Oliver Krischer über das 49-Euro-Ticket: „Dann ist das Deutschlandticket tot“
Alle Länder wollen das 49-Euro-Ticket – trotzdem steht es auf der Kippe. Was Kanzler Scholz tun kann, erklärt der Chef der Verkehrsministerkonferenz.
taz: Herr Krischer, rund 10 Millionen Kund:innen nutzen das 49-Euro-Ticket, die im Mai eingeführte Flatrate für den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland. Wie lang ist es noch gesichert?
Oliver Krischer: Es ist leider nur bis Ende des Jahres gesichert.
Was ist das Problem?
Die Finanzierung für 2024 und die Folgejahre. Alle 16 Landesverkehrsministerinnen und -minister und der Bundesverkehrsminister sind sich einig, wir wollen das Deutschlandticket weiter anbieten. Aber es fehlt die gesicherte Finanzierungsbasis.
Um wie viel Geld geht es?
Ursprünglich waren Kosten von 3 Milliarden Euro für 2024 kalkuliert, die je zur Hälfte der Bund und die Länder tragen. Der Verband der Verkehrsunternehmen geht jetzt von bis zu 1,1 Milliarden Euro mehr aus, also von bis zu 4,1 Milliarden. Die Länder sind bereit, die zugesagten 1,5 Milliarden zu zahlen plus die Hälfte von dem, was oben drauf kommt. Der Bund will nicht mehr als die zugesagten 1,5 Milliarden zahlen, also nicht die Mehrkosten. Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat bei der Verkehrsministerkonferenz gesagt, er sehe keine Notwendigkeit, darüber überhaupt zu reden.
Woher kommen die zusätzlich nötigen 1,1 Milliarden Euro?
54, ist Vorsitzender der Landesverkehrsministerkonferenz und seit Juni 2022 grüner Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr in Nordrhein-Westfalen.
Das Deutschland-Ticket führt zu weniger Einnahmen bei den Verkehrsunternehmen: Wer zum Beispiel von Aachen nach Düsseldorf pendelt, hat bisher mehr als 200 Euro im Monat für ein Ticket gezahlt. Das geht jetzt mit dem Deutschlandticket für 49 Euro. Gleichzeitig sind die Kosten, etwa für Tariferhöhungen, stärker gestiegen. Das alles ist schwer zu kalkulieren, aber die Zahlen sprechen sehr dafür, dass wir 2024 mit eher vier statt drei Milliarden Euro Kosten rechnen müssen.
Was passiert, wenn Herr Wissing hart bleibt?
Dann gibt es drei Alternativen. Entweder müsste der Preis 2024 auf etwa 59 Euro erhöht werden. Das wäre aber ein Bruch der Zusage, dass der Einführungspreis für die Jahre 2023 und 2024 bei 49 Euro liegt. Eine Erhöhung würde außerdem zu Abo-Kündigungen und weiteren Mindereinnahmen in der Folge führen. Dann wäre auch fraglich, ob die Finanzierung weiter gesichert wäre. Die zweite Möglichkeit wäre, dass Länder und Kommunen Verkehrsleistungen abbestellen, um Kosten zu senken. Das wäre aber absurd, denn wir wollen ja die Angebote im öffentlichen Verkehr ausbauen. Die dritte Möglichkeit wäre, das Deutschlandticket zu beenden, wenn der Bund seinen Teil nicht dazutut.
Warum übernehmen die Länder die Differenz nicht?
Wenn ich mal auf den NRW-Haushalt gucke, ist schon die Hälfte der Kosten für uns ein kaum zu stemmender Kraftakt. Wenn der Bund sich aus der Verantwortung zieht, dann ist das Ticket tot. Wenn ich mir anschaue, was der Bund in Dienstwagen- und Dieselsubventionen steckt, wäre es aber ein Leichtes, damit das Ticket zu finanzieren.
Was ist die wahrscheinlichste Lösung?
Das vermag ich nicht zu sagen. Bislang hat sich Herr Wissing auf den Standpunkt gestellt, dass es ja gar kein Problem und nichts zu besprechen gibt. Zumindest diese Haltung scheint sich mittlerweile in Berlin geändert zu haben, wie ich höre.
Muss jetzt der Bundeskanzler ran oder müssen die Grünen mehr Druck machen?
