Lehrermangel: Die Schulabbrecher
Zu viel Druck im Referendariat, starre Hierarchien, Kampf mit der Bürokratie. Warum jedes Jahr Hunderte angehende Lehrer ihre Ausbildung aufgeben.
M anchmal träumt Richard Le Déon von dem Alltag, gegen den er sich selbst entschieden hat. Den eines Gymnasiallehrers in Niedersachsen. Dann überlegt er, wie es sein könnte, wenn er nicht alles hingeschmissen hätte. Wie es wäre, heute Schulklassen in Mathe und Französisch zu unterrichten. Nur ohne die Überforderung, die er als Referendar verspürte. Und ohne den Druck und die Bürokratie, unter deren Last er irgendwann zusammengebrochen ist.
Solche Gedanken kommen dem 28-Jährigen oft mittwochs, wenn er in einer Berufsschule in Hannover sitzt und sich auf seinen neuen Beruf vorbereitet: Gärtner der Fachrichtung Gemüsebau. Dort hört Le Déon, warum man Tomaten nicht zu früh im Jahr vorzieht, welche Fruchtfolge sich beim Ökolandbau eignet – und wie Schlupfwesten Schädlinge kleinhalten.
An vier Tagen die Woche lernt er ganz praktisch, wie man Gemüse anbaut, auf einem Feld südlich von Göttingen. Sein neuer Beruf macht Le Déon Spaß. Er beschreibt ihn als „intensiv und erfüllend“. Vor allem aber fühlt er sich erleichtert, nicht mehr in einem System zu stecken, das ihm „die mit Abstand schlimmste Zeit“ seines Lebens beschert hat.
In Deutschland teilt sich die Lehrer:innenausbildung in zwei Phasen. Im Studium die Theorie, danach das Referendariat, die praktische Anwendung. Die Folge: Viele Lehramtsanwärter:innen stehen im Referendariat erstmals vor einer Schulklasse. Zwar schreiben heute alle Bundesländer während des Studiums „Praxisphasen“ an Schulen vor, einige sogar ein „Praxissemester“ – in der Regel schauen die Studierenden dabei aber vor allem zu. Erst im Referendariat unterrichten sie selbst.
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Nicht alle stehen das durch. Wie viele, ist schwer zu ermitteln. Die Ministerien wissen nicht immer, ob jemand abgebrochen hat oder gerade wegen Krankheit oder Elternzeit pausiert. Im Schnitt kann man von einer bundesweiten Abbrecherquote von 5 Prozent ausgehen; jedes Jahr verlieren die Schulen um die 1.500 Lehrkräfte. Das deckt sich in etwa mit den Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK).
Auch hier lassen sich wegen der unterschiedlich langen Ausbildungszeiten in den Ländern keine exakten Quoten errechnen. Aber für das grobe Bild reicht es. Im Jahr 2020 nahmen 30.430 Referendar:innen ihren Dienst auf. Viele von ihnen müssten zwei Jahre später ihre Ausbildung abgeschlossen haben – doch 2022 haben nur 27.742 ihre Staatsprüfung bestanden.
Warum aber schmeißen Jahr um Jahr hunderte angehende Lehrer:innen hin? Menschen, die dringend gebraucht werden, um ein auf Kante genähtes Schulsystem am Laufen zu halten. Bereiten Studium und Referendariat gut auf den Alltag an der Schule vor? Und falls nein: Was folgt daraus? Für Schulen und Ministerien? Für den Anspruch unserer Gesellschaft an den Lehrerjob?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die wochentaz mit Ministerien und Verbänden, Lehrkräften und Ausbilder:innen, Studierenden und Referendar:innen gesprochen. Rund ein Dutzend angehender Lehrkräfte haben uns von ihren Erfahrungen mit dem jetzigen System erzählt. Warum die Ausbildung so stressig ist, warum sie so viel Frust erzeugt.
Einer von ihnen ist Paul Messall, der sein Referendariat trotz abgeschlossenen Lehramtsstudiums in Hessen nicht an der Grundschule absolvieren darf. Er hat sich wie Richard Le Déon einen neuen Beruf gesucht. Oder Theresa Rahn, die am Ende ihres Referendariats fast einen Nervenzusammenbruch erleidet, weil die Berliner Verwaltung ihr die sicher geglaubte Stelle verweigert. Rahn heißt anders, ihren Namen haben wir auf ihren Wunsch geändert.
