Offener Brief jüdischer Intellektueller: Sie verharmlosen Antisemitismus
Über 100 in Deutschland beheimatete jüdische Intellektuelle haben die Verbote propalästinensischer Demonstrationen kritisiert. Eine Erwiderung unserer Autorin.
![Eine Frau hält einen Zettel vor ihr Gesicht, darauf stehen die Worte "Stop Antisemitism", auch in Hebräisch Eine Frau hält einen Zettel vor ihr Gesicht, darauf stehen die Worte "Stop Antisemitism", auch in Hebräisch](https://taz.de/picture/6609340/14/offener-Brief-Juden-Deutschland-Antwort-1.jpeg)
I n einem am 22. Oktober in der taz veröffentlichten offenen Brief appellieren über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen für Meinungsfreiheit und fordern, Proteste von Palästinenser:innen und ihren Unterstützer:innen zu erlauben. Während die Forderung, das Versammlungsrecht für alle gelten zu lassen, berechtigt ist, scheinen die Unterzeichnenden die Realität vieler Proteste schlicht zu verleugnen. Sie verharmlosen damit Antisemitismus und verhöhnen dessen Opfer.
Mahnwachen und Proteste sind – sofern sie friedlich verlaufen – im Grundgesetz verbrieft und gehören damit zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Gedenkveranstaltungen für die israelischen Opfer der Hamas kommen weltweit ohne antimuslimische Hetze aus. Während die Verhaftung friedlich Demonstrierender und wahllose Repressionen unabhängig vom Anlass des Protests aufs Schärfste zu verurteilen sind, geht die Behauptung der Unterzeichnenden, es gäbe „keine glaubwürdige Verteidigung“ für aktuelle Versammlungsverbote völlig an der Realität vorbei.
Bei ähnlichen Kundgebungen, sei es nun in New York, London oder Sydney („gas the Jews“), waren immer wieder antisemitische Parolen zu hören. Weltweit gibt es eine Explosion antisemitischer Delikte. Auch bei Protesten in Deutschland ist nicht erst seit dem 7. Oktober Sympathie für die Hamas und antisemitische Hetze zu vernehmen. Wurden antisemitische Vorfälle auf Protesten gegen Israel hierzulande bislang meist geduldet, sollen – angesichts des größten Massakers an Juden nach 1945 – derzeitige Verbote Vergleichbares verhindern.
Perfide kehren die Unterzeichnenden das Ganze jedoch um. Sie instrumentalisieren die Gefahr einer Wiederholung der deutschen Geschichte und behaupten, das Problem bestehe nicht in antisemitischen Vorfällen, sondern im Versammlungsverbot. Klar ist: Das Versammlungsverbot darf niemals diejenigen treffen, die ihre Ansichten friedlich kundtun wollen.
wurde in Sankt Petersburg geboren und ist Philosophin und Autorin, etwa für die „Jüdische Allgemeine“. Sie lebt in Berlin.
Auch Kulturschaffende in Israel kritisieren die Regierung
Gewaltlose Proteste sind aber kaum zu erwarten, wenn Aufrufe titeln: „Wir werden Neukölln zu Gaza machen. Zündet alles an.“ Den Unterzeichnenden sind mögliche Beweggründe für zu beklagende antisemitische Straftaten wie den Brandanschlag auf eine Synagoge oder das Markieren von Wohnorten jüdischer Menschen mit Davidsternen allerdings „unbekannt“. Wer die Gleichsetzung von „jeglicher Kritik“ an Israel mit Antisemitismus zurückweist, wird noch lange über die Ursache des derzeitigen Anstiegs antisemitischer Taten grübeln.
Sicherlich ist es grundsätzlich möglich, die Gräueltaten der Hamas zu verurteilen und auch Israel zu kritisieren. Viele Kulturschaffende in Israel und auch viele der Unterzeichnenden sind seit Jahren vehemente Kritiker:innen der dortigen Regierung und prangern zurecht Missstände an. Nicht selten jedoch erweckten die reflexartigen Erwiderungen auf die brutalen Morde des 07. Oktober, die häufig mit Verweisen auf die israelischen „Besatzer“ gespickt waren und ein Selbstverschulden suggerierten, den Eindruck, hier würden Morde legitimiert und die Motivation der Mörder rationalisiert.
Auffällig, aber nicht gerade verwunderlich ist, dass sich unter den Unterzeichnenden kaum post-sowjetische oder Nachkommen post-sowjetischer Jüdinnen und Juden finden, die jedoch einen Großteil der jüdischen Bevölkerung Deutschlands ausmachen.
Viele Israelis sind nach Deutschland ausgewandert
Die Kontingentflüchtlinge ließen zwischen 1990 und 2003 die jüdischen Gemeinden hierzulande um ein Dreifaches anwachsen. Sie und ihre Nachfahren haben die Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland überhaupt erst ermöglicht, sie nachhaltig geprägt und damit dazu beigetragen, dass seit 2010 unter anderem auch immer mehr Israelis nach Deutschland ausgewandert sind.
Viele der Unterzeichnenden sind Expats, die ihre Heimatländer nicht aus Not verlassen haben, sondern um in Deutschland zu arbeiten. Mag sein, dass sie sich aufgrund des Privilegs, nicht vor Antisemitismus geflohen zu sein, a priori als Unterdrücker sehen und in vorauseilender Selbstkritik die Seite der vermeintlich Unterdrückten ergreifen.
Ihre Äußerungen zeugen von einer Lebensrealität, die mit der eines Großteils postsowjetisch-deutscher Jüdinnen und Juden jedoch wenig zu tun hat. Ihre Haltung, nach der Israelkritik nichts mit Antisemitismus zu tun hat, ist nicht repräsentativ. Marginalisiert ist sie dennoch nicht, bisweilen ist sie so willkommen – man erinnere sich an die Causa Wolff – dass sie über jeden Zweifel erhaben ist.
Dass man für den Brief das wohl bekannteste und mittlerweile doch recht abgedroschene Zitat von Rosa Luxemburg, „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenken“, gebraucht, zeugt nicht bloß von der Banalität dessen, was sich als Argument geriert.
Trauer sollte friedlich kundgetan werden
Luxemburg, die beim Anblick eines ausgepeitschten Büffels ihre Tränen nicht zurückhalten konnte über das Leid des „liebsten Bruder[s]“, ist wohl kaum eine gute Kronzeugin für Menschen, von denen es einigen offensichtlich schwerfiel, die auf brutalste Weise ermordeten Jüdinnen und Juden ebenso unmissverständlich und ohne reflexartige Relativierungen zu betrauern wie die Toten auf palästinensischer Seite. Von der Disproportionalität der Trauer zeugt auch, dass die israelischen Geiseln in dem Brief mit keinem Wort erwähnt werden.
Es bleibt zu hoffen, dass in Deutschland Trauer um palästinensische Opfer friedlich kundgetan werden kann – und auch, dass die Trauernden dabei in Zukunft nicht des Zuspruchs privilegierter jüdischer Intellektueller bedürfen.
* Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Version dieses Briefes wird in der Printversion der taz gedruckt.
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