Palästinenser warten auf Immunisierung: Impfvorreiter Israel in der Kritik

Israel impft im Rekordtempo, Palästinenser*innen warten noch auf ihre Dosen. Die Frage, wer die Ungleichheit verantwortet, sorgt für Kontroversen.

Eine Frau erhält eine Impfung

Diskriminierung? Israelis werden geimpft, ein Großteil der Palästinenser*innen nicht Foto: dpa

BERLIN taz | Impfweltmeister oder Apartheidstaat? Die Erfolgsmeldungen über Israels Covid-Impfkampagne sorgen international für eine hitzige Debatte. Viele bewundern das Land, nachdem die Regierung von Benjamin Netanjahu in Windeseile mehr als ein Zehntel der Bevölkerung hat impfen lassen. Kritiker*innen aber werfen ein, dass die Palästinenser*innen in den von Israel besetzten Gebieten ausgeschlossen seien – also mehr als vier Millionen Menschen.

Zunächst: Impfweltmeister bleibt Israel auch, wenn die Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen in die Rechnung einfließen. Nach Regierungsangaben haben bereits rund 1,5 Millionen Menschen in Israel eine erste Impfdosis erhalten. Je nach Berechnung sind das zwischen 10 und gut 16 Prozent der in Israel beziehungsweise in Israel und den palästinensischen Gebieten lebenden Menschen. So oder so liegt das Land damit weltweit mit weitem Abstand vorn.

Fakt ist aber auch, dass es fast ausschließlich Israelis sind, die ihren Ärmel hochkrempeln dürfen. Die Palästinenser*innen im Westjordanland und Gaza müssen auf den Impf-Beginn noch warten – voraussichtlich noch wochenlang. Am Dienstag teilte das palästinensische Gesundheitsministerium mit, man rechne erst im Februar mit ersten Impfdosen.

Am stärksten ist der Kontrast damit im Falle der völkerrechtlich illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland. Hier leben israelische Staatsbürger*innen, die Zugang zu Impfungen haben, und Palästinenser*innen ohne Aussicht auf eine Spritze in unmittelbarer Nachbarschaft.

Schwere Vorwürfe von Amnesty und HRW

Wird also ein erheblicher Teil der Einwohner*innen diskriminiert? Amnesty International forderte am Mittwoch: „Die israelische Regierung muss aufhören, ihre internationalen Verpflichtungen als Besatzungsmacht zu ignorieren, und sicherstellen, dass die unter Besatzung lebenden Palästinenser (...) gleichberechtigt und fair mit COVID-19-Impfstoffen versorgt werden.“

Auch für den Juristen Kenneth Roth, Geschäftsführer von Human Rights Watch, liegt ohne Frage eine „diskriminierende Behandlung“ vor, wie er auf Twitter schrieb. Eine Reihe von palästinensischen und israelischen Menschenrechtsorganisationen hatte in einem gemeinsamen Statement zuvor eine rechtliche Argumentation ausformuliert:

„Artikel 56 der 4. Genfer Konvention sieht ausdrücklich vor, dass ein Besatzer die Pflicht hat, (...) ‚vorbeugende Maßnahmen zu treffen, die zur Bekämpfung der Ausbreitung ansteckender Krankheiten und Epidemien erforderlich sind‘. Diese Pflicht umfasst die Unterstützung des Kaufs und der Verteilung von Impfstoffen an die (...) palästinensische Bevölkerung.“

Das jedoch sieht der israelische Jurist und Medienaktivist Daniel Pomerantz anders, das Gegenteil sei sogar der Fall: Israel dürfe sich rechtlich gesehen nicht in die palästinensische Impfstrategie einmischen, ohne dass die Führung in Ramallah darum bitte, erklärte er gegenüber der taz. Der Hintergrund: 1995 einigten sich Israelis und Palästinenser*innen darauf, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) für die Gesundheitsversorgung verantwortlich ist.