Referendar:innen arbeiten oft bis Mitternacht, zudem stehen sie unter ständiger Beobachtung und Begutachtung. Seminarleiter:innen, Fachkolleg:innen, Schulleiter:innen bewerten und benoten regelmäßig den Unterricht. Dieses Feedback ist wichtig, einerseits. Die Referendar:innen sollen lernen, ihren Unterricht selbständig zu planen und zu halten. Da braucht es eine enge Begleitung.
Richard Le Déon sagt: „Meine fachliche Betreuung war insgesamt echt gut, sie hat mir sehr geholfen.“ Andererseits bauen die vielen Seminarstunden, Unterrichtsbesuche und Lehrproben auch einen konstanten Druck auf. Der Vorwurf vieler Referendar:innen: Ihre Betreuer:innen hätten sie degradiert, nach dem Motto: „Das geht anders. Das kannst du noch nicht.“
Mit dem Druck bleiben die Lehramtsanwärter:innen oft allein. Ein Grund dafür steht in Paragraf 9 des Beamtenstatusgesetzes. Er sieht vor, dass alle Personen im öffentlichen Dienst vor der Verbeamtung ihre gesundheitliche Eignung nachweisen müssen. Das gilt für Lehrkräfte genauso wie für Richter:innen. Sie alle müssen sich amtsärztlich prüfen lassen.
Eine psychotherapeutische Behandlung im Studium oder während des Referendariats kann ein Ablehnungsgrund sein. Laut den Ministerien kommt das zwar so gut wie nie zur Anwendung. Aber das Risiko bleibt, vom Amtsarzt ausgemustert zu werden. Auch, weil es keine klaren Richtlinien gibt, wann eine psychische Erkrankung, wann eine entsprechende Therapie okay sind – und wann ein Grund für die Ablehnung. Wegen dieser Unsicherheit verzichten viele Referendar:innen und Lehramtsstudierende lieber auf professionelle Hilfe.
Auch Richard Le Déon hat keinen Arzt aufgesucht, als er einen Zusammenbruch während seines Referendariats erlitt. Die ersten Symptome treten im März 2021 auf. Zu dem Zeitpunkt hat er fast die Hälfte seines Referendariats hinter sich. Erst ein paar Tage zuvor attestieren ihm seine Ausbilder:innen, dass er seine Sache schon ganz gut macht. Sowohl in der 7. Klasse, in der er Französisch unterrichtet, als auch in der 9. Klasse, wo er Mathe gibt.
Sie loben, wie gut er mit den Jugendlichen umgeht. Doch wie angespannt und überarbeitet er ist, bemerken sie nicht. Sie fragen auch nicht danach – dafür ist im Ausbildungsalltag keine Zeit. Nur einmal wird das Thema Arbeitsumfang und Zeitmanagement im Seminar angesprochen, das war es.
Die Erziehungswissenschaftlerin Julia Košinár hat viel zur Betreuungssituation deutscher Referendar:innen geforscht, sie ist Leiterin des Forschungszentrums Lehrberufe und pädagogische Professionalität an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Im Jahr 2014 hat sie die Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlicht. Ein Punkt: Wer unsicher oder unerfahren ist, passt sich den Erwartungen der Ausbilder:innen an oder versucht Fehler zu vermeiden. Je erfahrener und selbstsicherer sie sind, desto besser können sie mit Kritik und Druck umgehen. Košinár glaubt, dass eine bessere individuelle Begleitung vor Überlastung schützen kann – und vor dem Abbruch.
Normalerweise werden Referendar:innen schrittweise an das selbständige Unterrichten herangeführt. Manche Seminarleiter:innen empfehlen, mit vier Schulstunden die Woche zu starten und erst im zweiten Halbjahr zu steigern. Le Déons Ausbildungsschule, ein Gymnasium in Osterode am Harz, teilt ihm in Rücksprache mit seinem Seminar 7 Stunden zu. Nicht ungewöhnlich – aber mit mehr Aufwand verbunden. Referendar:innen müssen jede Schulstunde akribisch vorbereiten.
In einem „Verlaufsplan“ muss jeder Unterrichtsschritt schriftlich ausformuliert werden: Welcher Stoff ist an der Reihe? Was lernen die Schüler:innen in dem Moment? Welche Methodik kommt zum Einsatz? Welche Materialien und Medien? In der „Unterrichtsskizze“ müssen das Stundenziel, die geförderten Kompetenzen und weitere Aspekte festgehalten werden. Im Schnitt braucht Le Déon allein für diese Dokumentation 3 Stunden – pro Unterrichtsstunde. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist, sondern Französisch.
