Neue Corona-Maßnahmen: Viel Kritik, wenig Alternativen

Ob AfD oder FDP, ob Bodo Ramelow oder Ärztefunktionäre: Kritiker der beschlossenen Maßnahmen gibt es reichlich – und Kritik an der Kritik.

Ein Stapel mit bunten Stühlen

Auf dem Rathausplatz in Freiburg am Donnerstag: Die Stühle eines Eiscafés sind schon hochgestellt Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Ist es Profilierungssucht? Sind es persönliche Eitelkeiten? Ist es das Prinzip der Oppositionsarbeit? Oder ist die Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen zur Eindämmung der Pandemie berechtigt? Bei der Bewertung der Coronamaßnahmen ist die informierte Öffentlichkeit derzeit verwirrt: Dass die Opposition, allen voran FDP und AfD, gegen die Maßnahmen wettert, ist nachvollziehbar, ist es doch gewissermaßen ihr Job.

Dass Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei als Einziger unter den 16 Länderchefs ausschert, ist einer gesonderten Betrachtung wert. Doch auch prominente Mediziner halten die Schließung von Gastronomie- und Kulturbetrieben für überflüssig und empfehlen stattdessen, „mit dem Virus zu leben“.

Unmittelbar vor der Videokonferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen lud am Mittwoch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zum Pressegespräch und stellte ein Papier vor: „Wir setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung“, lautet ihre Kernthese. Der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen übte dabei scharfe Kritik an der Bundesregierung. „Es ist falsch, nur mit düsterer Miene apokalyptische Bedrohungsszenarien aufzuzeichnen“, sagte er. Und kritisierte etwas, was gar nicht zur Diskussion stand: „Wir können nicht das ganze Land wochen- und monatelang in eine Art künstliches Koma versetzen.“ Ein pauschaler Lockdown sei „weder zielführend noch umsetzbar“, behauptete Gassen. Zudem verwies er darauf, dass nur 5 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patient*innen belegt seien.

Wissenschaft und Ärzteschaft

Unterstützt wurde der oberste Funktionär der Kassenärzte dabei von den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit. Sie haben das Papier mitverfasst, das außer von der KBV auch von zahlreichen Ärzteverbänden unterzeichnet wurde. Präsentiert wurde es unter dem Titel „Gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“.

Was dabei verschwiegen wurde: Relevante Teile der Wissenschaft und der Ärzteschaft sehen die Situation vollkommen anders. Schon am Dienstag hatten die Präsident*innen der sechs großen deutschen Forschungsorganisationen – Deutschen Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und Leopoldina – genau das Gegenteil gefordert. „Es ist ernst“, warnen sie und fordern, alle Kontakte drei Wochen lang um drei Viertel zu reduzieren.

Auch aus der Ärzteschaft gab es Widerstand gegen die Erklärung der KBV – vor allem von jenen, die direkt mit den schwerkranken Covid-19-Patienten zu tun haben. Uwe Janssens, Präsident der Vereinigung der Deutschen Intensivmediziner, widerspricht entschieden Gassens Einschätzung, dass die Situation auf den Intensivstationen noch entspannt sei. Viel mehr bahne sich eine „Notsituation“ an, in wenigen Wochen drohe eine Überlastung, wenn das starke Wachstum nicht gestoppt werde. Tatsächlich verdoppelt sich die Zahl der Covid-19-Patient*innen in den deutschen Intensivstationen derzeit in weniger als 10 Tagen; aus den 1.400, die KBV-Chef Gassen am Mittwoch genannt hatte, wurde am Freitag schon 1.839. Auch die Aussage, dass ein Lockdown nicht wirke, „kann man so nicht stehen lassen“, erklärte Janssens. Die Vereinigung der Intensivmediziner hat sich der KBV-Stellungnahme darum ausdrücklich nicht angeschlossen.

Eine scharfe Distanzierung gibt es auch von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten. Sie waren ohne ihre Zustimmung zunächst als Unterstützer des Papiers aufgeführt worden, weil der Spitzenverband der Fachärzte Deutschland, in dem sie Mitglied sind, dieses unterzeichnet hat. Die Stellungnahme trage „nur zu einer weiteren unnötigen Verunsicherung der Bevölkerung bei“, erklärte der Präsident des Anästhesisten-Verbands, Götz Geldner. Viel stärker als im Frühjahr gehe es jetzt darum, einen Kollaps der gesamten Intensivmedizin in Deutschland und damit sehr viele Todesfälle zu verhindern. Protest kommt auch von einzelnen praktischen Ärzten: „Sie mögen unsere gewählten Standesvertreter sein, aber gegenwärtig sprechen Sie sicherlich nicht repräsentativ für ‚die Ärzteschaft‘ “, heißt es in einem Gegenaufruf des Allgemeinmediziners Rainer Röver aus Überlingen. Statt „realitätsferner Appelle“ brauche es „schnelles und entschlossenes Handeln“.

