Block deshalb noch keinen Grund, das Relief abzunehmen. Vielmehr habe man mit einem Gedenkstein seit 1988 deutlich gemacht, was davon zu halten ist. Und dann gebe es ja noch eine Stele mit erklärender Inschrift und eine Zeder als Symbol für den Frieden.
Und in der Tat: Um ein Kreuzzeichen steht im Pflaster unter der „Judensau“ geschrieben, „Gottes eigentlicher Name“ sei „in sechs Millionen Juden unter dem Kreuzeszeichen“ gestorben.
Es sind Worte, die Düllmann erst recht auf die Palme bringen. „Wieso unter einem Kreuzeszeichen? Wieso soll der Name Gottes gestorben sein? Das ist Quatsch hoch zehn“, erregt er sich und spricht von einer „Fälschung der Schoah-Geschichte“. Und die Zeder sei übrigens mitnichten ein Symbol Israels, sondern des Libanon.
Zweieinhalb Jahre ist es her, da begann der Konflikt Düllmann contra Stadtkirche. Damals las er einen Zeitungsartikel über die Wittenberger „Judensau“. Und beschloss, etwas zu tun. Aber nur wegen dieses Zeitungsartikels ist es nicht zum Prozess Düllmann gegen die Stadtkirche gekommen.
Ja, bestätigt Düllmann, sein Kampf habe eine gewisse Vorgeschichte. Früher einmal habe er mit Vornamen Dietrich geheißen und er sei evangelisch getauft. Nach dem Abitur begann er, Evangelische Theologie zu studieren.
Düllmann und die Kirche: „Wir liegen über Kreuz“
Auf dem runden Tisch im Wohnzimmer liegt ein Berg Papiere, und Düllmann zieht einige Blätter heraus. Ein Text aus dem Spiegel aus dem Jahr 1968 berichtet von einem jungen Studenten, der sich in eine Wolfenbütteler Kirche einschließen lässt, um mit einer Axt auf seine Art und Weise gegen die „Pseudo-Christen“ zu protestieren. Düllmann zerschlägt aus Protest gegen Kriegsverherrlichung vier Ehrentafeln, eine mit der Aufschrift „Für Deutschlands Heil sind gefallen …“ Heute sagt er dazu: „Die Kirche hat sich vom Obrigkeitsstaat missbrauchen lassen.“
Es bleibt nicht bei dieser Aktion. Düllmann versucht, die Berliner Mauer einzuschlagen (und scheitert an Westberliner Polizisten), er nimmt an Ostermärschen teil und landet 1990 wegen der Blockade eines Standorts von atomaren Mittelstreckenraketen für mehrere Monate in Haft. Neuerdings macht er bei Fridays for Future mit. Mit der evangelischen Kirche habe ihn schon in den 1960er Jahren immer weniger verbunden, sein Theologiestudium bricht er ab.
Anfang der 1970er Jahre geht Düllmann in ein israelisches Kibbuz. Eigentlich sollten es nur ein paar Monate sein, am Ende werden es mehrere Jahre. „Israel hat mich sehr berührt“, sagt er. Düllmann beginnt darüber nachzudenken, zum Judentum zu konvertieren – ein kompliziertes und langwieriges Verfahren, das sich über Jahre hinzieht. „Ich identifizierte mich mit einem Volk, das vernichtet werden sollte.“ Seit Ende der 1970er Jahre trägt er den Namen Michael Ben Abraham und ist Mitglied einer jüdischen Gemeinde. Seine Aufmüpfigkeit behält er.
„Ich habe mich schon immer aufregen können – für sozial Benachteiligte, aber auch politisch“, sagt Düllmann. Und er fügt einen Satz hinzu, den man ihm, dem bald 77-Jährigen, nun wirklich nicht abnehmen will: „Ich führe ein ziemlich ruhiges Leben.“
Nun also die „Judensau“ von Wittenberg. Die Beziehungen des Bonners zur evangelischen Kirche sind wohl das, was man in Scheidungsverfahren „irreparabel zerrüttet“ nennt. „Wir liegen über Kreuz“, sagt Düllmann. Doch er ist nicht der Einzige, der in schon gesetzterem Alter gegen das antisemitische Symbol angeht, das nicht nur die Stadtkirche zu Wittenberg verunziert, sondern immer noch an und in vielen anderen christlichen Gotteshäusern in Deutschland prangt.