Doch die Arbeitsbelastung allein ist es nicht, die Le Déon zusetzt. In seiner 7. Klasse sitzen 30 Teenager. Keine einfache Aufgabe für einen Referendar mit wenig Unterrichtserfahrung. Als er sich daran gewöhnt, schlägt die Pandemie zu. Der zweite Lockdown. Wieder schließen die Schulen. Le Déon hängt sich rein, jede Schulstunde unterrichtet er nun digital. „Das ist einfach alles zu viel gewesen“, sagt Le Déon heute. „Wenn man zu Perfektionismus neigt wie ich, ist das tödlich“.
An einem Abend im März stürzt Le Déon beinahe vom Rad. Er fühlt sich kraftlos – und schafft es an jenem Abend kaum mehr nach Hause. Der Hausarzt stellt Erschöpfungssymptome fest, schreibt ihn für ein paar Tage krank. Le Déon kommt kaum aus dem Bett. Als der Zustand anhält, macht Le Déon mehrere Bluttests, doch die liefern keine Erklärung. Nach drei Wochen sucht er die psychiatrische Notaufnahme der Uniklinik auf.
Burn-out. Eine Therapeutin verschreibt ihm Sertralin, ein Antidepressivum mit schweren Nebenwirkungen. Le Déon bekommt Panikattacken, kann nicht mehr schlafen. Und fühlt sich schlecht, weil er ausfällt und andere seine Stunden vertreten müssen. Als dann noch das Ministerium einen Brief schickt und wissen will, was mit ihm los ist, setzt sich Le Déon noch weiter unter Druck: „Ich will diese Ausbildung zu Ende bringen. Ich muss schnell wieder zu Kräften kommen!“, denkt er. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht mehr.
Ende April unterschreibt er einen Antrag auf Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst, adressiert an das Regionale Landesamt für Schule und Bildung in Braunschweig. Aufgrund einer Krankheit sehe er sich „nicht mehr in der Lage, den Anforderungen des Vorbereitungsdienstes nachzukommen. Mit freundlichen Grüßen“ – viel konkreter soll es der Dienstherr aus Datenschutzgründen nicht wissen. Le Déon vermutet, dass es im niedersächsischen Bildungsministerium aber ohnehin keinen so genau interessiert.
Doch das sollte es. Denn gut ausgebildete Lehrkräfte werden immer knapper. Vor zehn Jahren standen den Schulen bundesweit 30.206 neue voll ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung – im vergangenen Jahr nur 27.350. Allein in Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Referendar:innen zwischen 2012 und 2022 von 3.151 auf 2.372 zusammengeschmolzen. Die Lücke füllen seither vor allem Quereinsteiger:innen auf.
Mittlerweile hat rund jeder zehnte neu eingestellte Lehrer kein Lehramt mehr studiert, in Sachsen-Anhalt und Brandenburg ist es fast jeder zweite. Trotzdem sind rund 50.000 Stellen zu Beginn des auslaufenden Schuljahres unbesetzt geblieben, schätzt der Verband Bildung und Erziehung (VBE).
Le Déon ärgert dieser Trend: „Überall werden Lehrkräfte dringend gebraucht und dann verheizt man uns schon im Referendariat?“ Vor allem von der Seminarleiterin ist er enttäuscht. Als er das erste Mal nach dem Burn-out das Gespräch sucht, um über Teilzeitmöglichkeiten oder Stundenreduzierungen zu sprechen, geht sie darauf nicht ein – er werde schon wieder gesund. Als er zwei Wochen später wiederkommt, um zu kündigen, druckt sie ihm anstandslos den Antrag aus. Hilfe bietet sie nicht an.
Auch kein Abschlussgespräch, um die Entscheidung ihres gescheiterten Referendars besser nachvollziehen zu können. Dabei wäre Le Déon gerne losgeworden, was ihn am Referendariat so frustriert hat: wie fixiert alles sei auf modellhafte Unterrichtsstunden. Aus seiner Sicht dreht sich zu viel darum, in superaufwendigen Stunden „den perfekten Unterricht zu simulieren“. Mit dem Schulalltag habe das wenig zu tun.
Auch der Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel sieht beim Referendariat Handlungsbedarf. Idel leitet das Institut für Pädagogik an der Uni Oldenburg. Seit fast 20 Jahren bildet er angehende Lehrer:innen aus. Dabei beobachtet er, dass diejenigen, die die Studierenden und Referendar:innen betreuen sollen, dafür oft nicht systematisch ausgebildet sind. Weder die Mentor:innen an der Schule noch die Leiter:innen in den Fachseminaren. „Es ist ein Problem, wenn die Professionalisierer nicht selbst professionell ausgebildet sind“. Bis vor wenigen Monaten habe es noch nicht mal ein Lehrbuch für Seminardidaktik gegeben – also eine Anleitung für die Schulung von Referendar:innen.