Oliver Krischer
Ich bin nicht für die Willensbildung in der Bundesregierung zuständig. Aber: Wenn der Bundeskanzler sagt, das Deutschlandticket ist eine der größten Errungenschaften im öffentlichen Verkehr seit Jahrzehnten – womit er recht hat –, dann erwarte ich in einer kritischen Phase wie jetzt, dass sich der Bund auch engagiert. Man kann nicht wie Herr Wissing sagen: Ich finde das toll, und zum Beispiel über die europaweite Ausdehnung des Tickets fabulieren und anderen dann aber die konkreten Probleme vor die Füße werfen. Die Länder sind in dieser Frage einig. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sieht, dass sie das ganze demokratische Parteienspektrum von der CSU bis zur Linkspartei repräsentieren.
Das 49-Euro-Ticket gefährdet das Semesterticket, das es fast an allen Hochschulen gibt. Weil alle Studierenden das Ticket kaufen müssen, muss der Preis zum regulären Angebot einen klaren Abstand haben, sonst kann es juristisch angefochten werden. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Die Verkehrsministerkonferenz hat schon im Frühjahr einen Vorschlag gemacht, wie ein Deutschlandticket für alle Studierenden zum Preis von etwa 29 Euro möglich ist, ohne dass es zusätzliches Geld kostet. Dieser Vorschlag liegt seit mehreren Monaten auf dem Tisch in Berlin. Verkehrsminister Wissing muss nur den Daumen heben, damit es kommt. Aber das macht er nicht.
Müsste der Bund Geld zusteuern?
Nein. Das kostet kein Geld. Wenn die Semestertickets ins Deutschlandticket integriert werden, bedeutet das keine zusätzliche Belastung. Im Gegenteil. Es ist eine Entlastung, weil mit den Studierenden zusätzliche Kundinnen und Kunden ins Deutschlandticket kommen.
Und woran scheitert das?
Die Bundesregierung sagt nicht Ja dazu, was aber nötig ist. Sogar der Verkehrsausschuss des Bundestages hat sich mit den Stimmen der Ampel für die Lösung ausgesprochen. Trotzdem hebt Herr Wissing den Daumen nicht. Ich kann nur spekulieren, warum – ob man mit Millionen Studierenden Verhandlungsmasse aufbauen will oder grundsätzlich etwas gegen Solidartickets hat. Am Geld kann es jedenfalls nicht liegen.
Einige Studierendenvertretungen haben das Semesterticket schon gekündigt, weil sie Rückforderungen fürchten, wenn es juristisch angefochten wird.
Ja, einzelne haben gekündigt. Das wirkt sich noch nicht unmittelbar aus, weil es lange Kündigungszeiten gibt. Aber wenn wir keine Lösung finden, droht eine Erosion bei den Studierendentickets und damit auch weitere Einnahmeausfälle für die Verkehrsunternehmen.
Können die Länder nichts gegen die Blockade von Herrn Wissing tun?
Wir haben vereinbart, dass alle Sonderregelungen einvernehmlich zwischen der Länderverkehrsministerkonferenz und dem Bund getroffen werden. Das ist eine Grundvereinbarung zum Deutschlandticket.
Bedauern Sie, dass die Grünen nicht das Verkehrsministerium im Bund haben?
Na ja, es wäre natürlich vieles schöner, wenn wir überall nur mit Grünen zu tun hätten. Da fände ich volle Unterstützung. Aber im Ernst: Bei den Themen Straßenverkehrsordnung oder Deutschlandticket gibt es auch in anderen Parteien viel konstruktive Unterstützung.
Die Ampel reformiert das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung, um Kommunen mehr Spielraum bei der Verkehrsgestaltung zu geben, etwa Tempo-30-Zonen einzurichten. Was ist aus Ihrer Sicht der wichtigste Punkt?
Bislang wird die ganze Straßenverkehrsordnung quasi aus dem Blickwinkel des Autofahrers oder der Autofahrerin durch die Windschutzscheibe betrachtet. Denn entscheidend ist bislang die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Autoverkehrs. Von dieser Betrachtungsweise kommen wir jetzt weg und öffnen gleichzeitig ein Fenster dafür, dass Kommunen sehr viel freier entscheiden können. Temporeduzierungen oder andere Verkehrsmaßnahmen können künftig zum Beispiel auch mit Klimaschutz begründet werden.
