NDR-Doku „Lovemobil“: Die „authentischere“ Realität

Die NDR-Doku „Lovemobil“ präsentierte Schauspielerinnen als „echte Sexarbeiterinnen“. Wie stark dürfen solche Filme das, was sie zeigen, inszenieren?

Eine Frau schaut in der NDR-Doku „Lovemobil“ aus dem Fenster eines Wohnmobils

Nicht real: Sexarbeiterin „Rita aus Nigeria“ in „Lovemobil“, dargestellt von einer Schauspielerin Foto: Christoph Rohrscheidt/NDR

„Lovemobil“ hätte ein passabler Spielfilm sein können. Man hätte ihm vielleicht vorgeworfen: bisschen viel Rotlichtkitsch. Oder dass da ein „Retter*innen-Syndrom“ mitschwingt, dass die Protagonistinnen zu passiv sind. Was man ihm nicht hätte vorwerfen können, ist: Täuschung. Dieser Vorwurf drängt sich nun aber auf gegen die NDR-Kinoproduktion von 2020 und die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss.

Der NDR hat den Film am Montag aus seiner Mediathek entfernt und sich distanziert, nachdem die Investigativredaktion STRG_F (ebenfalls NDR) herausgefunden hatte: Die Sexarbeiterinnen „Rita aus Nigeria“ und „Milena aus Bulgarien“ in Lehrenkrauss’ Film sind gar keine. Recherchen mit echten Sex­ar­bei­terin­nen scheint es gegeben zu haben – aber zu sehen sind ausgedachte Figuren, die von Darstellerinnen gespielt werden. Sie wussten offenbar selbst nicht, dass der Film als „dokumentarisch“ verkauft werden würde.

„Lovemobil“ sieht aus wie eine Doku über zwei junge migrantische Frauen, die tageweise ein Wohnmobil an einer Landstraße in Niedersachsen für Sexarbeit mieten. Der Film lief kurz vor der Pandemie im Kino, wurde positiv besprochen (auch in der taz), bekam den Deutschen Dokumentarfilmpreis und zuletzt eine Nominierung für den Grimme-Preis.

Der SWR, der den Dokumentarfilmpreis vergibt, prüft jetzt, ob er ihn wieder aberkennt. Das Grimme-Institut hat bereits reagiert. Dort heißt es auf Anfrage: „Nach Kenntnisnahme der massiven Vorwürfe rund um den Film ‚Lovemobil‘ hat die Nominierungskommission entschieden, der Produktion auf Grund schwerwiegender Verstöße die Nominierung zu entziehen.“

Die Sexarbeiterinnen-Organisation Doña Carmen bezeichnet den Film in einer Mitteilung als „Lügen-Doku“ und wirft Lehrenkrauss „abgrundtiefe Missachtung von Sexarbeiter*innen“ vor: Sie habe ihren Figuren „unter dem Deckmantel der Empathie ihre angeblich ‚authentischere Realität‘“ übergestülpt. Elke Margarethe Lehrenkrauss war am Dienstag zu einem Gespräch mit der taz nicht bereit. Dem NDR gegenüber gibt sie an, versäumt zu haben, den Sender über die Inszenierungen zu informieren. „Sie bereue das und behauptet zugleich, der NDR habe nicht nachgefragt.“ Der NDR widerspricht Letzterem.

Katastrophe für Dokumentarfilm

Aber wie konnte ein zu großen Teilen inszeniertes Werk überhaupt als „Dokumentarfilm“ Sender und Fachwelt passieren? Preise bekommen? Alles an „Lovemobil“ wirkt im Lichte der Enthüllung zu idealtypisch. Die Figuren zu reflektiert. Dass niemand Alarm schlug, liegt wohl daran, dass im Dokfilm ein Mindestmaß an „Inszenierung“ akzeptiert wird, solange es redliches Abbild der Wirklichkeit ist. Eine Protagonistin zurückschicken, damit sie erneut die Straße entlangläuft, bei besserem Licht? Viele würden sagen: okay. Erst, wenn Figuren erfunden werden, womöglich gepanscht aus allen möglichen realen Biografien, ist eine Grenze erreicht.

„Ich fühle mich getäuscht“, sagt Ulrike Becker, Geschäftsführerin im Haus des Dokumentarfilms. Becker hat Lehrenkrauss im Sommer interviewt, nachdem sie den SWR-Preis erhalten hatte. Damals behauptete Lehrenkrauss über ihre Protagonistinnen: „Für sie war der Film ein Katalysator, aus der Prostitution auszusteigen.“ Das klingt nicht so, als bestünde hier bloß ein Missverständnis.

„Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, die inszenierten Aspekte im Film kenntlich zu machen“, sagt Becker. Nichts davon bei „Lovemobil“. Der Film will echt aussehen. Lehrenkrauss sagt in ihrem Statement an den NDR: „Diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität.“

Was die Figuren im Film darstellen, kann real sein und ist gewiss Sexarbeiterinnen so passiert. Gewalt, Ausbeutung, Freiheitsberaubung, Hilflosigkeit. Aber ist es authentisch – sogar authentischer –, wenn alle denkbaren negativen Sexarbeiterfahrungen in zwei Figuren gestopft werden? Fiktion darf das. Im Dokfilm hat es was von Hybris.

Im Interview mit dem Haus des Dokumentarfilms erzählt Lehrenkrauss von der ursprünglichen Idee für den Film. „Das Bild von einer Frau aus Afrika, die im dunklen deutschen Wald in einem Bus sitzt – das war für mich das Bild eines Missstands, dem ich auf den Grund gehen wollte.“ Vielleicht hat die Filmemacherin zu sehr an diesem Bild gehangen, um es sich von der Wirklichkeit kaputtmachen zu lassen.

Am Ende ist es eine Katastrophe für den Dokumentarfilm und das Vertrauen zwischen Fil­me­ma­che­r*in­nen und Redaktionen. Vor allem aber für Debatten über Sexarbeit. Die sind ohnehin verzerrt von klischierten fiktionalen Darstellungen. Wenigstens dem, was sich als Fakt verkauft, sollte man trauen können.

Hinweis der Redaktion: Der Autor ist Mitglied einer Nominierungskommission für den Grimme-Preis. Jedoch in einer anderen Kategorie als die, in der „Lovemobil“ eingereicht war.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.