Idel plädiert dafür, die Zahl der Unterrichtsbegutachtungen zu senken und Coaching-Angebote auszubauen. Da lohne ein Blick ins Ausland. In der Schweiz etwa werden Lehrkräfte gut für die Arbeit als Mentor:in qualifiziert.
Drei Viertel der OECD-Staaten verzichten zumindest bei einen Teil ihrer Lehrkräfte auf das Referendariat. Sie legen theoretische und praktische Ausbildung zusammen. Dadurch stehen Finnland, Dänemark, Schweden oder Polen fertige Lehrer:innen schon nach 4 bis 5 Jahren zur Verfügung – statt nach frühestens 6,5 Jahren wie hierzulande. Bildungsforscher:innen kritisieren schon lang, dass das Lehramtsstudium in Deutschland sehr lange dauert – und die praktischen Anteile erst sehr spät kommen. Aus diesem Grund haben einige Bundesländer duale Studiengänge auf den Weg gebracht.
Beim Referendariat hingegen sehen die Ministerien aktuell wenig Handlungsbedarf. Einige verweisen auf Anpassungen in den vergangenen Jahren. So haben beispielsweise Brandenburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen Coaching-Angebote eingeführt und Bewertungselemente reduziert – so wie es Ausbilder Idel für ganz Deutschland fordert. Hessen schreibt seit vergangenem Jahr zudem vor, dass bei einem Teil der Unterrichtsstunden immer zwei Mentor:innen mit dabei sein müssen. Sachsen hat das Thema Gesundheit in der Ausbildung gestärkt. Und Schleswig-Holstein teilt mit, bestehende Beratungsangebote für Referendar:innen noch weiter ausbauen zu wollen. Aber reichen diese Maßnahmen?
Eine im Mai veröffentlichte Langzeitstudie des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung belegt, dass ein Viertel der Referendar:innen von Burn-out bedroht ist. Die Bildungsministerien schätzen die Lage weniger dramatisch ein. Nordrhein-Westfalen, das ein Viertel aller Lehrkräfte bundesweit ausbildet, sieht „keine Anzeichen einer systematischen Überlastung“ bei Referendar:innen. Ähnlich äußern sich die übrigen Länder. Der Tenor: Wir wissen, dass das Referendariat stressig sein kann. Aber die allermeisten bestehen am Ende ja doch.
Vielleicht hätte auch Paul Messall bestanden und wäre heute Grundschullehrer. Stattdessen ist er PR-Berater. Monatelang hat er versucht, sein Referendariat an einer Grundschule machen zu dürfen. Vergebens. Dabei kann der 25-Jährige ein abgeschlossenes Lehramtsstudium vorweisen. Nur: Aus Sicht der Behörden ist es das falsche.
Messalls berufliche Odyssee beginnt nach dem Abitur. Er möchte in Hessen Grundschullehramt studieren, dafür aber reichen seine Noten nicht aus – bis heute sind Lehramtsstudiengänge vielerorts zulassungsbeschränkt, weil es mehr Bewerber:innen als Plätze gibt. Dann bestimmt der Numerus clausus, wer studieren darf. Beim Lehramt trifft das vor allem auf die Studiengänge Grundschule und Sonderpädagogik zu.
Messall schreibt sich deshalb für Haupt- und Realschullehramt für die Fächer Deutsch und Geschichte ein. Er hofft, nach dem Studium an die Grundschule wechseln zu können. Schließlich liest er ständig, dass dort händeringend Personal gesucht wird. Zum Beispiel in Berlin. Im Juni 2022 besteht Messall in Hessen sein Staatsexamen – und bewirbt sich für das Referendariat für Grundschule in Berlin.
Doch sein Antrag wird abgelehnt. Sein Abschluss sei dem Berliner Lehramt an Integrierten Gesamtschulen und Gymnasien gleichzusetzen. An diesen Schularten könne er gerne anfangen – nicht aber an einer Grundschule. Für Messall ergibt das keinen Sinn. Auch Quereinsteiger:innen, die gar kein Lehramt studiert haben, können ihr Referendariat an der Grundschule machen.