Michael Düllmann, Kläger gegen die „Judensau“ von Wittenberg
Der Protest vor dem Kölner Dom
Ein Hinterhof im Münchner Stadtteil Maxvorstadt. In einer Baracke hat Wolfram Kastner sein Atelier und hält dem Besucher gleich mal eine Flasche Wein hin. Nicht zum Trinken, mehr zum Gruseln. Das Etikett ziert das Konterfei Adolf Hitlers, dazu der Schriftzug „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Den Wein habe ihm ein Bekannter aus Italien mitgebracht. „Gibt’s auch mit Mussolini. Der Hammer.“ Den könne man dort ohne Probleme kaufen. „Das ist schon ein merkwürdiger Umgang mit Geschichte.“ Und der Umgang mit Geschichte, das ist etwas, was den Aktionskünstler schon seit Langem sehr stark beschäftigt.
So kam auch er auf die „Judensau“. 2002 war das. Kein Mensch beschäftigte sich damals mit dem Thema. Aber als die Melanchthon-Akademie in Köln eine Tagung zum Thema „Religion und Gewalt“ plante, fragte man ihn, ob er nicht eine Idee habe, wie man das Thema künstlerisch aufgreifen könne. Irgendwo hatte Kastner mal von einer „Judensau“ im Chorgestühl des Kölner Doms gehört, und schon war die Idee geboren. Kurz darauf steht Kastner mit zwei Vertretern der Akademie auf der Domplatte – um den Hals ein Schild, auf dem „Judensau“ geschrieben steht.
Die Dombaumeisterin lässt umgehend den Dom zusperren und ruft die Polizei. „Das war mir natürlich ganz willkommen“, erzählt Kastner, „weil alle Besuchergruppen nun auf der Domplatte vor verschlossenen Türen standen und wir somit ins Gespräch gekommen sind.“ Mit Faltblättern informieren Kastner und seine Mitstreiter über das antijüdische Hohnbild. Die Polizei hat an der Aktion nichts auszusetzen, und so entspinnt sich vor dem Dom eine rege Debatte über die „Judensau“ im Kölner Dom.
Eine Debatte, die bis heute anhält und die in Gang gebracht zu haben Kastner mit einigem Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Kastner, mittlerweile ein Mann von 72 Jahren, ausgestattet mit Schiebermütze, gelbem Schal und einem leicht ironischen Lächeln, sitzt im Nebenraum seines Ateliers mitten zwischen seinen Kunstwerken. Gleich neben ihm ein Gemälde gewordenes Zitat von Hannah Arendt: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“
Es folgten in den kommenden Jahren weitere Aktionen, etwa in Nürnberg, Regensburg oder Brandenburg sowie eine umfangreiche Website: Auf www.christliche-sauerei.de hat Kastner allerhand Informationen über die „Judensäue“ zusammengetragen. Von 30 solchen Skulpturen weiß man derzeit. Ein paar davon sind erst bekannt geworden, weil sich nach seinen Aktionen Leute bei Kastner meldeten und ihm von weiteren Hohnbildern berichteten, die sie entdeckt hatten. So kamen beispielsweise auch Bützow, Calbe und Zerbst auf die Liste.
Die seltsamen Argumente der Verteidiger
In den jeweiligen Kirchengemeinden und in den mitunter zuständigen staatlichen Stellen wie der bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung ist der Widerwille groß, sich mit dem Thema zu befassen. So gibt es im ehemaligen Dom von Zerbst in Sachsen-Anhalt eine besonders gut sichtbare „Judensau“. Auf Augenhöhe. Kastner regte eine Kommentierung an. Die evangelische Kirche antwortete: Nein, das wolle man nicht. Das Relief kenne sowieso niemand und man habe Angst, Neonazis darauf aufmerksam zu machen. Auch befürchte man Vandalismus, und dabei sei doch der Großteil des Doms im Krieg ohnehin schon zerstört worden. Und in Bayreuth, berichtet Kastner, sei ein örtlicher Priester als Taliban beschimpft worden – als er sich für die Entfernung einer „Judensau“ ausgesprochen habe.