Verkehrsverbände kritisieren, dass Kommunen weiterhin zu wenig Spielraum haben, weil sie immer noch Gefährdungslagen nachweisen müssen.
Das sehe ich auch so. Ich finde, Kommunen sollen selbst entscheiden, wie sie die Verkehrsregelung in ihren Städten handhaben. Denn die wissen vor Ort am besten, was sinnvoll ist und müssen es bei ihren Bürgerinnen und Bürgern rechtfertigen.
NRW ist bekannt für besonders viele Staus auf den Autobahnen. Was ändert die schwarz-grüne Landesregierung daran?
NRW hat die meisten Staus, weil NRW die meisten Autos und Straßen hat. Im Koalitionsvertrag von CDU und Grünen steht, dass der öffentliche Verkehr und der Radverkehr das Rückgrat einer nachhaltigen Mobilität sind. Wir wollen Alternativen zum Autoverkehr schaffen und damit natürlich am Ende auch Straßen entlasten.
Aber das dauert.
Eine neue Schieneninfrastruktur zu schaffen oder eine völlig marode zu sanieren, ist immer eine Frage mehrerer Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. In kleineren Städten, die keinen Bahnanschluss haben, wollen wir ein neues Schnellbussystem aufbauen. Wir wollen 1.000 Kilometer neue Radwege schaffen und haben als erstes Flächenland ein Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz eingeführt.
Gerade in den ländlichen Gebieten in NRW ist der ÖPNV prekär.
Selbstverständlich müssen wir den Nahverkehr vielerorts weiter ausbauen. Das geschieht durch Streckenreaktivierungen, Schnellbuslinien und On-Demand-Verkehre, wo nur eine geringe Nachfrage zu erwarten ist. Aber auch die Verlässlichkeit des Nahverkehrs ist derzeit ein Problem. Eine Ursache sind die Baustellen. Wir müssen die kaputte Infrastruktur wegen jahrzehntelanger Vernachlässigung jetzt sanieren. Hinzu kommt der Fachkräftemangel. Wir haben das jetzt als Land in die Hand genommen und lassen in großem Umfang Lokführerinnen und Lokführer, Personal für Zugbegleitungen sowie Disponenten und Disponentinnen ausbilden. Da ist Besserung in Sicht, während uns die Baustellen noch lange begleiten werden.
Die Ampel hat beschlossen, dass 138 Autobahnprojekte beschleunigt ausgebaut werden sollen, die meisten in NRW. Wie ist der Stand?
Dafür ist allein der Bund zuständig. Hinsichtlich des Planungsstandes der einzelnen Projekte müssen Sie den Kollegen Wissing fragen.
Aber Sie wurden konsultiert, oder?
Ja, zu der Frage, ob bei einzelnen Ausbauprojekten ein verändertes Planungsverfahren angewandt werden soll. Da haben wir geantwortet, dass wir gar nicht einschätzen können, wo die Projekte in der Planung stehen und ob mit den neuen Verfahren überhaupt etwas beschleunigt wird. Wenn der Bund der Meinung ist, dass diese Planungsbeschleunigung sinnvoll ist, ist das seine Verantwortung. Eine Ausnahme, die allerdings viele Teilprojekte betrifft, haben wir bei der A3 gemacht, weil wir den Eindruck haben, dass man dort mit temporärer Standstreifennutzung auf einen Ausbau verzichten kann. Wichtig ist uns aber, dass der Bund vor allem bei der Sanierung der Autobahnbrücken vorankommt. Da gibt es einen großen Sanierungsstau.
Planen Bund und Länder aneinander vorbei?
Natürlich nicht. Die Länder planen und bauen ja etwa die Bundesstraßen sogar im Auftrag des Bundes. Wir wissen selbstverständlich, was der Bund tut und umgekehrt. Woran es aber in Deutschland mangelt, ist eine verkehrsträgerübergreifende Planung, erst recht über die Ebenen hinweg. Wir denken noch viel zu sehr in Einzelprojekten für Straße, Schiene und so weiter, statt die Zusammenhänge zu betrachten. Da sind wir in NRW mit der Entwicklung eines Landesverkehrsmodells dabei, das zu ändern.
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