So schnell gibt er nicht auf. Er schickt E-Mails an viele Stellen, von der KMK bis zur Berliner SPD, um auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Vor allem glaubt Messall, eine stichhaltige Begründung für seinen Wunsch nachreichen zu können. Messall leidet an der Augenkrankheit Keratokonos, bei der sich die Hornhaut ausdünnt und nach außen wölbt. Dadurch sieht er alles sehr stark verschwommen.
Schon bei seinen Schulpraktika hat er gemerkt: Was hinter ihm an der Tafel steht, kann er nur mit Mühe entziffern. Auch kleingedruckte Bücher zu lesen fällt ihm schwer. Deutsch in einem Gymnasium zu unterrichten kann er sich deshalb nicht vorstellen. „Wie soll das gehen, wenn ich die Schulbücher schwer lesen kann?“ Als Grundschullehrer könne er im Unterricht viel freier arbeiten, die Schriftgrößen sind deutlich angenehmer. Messall bewirbt sich ein zweites Mal – und verweist auf seine Sehbehinderung. Er bietet auch an, im Brennpunktviertel zu arbeiten.
Doch wieder kassiert er eine Absage: Erstens habe er seine Schwerbehinderung nicht durch die Agentur für Arbeit anerkennen lassen. Zweitens könne diese „Regelung für Nachteilsausgleich“ ohnehin nicht auf seinen Fall angewendet werden. Schließlich werde er „mit allen anderen Bewerbern mit gleichem oder ähnlichem Studienabschluss … gleichbehandelt“. Aus diesem Grund sei „die Absolvierung des Vorbereitungsdienstes für das Lehramt an Grundschulen für Sie ausgeschlossen“.
Die Sachbearbeiterin empfiehlt Messall, die Ausbildung in Hessen abzuschließen. Doch dort darf er mit seinem Abschluss auch nicht an die Grundschule. Ebenso wenig in anderen Bundesländern. Aus Frust wendet er sich schließlich ganz vom Lehrerberuf ab. Heute arbeitet Paul Messall in der PR-Abteilung eines Berliner Start-up-Unternehmens.
Ausbilder Till-Sebastian Idel von der Universität Oldenburg sieht darin ein gutes Beispiel für die „Verwerfungen“ bei der Lehrkräftegewinnung. „Da trifft ein seit Jahrzehnten starres Ausbildungssystem auf unter großem Druck getroffene Ad-hoc-Maßnahmen.“ Dies führe dann – Stichwort Quereinstieg – zu parallelen Strukturen und offensichtlicher Ungleichbehandlung. Ein anderes Beispiel dafür sei die erschwerte Anerkennung ausländischer Lehrkräfte, weil die in der Regel nur ein Fach studiert haben und deshalb in Deutschland vielfach zurück an die Uni müssten.
Auch bei den dualen Studiengängen, die viele Ministerien jetzt auflegen wollen, um Lehrkräfte schneller und praxisnäher auszubilden, gebe es noch offene Fragen – etwa ob die Absolvent:innen dann noch das Referendariat machen müssen oder nicht. Idels Eindruck: Viele der Ad-hoc-Maßnahmen sind nicht konsequent zu Ende gedacht.
Unstrittig ist: Die Ministerien müssen kreativ werden, um genügend Lehrkräfte zur Verfügung zu haben. Jede dritte Lehrkraft ist über 50, die Schulen müssen in den kommenden 10 bis 15 Jahren also rund 230.000 Stellen nachbesetzen. Wie schwer das wird, zeigt eine andere Entwicklung: Seit 2014 ist die Zahl der Lehramts-Absolvent:innen um 14 Prozent gesunken – trotzt massiven Ausbaus der Studienplätze.
Eine aktuelle Studie der Universitäten Rostock und Greifswald zeigt, dass je nach Studiengang zwischen 55 und 85 Prozent der Lehramtsstudierenden vor Ende des Studiums abspringen. Offenbar schreckt die praxisferne Ausbildung viele davon ab, bis zum Ende durchzuhalten. Und die, die bereits im System sind, vergrault die Politik mit Maßnahmen wie verpflichtende Mehrarbeit in Sachsen-Anhalt oder Zwangsversetzungen in Nordrhein-Westfalen.
Auch in Berlin erzeugte ein – mittlerweile zurückgenommener – Plan des Senats schlechte Stimmung. Um zu verhindern, dass Schulen in Brennpunktvierteln nur Quereinsteiger:innen abbekommen, schränkte die damals SPD-geführte Bildungsverwaltung die Autonomie der Schulen ein. Das Ziel: die voll qualifizierten Lehrkräfte in der Stadt gerechter verteilen.