Als positive Ausnahme kann das westfälische Lemgo gelten. Auch dort befindet sich – im Kircheninneren – eine Saufigur. Doch dort hat der Kirchenvorstand bereits in den Achtzigern, ohne Anstoß von außen, eine Tafel anbringen lassen, die nicht nur den Hintergrund der obszönen Darstellung erklärt, sondern auch ohne Umschweife klarmacht: „Unser Verhältnis zum jüdischen Volk steht nach wie vor im Schatten der jahrhundertealten judenfeindlichen Haltung sowie der Judenverfolgung und des Mordes an Juden in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland und in den okkupierten Gebieten.“ Christen hätten sich dieser Schuld zu stellen, die Darstellung solle dazu anleiten, den Dialog zwischen Juden und Christen zu suchen.
Doch wirklich entfernt wurde in Deutschland wohl nur ein einziges Mal eine der antisemtischen Saufiguren. Das war 1945 im bayerischen Kelheim. Nur trug dafür nicht ein Deutscher die Verantwortung, sondern ein US-Offizier.
Kurz hinter der deutschen Grenze hingegen sind Reliefs dieser Art durchaus schon entfernt worden, auch mit dem Segen der Kirche. In Salzburg befand ein Bischof schon im 18. Jahrundert, so eine Darstellung könne man jüdischen Mitbürgern nicht zumuten, und in Basel und Wiener Neustadt landeten die antisemitischen Schmähwerke im Museum.
In Cadolzburg, Regensburg und Bad Wimpfen gibt es mittlerweile Informationstafeln, manche Kirchengemeinden haben Faltblätter drucken lassen. Insofern ist die Debatte nicht ohne Folgen geblieben. Doch die Texte sind im besten Fall halbherzig. In Regensburg etwa fehlt jede Distanzierung, jedes Bedauern. „Die Skulptur als steinernes Zeugnis einer vergangenen Epoche muss im Zusammenhang mit ihrer Zeit gesehen werden“, steht dort. „Sie ist in ihrem antijüdischen Aussagegehalt für den heutigen Betrachter befremdlich.“ Es klingt fast schon wie eine Rechtfertigung. Jetzt soll die Tafel überarbeitet werden.
Erklären oder ins Museum sperren?
Kastner plädiert dafür, die Skulpturen, die sich im Außenraum befinden, abzunehmen und ins Innere der Kirchen zu verfrachten. Dort seien dann Tafeln anzubringen, die über die Geschichte der „Judensäue“ informieren und auf denen man sich von jeder Form des Antisemitismus und Rassismus differenziert. „Wenn es deutschen Christen, Kunsthistorikern und Dombaumeistern so wichtig ist, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, sollen sie das gerne tun; aber im öffentlichen Raum haben diese diffamierenden Skulpturen nach wie vor ihre beleidigende Botschaft.“
Michael Düllmann in Bonn genügt das nicht. Er verlangt, dass die antisemitischen Schmähungen in jedem Fall in Museen kommen. Er hält auch nichts davon, das Wittenberger Relief in ein Denkmal zu integrieren, so wie es jüngst der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer angeregt hat. Düllmann sagt: „Ein Denkmal mit ‚Judensau‘ ist kein Schoah-Denkmal, sondern ein ‚Judensau‘-Denkmal.“
Dank Düllmanns und Kastners Energie ist so einiges in Bewegung gekommen. Nicht nur Kramer spricht sich inzwischen dafür aus, die „Judensau“ in Wittenberg von der Stadtkirche abzuhängen. Irmgard Schwaetzer, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, ist derselben Meinung. „Das ist eklig, das will ich nicht haben, das muss weg“, erklärte Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademien. Und Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, sagt: „Meiner Einschätzung nach gehört die ‚Judensau‘ ins Museum.“
Ja, er habe „Wichtiges bewirkt, nämlich die öffentliche Debatte“, bestätigt Michael Düllmann. Sollte das Gericht in Naumburg seine Klage auf Abnahme der „Judensau“ wegen Beleidigung ablehnen, dann will der Bonner Jude trotzdem weitermachen: „Ich gehe bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.“
Seine Kontrahenten sollten gewarnt sein. Düllmann sagt: „Ich hüte mich vor Fanatismus. Ich habe alle Aktionen rational begonnen und beendet. Glauben und Vernunft gehören zusammen!“
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