Laute Kritik im Bundestag

Laute Kritik am Vorgehen der Regierung gab es am Donnerstag im Bundestag. Allen voran die AfD wirft der Bundesregierung vor, die Maßnahmen seien undemokratisch, sie habe „diktatorisch“ entschieden. Drastische Worte ist die Bundesregierung vonseiten der AfD gewohnt. Doch auch die FDP wettert, Volksvertreter im Parlament seien nicht ausreichend eingebunden worden. Die Runde der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung sei kein Verfassungsorgan, doch sie trete immer wieder mit weitreichenden Eingriffen in das Leben der Menschen hervor.

Schon am Donnerstag reagierte Vizekanzler Olaf Scholz auf den Vorwurf eines undemokratischen Vorgehens. „Es hat eine umfangreiche parlamentarische Beteiligung gegeben“, sagte der SPD-Finanzminister. Der Bundestag habe etwa 70-mal über Coronahilfen beraten. Und er hat recht. Grundlage für den Infektionsschutz ist tatsächlich ein mit Mehrheit beschlossenes Bundesgesetz.

Wegen der föderalen Struktur sind für die Ausführung die Länder zuständig, daher waren die Ministerpräsidenten als deren gewählte Vertreter eingebunden. Die Kanzlerin habe aber bei der Vorbereitung der Beschlüsse laufend die Chefs der Bundestagsfraktionen eingebunden, betont Scholz. Es sei daher „ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Parlament“, ihm nach all diesen Anstrengungen eine passive Rolle zu unterstellen.

Bodo Ramelows cholerische Ausbrüche und seine Neigung zu sprunghaften Entscheidungen sind berüchtigt. Auch derzeit irritiert die Coronapolitik des Linken-Ministerpräsidenten. Er werde einer Lockdownbeschlussfassung in der Ministerpräsidentenkonferenz aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zustimmen, ließ Ramelow am Dienstag verkünden. Einen Tag später, als sich die Ministerpräsidenten ab Mittag in der MPK virtuell zur Beratung trafen, war Ramelow von seinem strikten Nein wieder abgerückt. Wie alle anderen Ministerpräsidenten stimmte er dem Vorschlag der Kanzlerin zu, vor allem den Freizeit- und Kulturbereich für einen Monat herunterzufahren.

Wie es zu diesem Sinneswandel kam? Als sich Ramelow und sein Kabinett am Dienstag zur Lagebesprechung trafen, habe es – mal wieder – keine Vorlage für die MPK am kommenden Tag gegeben, erläutert sein Sprecher Falk Neubert. Das habe Ramelow geärgert. Es könne nicht sein, dass die MPK auf Grundlage kurzfristiger Beschlussvorlagen tiefe Eingriffe in die Grundrechte beschließen solle. Die Parlamente müssten stärker einbezogen werden. So steht es in der Pressemitteilung, die nach der Sitzung rausging.

Doch die steigenden Infektionszahlen in Thüringen, drei Coronafälle in der Staatskanzlei und ein Anruf der Kanzlerin in Erfurt am Dienstagnachmittag brachten Ramelow ins Wanken. Die Gespräche mit den Länderkolleg:innen am Mittwoch stimmten ihn schließlich um.

Gänzlich gab er seine, „Bodo gegen den Rest der Welt“-Position“ dann aber doch nicht auf. Nicht weniger als fünf Protokollerklärungen ließ Ramelow ans Ende des Beschlusses der Ministerpräsident:innen setzen. Die reichen von grundsätzlicher Kritik an der MPK über die Drohung, dass Thüringen nur die Maßnahmen mittrage, die wissenschaftlich evaluiert seien, bis hin zu der Erklärung, der Landtag werde auf jeden Fall noch über den Beschluss abstimmen.

Was die Kritiker eint: Sie kritisieren Versäumnisse der Sommermonate, als die Lage relativ entspannt war

Seine Unterstützer:innen können Ramelow mitunter schwer folgen. Auf dem Regierungskanal „Ramelow direkt“ nannte er die einseitige Fixierung auf Corona am Mittwochabend problematisch, wies auf die ebenfalls existente Gefahr durch Blutvergiftungen hin. Dass Ramelow nun zu den Coronaleugnern überläuft, ist allerdings unwahrscheinlich. Er sei sehr gewissenhaft auf die Einhaltung der Hygieneregeln bedacht, so Sprecher Neubert. „Wenn jemand keine Maske trägt, weist er ihn sofort darauf hin.“ Nachdem die Infektionsfälle in der Staatkanzlei auftraten, ließ sich Ramelow am Donnerstagmittag selbst auf das Virus testen. Das – negative – Testergebnis veröffentlichte er noch am selben Abend auf Twitter mit den Worten: „Bleibt vorsichtig und vor allem gesund.“

Was die Kritiker der Coronamaßnahmen eint: Sie bemängeln, dass in den Sommermonaten, als die Infektionslage relativ entspannt war, versäumt wurde, zielgerichtete Teststrategien zu entwickeln, wie mit Reise­rück­keh­re­r*in­nen umzugehen sei, oder technische Lösungen in Schulen und Kitas. Eine Akutstrategie, wie auf die nun explodierenden Infektionszahlen und die Zunahme von Intensivpatieten zu reagieren sei, haben auch sie nicht. So bleibt ihnen nur eins: dagegen sein.

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