Unter Gesichtspunkten der Chancengerechtigkeit eine legitime, vielleicht sogar notwendige Maßnahme. Doch wie die Verwaltung die Steuerung anging, sorgte für Frust. Zum Beispiel bei Theresa Rahn. Mehrere Monate verzweifelt sie an der Bürokratie. Die Auseinandersetzung setzt ihr zu, irgendwann ist sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe“, sagt sie.
Es ist Februar, Rahn steht am Ende ihres Referendariats. In drei Monaten hat sie ihre alles entscheidende Examensprüfung. Die Fristen für die Neueinstellungen liegen in Berlin aber so, dass sich Referendar:innen schon vor ihrer Prüfung um eine Stelle für das neue Schuljahr kümmern müssen. Und da fängt Rahns Ärger an. Denn die Senatsverwaltung fordert sie in einem Schreiben auf, „unverzüglich“ Kontakt zu einer Grundschule in Neukölln aufzunehmen. Dort sei eine Stelle frei.
Rahn ist irritiert: Sie hat Lehramt für Integrierte Sekundarschule/Gymnasium studiert, also für alles ab der 7. Klasse. An die Grundschule möchte sie nicht. „Für die Grundschule und die Arbeit mit kleinen Kindern bin ich gar nicht ausgebildet.“ Rahn antwortet der Verwaltung, dass sie sich dort nicht bewerben möchte, und kümmert sich selbst um einen Schulplatz.
Ein paar Wochen später findet sie tatsächlich eine Schule, die sie anstellen möchte – an der sie auch gerne arbeiten will. Eine Integrierte Sekundarschule. In zwei Gesprächen lernt sie die Schulleitung kennen und hospitiert einige Stunden, um einen Eindruck von der Schüler:innenschaft zu gewinnen. Außerdem liegt die Schule in dem Bezirk, in dem sie lebt. „Ein perfektes Match“, findet Rahn. Die Schulleitung sieht das genauso, Rahn erhält die Zusage für eine Stelle.
Doch der Senat möchte, dass Rahn in einem anderen Bezirk arbeitet. Damit kann ihre Wunschschule sie nicht einstellen. Alle Einwände, auch vonseiten der Schulleitung, laufen ins Leere. Letztlich besetzt die Schule ihre drei offenen Stellen mit Lehrkräften, die die Schule nicht kennt. Und Rahn weiß immer noch nicht, wie es für sie nach dem Examen weitergeht.
Als sie dann im Nachrückverfahren kein Jobangebot erhält, wird Rahn langsam nervös. Es ist Ende April, sie hat immer noch keine Stelle – und muss sich voll auf das Examen konzentrieren. Rahn wendet sich an die Schulaufsicht. Dort setzt sich eine Sachbearbeiterin für eine pragmatische Lösung ein: Eine offen gebliebene Stelle an Rahns Wunschschule für das Fach Chemie wird so getauscht, dass Rahn noch die Stelle erhält, die ihr die Schule schon zwei Monate vorher geben wollte.
Inzwischen steht sie kurz vor der Verbeamtung. Studium und Referendariat haben sie ernüchtert. Als Referendarin habe sie vor allem gelernt, genau das zu erfüllen, was der jeweilige Fachseminarleiter hören möchte – auch wenn das genau das Gegenteil von dem ist, was ein anderer sagt.
Aus Rahns Sicht fehlt dringend eine verbindliche Supervision, und zwar für Referendar:innen und für Ausbilder:innen. Sie hofft zudem auf eine Enttabuisierung psychischer Selfcare. Wer sich mit seiner psychischen Gesundheit auseinandersetze, werde als potenzielles Problem behandelt. Die hohen Burn-out-Raten bei Lehrer:innen zeigten, dass die Ministerien das Problem nicht erkannt hätten. Tatsächlich geht heute jeder fünfte Ausfalltag auf psychische Erkrankungen zurück.
Nach den Sommerferien brauchen die Ministerien wieder frisches Personal – nach jetzigem Stand um die 33.000 Lehrkräfte. So viel gibt der Markt nicht her. Richard Le Déon und Paul Messall, die gerne Lehrer geworden wären, stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Le Déon sagt, wenn er es noch mal versucht, dann in seiner Heimat Frankreich. Messall sagt, er hat sich zweimal beworben und wurde nicht genommen. Jetzt laufe er dem Beruf nicht mehr hinterher. In seinem jetzigen Job fühlt er sich willkommen.s
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