In Annex III, Artikel 17, des Oslo-II-Abkommens heißt es:

„Die palästinensische Seite wird (...) die gegenwärtigen Impfstandards für Palästinenser anwenden (...).“

Und weiter:

„Israel und die palästinensische Seite tauschen Informationen über Epidemien und ansteckende Krankheiten aus, arbeiten bei deren Bekämpfung zusammen und entwickeln Methoden für den Austausch von Krankenakten und Dokumenten.“

Ramallah setzt auf russischen Impfstoff

Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich gibt es durchaus, auch bei Covid-19-Tests, doch bei der Entwicklung einer Impfstrategie existiert sie nicht. Über eine offizielle Anfrage der PA an die israelische Regierung, Impfstoff auch für die besetzten Gebiete bereitzustellen, ist nichts bekannt. Auf eine taz-Anfrage antwortete das palästinensische Gesundheitsministerium nicht.

„Rechtlich gesehen“, sagt Pomerantz, „hat die PA das Recht, diese Entscheidung zu treffen, und Israel darf sich darüber nicht hinwegsetzen.“ Statt mit Israel zusammenzuarbeiten hat die PA in den vergangenen Wochen eine eigene Strategie verfolgt: Während Israel auf die teuren Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und Moderna setzt, hat sich die Führung in Ramallah eigenen Angaben zufolge vor allem – aber nicht ausschließlich – um den russischen Impfstoff Sputnik V bemüht.

Um Unterstützung hat sich die PA dabei bei der von der WHO ins Leben gerufenen Covax-Initiative beworben, mit der eine gerechte Verbreitung billiger Impfstoffe auch in ärmeren Ländern gefördert werden soll. Bislang ist aber noch kein Impfstoff in den palästinensischen Gebieten eingetroffen.

Mit der eigenen Impfpolitik der PA wird die Lage noch etwas komplizierter. Denn der in Russland entwickelte Sputnik-Impfstoff ist in Israel nicht zugelassen. Ohne israelische Mitarbeit wird er aber kaum in die besetzten Gebiete gelangen, da Israel die Grenzen kontrolliert. „Israel kann keinen Impfstoff weiterleiten, der nicht für seine eigenen Bürger*innen zugelassen ist“, warnten deshalb die Menschenrechtsorganisationen in ihrem gemeinsamen Statement.

Menschenrechtler*innen: Oslo spielt keine Rolle

Die Zuständigkeit der PA wollen auf taz-Nachfrage indes weder die israelische Organisation Physicians for Human Rights (PHR) noch Amnesty International gelten lassen. Während die Oslo-Vereinbarung zwar das Gesundheitswesen an die PA übertragen habe, „hat das Ausmaß der Kontrolle Israels über den Verkehr von Menschen und Gütern, einschließlich Gesundheitspersonal, Patienten und medizinischer Ausrüstung, dazu geführt, dass diese Verantwortung hauptsächlich dem Namen nach besteht“, teilte PHR-Direktor Ran Goldstein am Mittwoch mit.

Ähnlich argumentiert Amnesty International: „Das palästinensische Regierungssystem ist sehr begrenzt in Bezug auf das, was es kontrollieren kann und was nicht“, teilte Saleh Higazi, stellvertretender Nahostdirektor, der taz mit. Israel trage damit weiterhin die Verantwortung für das Recht der Palästinenser*innen auf Gesundheit, sind sich beide einig.

„Durch die Entwicklung eines Impfprogramms, das eine ganze Bevölkerungsgruppe ignoriert, die unter seiner Kontrolle steht, hat Israel das System der institutionalisierten Diskriminierung weiter offengelegt“, sagt Higazi, „ein System, in dem einer Gruppe Rechte und Schutz gesetzlich gewährt werden, während einer anderen die gleichen Rechte und der gleiche Schutz ebenfalls gesetzlich verweigert werden.“

Für die unter Besatzung lebenden Menschen ändern die rechtlichen Kontroversen wenig. Solange sich die PA nicht aktiv um eine Koordinierung bemüht und die israelische Regierung sich nicht verantwortlich fühlt, werden sie in den nächsten Wochen wohl keinen der möglichen Impfstoffe erhalten, während zumindest ein Teil der Siedler*innen in direkter Nachbarschaft schon bald immun sein dürfte gegen das Coronavirus.

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