Landrat will Kinder abschieben: Aus der Pflegefamilie nach Vietnam
Im Herbst 2022 tötete ein Mann seine Frau in Schleswig-Holstein. Die Kinder kamen in Pflegefamilien und sollen nun nach Vietnam abgeschoben werden.
Nachdem das Jugendamt die Angehörigen das erste Mal kontaktiert hatte, fand sich weder mütterlicher- noch väterlicherseits jemand, der die Kinder aufnehmen wollte, erzählt Matthias Steinebach der taz. Er ist derzeit der Pflegevater des dreijährigen Mädchens. Auf Drängen des Vater habe sich dessen Bruder lange Zeit später dann doch bereit erklärt. Zuerst habe er mit der Begründung abgelehnt, dass er selbst drei Kinder habe und ihm durch seinen Beruf als Lehrer so schon wenig Zeit für die Erziehung bliebe.
Laut Steinebach kennen die Kinder den Onkel nicht einmal. Der Pflegevater befürchtet nicht nur ein „kulturbedingtes Totschweigen des Traumas“, sondern sogar akute Lebensgefahr. „Schließlich ist der Vater in der Vergangenheit auch den Kindern gegenüber gewalttätig geworden“, weswegen die Mutter mehr als einmal im Frauenhaus gewesen sei.
Nachdem Van N. seine Frau in einem Streit vor den Augen der Kinder dann so sehr schlug, dass sie an inneren Blutungen starb, verurteilte das Landesgericht Lübeck ihn im Juli zu zehn Jahren Haft wegen Totschlags. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig, der Mann habe Revision eingelegt, teilte ein Gerichtssprecher der taz mit.
Landrat hält Abschiebung für ungefährlich
Sollten die Kinder tatsächlich nach Vietnam zu seiner Familie abgeschoben werden, wären sie ihm nach Ende der Haftstrafe ausgeliefert. Steinebach ist besorgt: „Ich sag mal übertrieben: Die sind jetzt schon tot.“
Der Landrat des Kreises Ostholstein, Timo Gaarz, sieht indes keine Gefährdung bei einer sogenannten Rückführung. Nach Abstimmung unter anderen mit dem Jugendamt und der Ausländerbehörde, beruft man sich auf den in Artikel sechs des Grundgesetzes festgehaltenen besonderen Schutz der Familie. „Das ist unser oberstes Gebot“, sagt die Sprecherin des Landrates der taz. „Die Entscheidung wäre bei einer deutschen Familie nicht anders ausgefallen“.
Die Sprecherin bestätigt außerdem, dass auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) eine Rückführung als unbedenklich eingestuft hat. Als Teil der Vereinten Nationen hat die IOM die Umstände in Vietnam überprüft: unter Beachtung der „sozioökonomischen Situation der Familie, den Aufnahme- und Lebensbedingungen sowie den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung“, schreibt die Organisation.
Steinebach ist überzeugt, dass das Kindeswohl dabei keine Rolle gespielt habe. „Da ist für nichts gesorgt.“ Er befürchtet, dass die Kinder eine nachhaltige Bindungsunfähigkeit entwickeln, wenn sie das zweite Mal in kürzester Zeit ihre Familie verlieren. Schon jetzt leide ihr Ziehkind unter großen Verlustängsten. „Allein wenn meine Frau auf Toilette geht, fängt sie an zu weinen. Sie nennt uns ‚Mami und Papi‘.“
Drei der Kinder kennen Vietnam gar nicht
Damit die Kinder in ihren Pflegefamilien bleiben können, hat das Paar eine Petition auf der Webseite change.org gestartet. Bis jetzt haben schon mehr als 62.000 Menschen unterzeichnet. Auf der Webseite wird betont, wie integriert die Kinder hier mittlerweile seien. Mit Ausnahme der Zwölfjährigen kennen sie weder die vietnamesische Sprache noch das Land.
Das Mädchen stammt aus der ersten Ehe des Vaters, die ebenfalls wegen dessen Gewalttätigkeit in die Brüche gegangen sei, erzählt Steinebach weiter. Da sich die leibliche Mutter nicht kümmern könne, habe sie bei ihrer Oma in Vietnam gewohnt. Nach deren Tod sei die Zwölfjährige dann ein halbes Jahr vor der Tat des Vaters nach Deutschland gekommen. Sie könne nicht zurück, weil sie dort niemanden mehr habe – so habe das Mädchen Montagabend im Sozialausschuss im Rathaus Ratekau ihre Lage erklärt, sagt der Pflegevater ihrer Halbschwester.
Derweil findet es der Landrat des Kreises Ostholstein wichtiger, dass die Kinder in ihrem kulturellen Umfeld aufwachsen. Gaarz habe schon einen Antrag zur Genehmigung der Abschiebung beim Familiengericht gestellt, schreibt seine Sprecherin.
Ein bisschen Hoffnung bleibt den Pflegefamilien aber noch: Am heutigen Mittwoch kommen sie mit den zuständigen Behörden zusammen, um den Landrat zu überzeugen, dass den Kinder nur in Deutschland eine „würdevolle Zukunft“ garantiert sei – so heißt es in der Petition.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen