Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder
Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht.
D ie Erinnerung kam vor zwei Jahren bei einer Chorfreizeit zurück. Gundula Oertel saß mit den anderen im Speisesaal der Unterkunft. Eine Mitsängerin erzählte, wie sie als Kind zur Kur war und dort gezwungen wurde aufzuessen. Egal was es gab. Wenn sie das Essen erbrach, musste sie so lange vor dem Teller sitzen bleiben, bis sie auch das Erbrochene gegessen hatte. Plötzlich war alles wieder da, sagt Oertel, die langen dunklen Tische im Speisesaal, der Teller, vor dem sie als Fünfjährige stundenlang allein hocken musste, der Geruch von Milchreis, von dem ihr bis heute schlecht wird.
Empfohlener externer Inhalt
Ein Flashback, der blitzartig Licht auf etwas warf, das sich als Bild tief in ihr Innerstes eingebrannt hatte. „Ich hatte lange keine Worte dafür“, sagt Oertel, nur diese Bilder, eher Details von Bildern, die durch das Gespräch mit der Mitsängerin hochgekommen waren. Weiße, auf einem breiten grau gekleideten Rücken gekreuzte Schürzenbänder. Bunte Sandförmchen, die ihr weggenommen wurden und die sie als Einziges in Farbe erinnert – alles andere ist „eisgrau“. „Wie habe ich es bloß geschafft, diese Erlebnisse so lange wegzudrücken?“, fragt sich Oertel.
Und wie soll man über etwas reden, woran man sich gar nicht richtig erinnert, das man am liebsten schnell wieder vergisst? Wie kommt man einer Erfahrung auf die Spur, die einen geprägt hat, ohne dass man sie genau benennen könnte? Eine Erfahrung, die mit Angst und Scham einhergeht, in nicht wenigen Fällen auch mit Traumatisierung. Trauma: Verschickungskind.
Zwischen 8 und 12 Millionen Kinder sind in der Bundesrepublik von Anfang der 1950er bis Ende der 1980er Jahre zur Kur geschickt worden. Weil sie zu blass, zu dick, zu dünn waren, weil sie Asthma hatten, Tuberkulose oder Neurodermitis. In der Regel verbrachten sie sechs Wochen, getrennt von ihrer Familie, in Kinderkurheimen und Kliniken an der Nordsee oder in den Bergen. Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.
Ich habe Gundula Oertel in den letzten Monaten bei ihrem Versuch der Aufarbeitung begleitet. Fragen, die sie sich stellt, stelle ich mir auch. Ich stelle sie mir aber erst, seitdem ich auf ihren Fall und auf das Phänomen der massenhaften Kinderverschickung aufmerksam gemacht wurde. Ihre Geschichte ist bei Weitem nicht die schrecklichste, sondern exemplarisch. Ich habe viele schreckliche Geschichten von ehemals als Kinder Verschickten kennengelernt.
Nur zwei Erinnerungen
Auch ich war ein Verschickungskind. Anders als Gundula Oertel fühle ich mich nicht traumatisiert. Zumindest bei unserer ersten Begegnung bin ich davon überzeugt. Ich habe nur zwei Erinnerungen an meinen Heimaufenthalt auf Borkum, die liegen wie Fotografien unter Glas. Sie haben mich mein Leben lang begleitet. Ich befinde mich auf der Fähre nach Borkum, mir ist schlecht, ich kotze, ich sitze auf dem Boden unter einem Tisch. Ich bin fünfeinhalb Jahre alt.
Gundula Oertel
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Eltern in Köln zum Bahnhof gebracht oder dort wieder abgeholt haben. Ich kann mich nicht an den Speisesaal oder Essensgerüche auf Borkum erinnern. Ich kann mich nicht an die Namen der anderen Kinder oder an die Betreuerinnen erinnern. Ich kann mich aber erinnern, dass ich im Freien stand, die anderen Mädchen aufgereiht mir gegenüber, vor ihnen eine Nonne, die mir befahl, vor ihren Augen in einem Eimer mit kaltem Wasser mein Bettlaken auszuwaschen. Ich hatte nachts ins Bett gekackt. Die Szene habe ich gestochen scharf in Erinnerung.
Nicht nur Bestrafung, sondern auch öffentliches Beschämen, Zurschaustellung gehören zum klassischen Instrumentarium der Schwarzen Pädagogik. Ich weiß inzwischen, dass es in den Heimen verboten war, nachts aufs Klo zu gehen. Oft waren die Schlafsäle abgeschlossen. Ich besitze vier Fotos aus unserem Familienalbum, die zeigen: Unsere Gruppe bestand aus Mädchen, es gab Betreuerinnen (vermutlich Praktikantinnen), Nonnen. Draußen Dünen, Frühjahr. Alle Mädchen tragen Jacken und die Haare kurz, reißen den Mund zum Lachen grotesk weit auf. Ich besonders. „Sabine auf Borkum 1963“ hat mein Vater notiert. Mehr habe ich nicht.
Wie viele Verschickungskinder habe ich das Problem, dass die Eltern tot sind und nicht mehr befragt werden können. „Ich werfe es ihnen nicht vor“, sagt Gundula Oertel, „dass sie mich auf Kur geschickt haben. Aber wirklich in Ordnung war es nicht.“ Der Kinderarzt hatte unseren Müttern das Zauberwort „Reizklima“ eingeflüstert, gut für Bronchien, Haut und das Immunsystem. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, mit fünf ebenfalls an die Nordsee verschickt, beschreibt ihre Ankunft in einer kleinen Erzählung, die den Titel „Fieber 17“ trägt:
„Auf der Insel lernte ich im Handumdrehen alles, was fühlen muss, wer nicht hören kann: die Ohrfeige und den Morgenappell, wie man zum Frühstück eine Tasse Salzwasser leert, wie sich ein Vorschulkind nachts durch die Betten prügelt und am Morgen danach in der Strafecke steht; dass, wer schwimmen kann, nur langsamer umkommt; dass man weder ungestraft Geschichten erfindet, noch ungestraft bei der Wahrheit bleibt: den Betrug beim Diktat von Ansichtskarten, die zu Hause den Eindruck vermitteln sollten, ich sei hier auf Urlaub und auf dem glücklichen Weg der Genesung. In Wahrheit war ich längst auf dem Weg, erwachsen zu werden, wenn ich jeden Montag von Neuem einer der Wärterinnen diktieren sollte, was sie auch ohne mein Zutun geschrieben hätte: Mir geht es gut. Und wie geht es euch?“
Prinzip der totalen Institution
Viele Verschickungskinder berichten, dass sie gezwungen wurden, ihren Familien Postkarten mit positiven Nachrichten zu schicken. „Wir waren eingekerkert in einem System, das von außen nicht zu sehen war“, sagt Gundula Oertel. Das Prinzip der totalen Institution, nennt es die Sozialforschung, die den Begriff für Gefängnisse und Psychiatrien erfand, der aber auch auf Heime zutrifft, wie die Sozialwissenschaftlerin Birgit Behrensen sagt: von außen auferlegte Regeln, ein Ort der Isolation, Entmündigung und Ohnmacht.
2019 brachte das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ einen Bericht über Verschickungskinder und -heime, der eine Lawine in Gang setzte. Im gleichen Jahr gründete sich die bundesweite Initiative Verschickungskinder, die inzwischen zahlreiche Landes- und Heimort-Gruppen hat. Auf der Webseite der Initiative können Betroffene Zeugnis ablegen von ihren Erfahrungen, über 5.000 Menschen haben bereits einen Fragebogen ausgefüllt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Oertel schloss sich in diesem Frühjahr einer Gruppe von Verschickungskindern an, die wie sie in St. Peter-Ording waren. Sie tauschten sich in Videokonferenzen aus. „Je mehr Details ich erfahre, je mehr Parallelen ich ziehen kann, desto mehr formt sich ein Bild.“ Im Juni 2021 trafen sie sich in St. Peter-Ording, spazierten gemeinsam zu den einstigen Heimorten. In welchem Heim sie untergebracht war, weiß Oertel nicht. „Ich fuhr dorthin mit der Vorstellung, vielleicht findet mein Körper das Heim.“ Sie fanden es nicht, sie und ihr Körper, zu dem sie seit Kindheitstagen ein gebrochenes Verhältnis hat.
„Ich stehe im Leben“, sagt die heute 67-Jährige, die Biologie und Germanistik studiert hat, zum BUND als Campaignerin ging und sich später als Journalistin für Ernährungs- und Umweltthemen selbssttändig machte. „Ich habe kein verpfuschtes Leben. Aber die Beschäftigung mit diesem Thema fängt an, ein Licht auf Dinge zu werfen, die ich mir nie erklären konnte.“ Stereotype Albträume, Mobbing in der Schule, Vertrauensverlust in menschlichen Beziehungen. Eine Gesprächstherapie konnte „die Dämonen bändigen“, weg sind sie nicht. „Ich würde das gerne unterscheiden“, sagt Oertel. „Was sind meine persönlichen Macken, wie sie jeder hat, und was ist konkret auf die Kinderverschickung zurückzuführen?“
Themen, die Oertel und ich bei unseren Treffen immer wieder diskutieren: Was gehört zur individuellen Veranlagung, was sind später erworbene psychische Schwierigkeiten? Wie unterscheidet sich Erinnerung von Trauma? Warum sage ich, ich fühle mich nicht traumatisiert, sie dagegen schon?
Es reicht ein Blick auf die Seite der Initiative Verschickungskinder, um zu sehen, dieser Eingriff in kindliche Leben hat großes Leid zugefügt. Fast alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.
Viele Kinder haben geschwiegen, sind dort verstummt. Das Wort „Verstummung“ bringt bei mir etwas zum Klingen.
Es gibt Menschen, die ihre Zeit im Kinderkurheim gut oder zumindest nicht brutal erinnern. Doch es reicht zu sehen, dass andere bis heute unter den Folgen leiden. Weit über tausend Heime hat es in der Bundesrepublik in der Hochzeit gegeben, etwa die Hälfte in privater Hand. An manchen Orten, auf Borkum zum Beispiel, waren es 30. Viel für eine kleine Insel.
Anja Röhl nennt es eine „Kinderverschickungsindustrie“. Industrie, weil ein System dahinterstand, das ineinandergriff. Industrie, weil Millionen von Kindern betroffen waren. Und weil Menschen und Einrichtungen damit viel Geld verdient haben.
Ich besuche Anja Röhl im Sommer in Fürstenwalde bei Berlin. Wir sitzen in ihrem Garten am Stadtrand, die Zucchini in ihrem Gemüsebeet gedeihen üppig, die eingefrorene Torte ist noch nicht ganz aufgetaut. Röhl, Jahrgang 1955, Tochter des gerade verstorbenen Publizisten Klaus Rainer Röhl und Stieftochter von Ulrike Meinhof, zweimal verschickt, hat im Frühjahr ihr erstes Buch zum Thema veröffentlicht, das Grundlagenforschung betreibt. Im Herbst wird das zweite Buch erscheinen, das Lebensgeschichten von Verschickungskindern protokolliert.
Täglich Dutzende neue Mails von Betroffenen
Die Sozial- und Heilpädagogin mit den langen grauen Haaren, die sie mit einem Band aus dem Gesicht fernhält, ist zur Aktivistin geworden. Sie war es auch, die die Initiative Verschickungskinder gegründet hat. Täglich treffen Dutzende neuer E-Mails von Betroffenen ein, die auf Antwort hoffen.
Was ist Verschickung?
„Das sind Institutionen, die sich Kindertagesstätte, Kinderheim, Kindererholungsheim, Kinderkurheim oder Kindersanatorium nannten. Allen gemeinsam ist, dass sie bis zu Sechs-Wochen-Kuren durchgeführt haben, mit Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr, die allein dorthin verschickt wurden. Es war immer ein Arzt im Haus oder dem Haus angliedert. Es gab immer eine ärztliche Diagnose und sie wurde oftmals vom Gesundheitsamt verfügt.“ Die Kosten dafür trug die gesetzliche Krankenversicherung oder die Rentenversicherung, die zum Ausgleich Steuergelder bekamen. Die sogenannten Entsendestellen waren vertraglich an die Heime gebunden und verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Anzahl an Kindern aufzunehmen. Die Aufsicht über die Einrichtungen oblag normalerweise den Landesjugendämtern.
Bei ihren Recherchen fiel Röhl jedoch auf, dass viele Kinderkurheime sehr darum bemüht waren, als „medizinisch-pflegerische Einrichtungen“ anerkannt zu werden, weil die Jugendämter dann nicht mehr zuständig für sie waren. Die lokalen Behörden schalteten sich selten ein – zumal die Kurkliniken ein wirtschaftlicher Faktor für die kleinen Nordseeinseln oder Luftkurorte darstellten. „In der Kinderheilkunde und Kinderkrankenpflege von damals muss sich etwas Unzeitgemäßes festgesetzt haben“, sagt Röhl, „abgekoppelt von der pädagogischen Entwicklung der Zeit. Etwas, das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus und davor herrührte.“
Auch die Nationalsozialisten praktizierten, solange es der Krieg zuließ, Kinderlandverschickung. Sie reaktivierten Erziehungsmethoden, die mit viel Gefühlskälte auf Drill und Leistung setzten und eine lange Tradition hatten. Protestantische Ethik, katholische Doppelmoral. Man denke nur an den Film von Michael Haneke „Das weiße Band“, der noch im deutschen Kaiserreich spielt.
Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen
„Wir haben ganz viele Hinweise auf NS-ähnliche Nachinszenierungen“, stellt Röhl fest. „Manchen Kindern wurden am ersten Tag die Haare geschoren, woanders war es üblich, der ganzen Gruppe auf einmal die Mandeln herauszunehmen. Manchen wurde eine Nummer auf den Unterarm geschrieben, manche wurden die ganze Zeit mit einer Nummer angesprochen. Es ist gruselig.“
Anja Röhl
Röhl will das Argument, in den 50er und 60er Jahren seien härtere Erziehungsmethoden gängig gewesen, nicht gelten lassen. „Das geht teilweise weit über schwarze Pädagogik hinaus.“ Sie sieht inhaltliche und personelle Kontinuitäten, die in die NS-Zeit zurückreichen und sich in den wenig kontrollierten und oft isolierten Kinderkurheimen eine Nische und einträgliche Existenz schufen.
Die Ämter wurden oft erst aufmerksam, wenn jemand zu Tode kam. In acht Akten fand Röhl fünf ungeklärte Todesfälle. Sie wurden untersucht, aber niemand zur Rechenschaft gezogen. Die Diakonie Niedersachsen, die eine unabhängige Studie in Auftrag geben hat, hat in Obduktionsberichten zu Todesfällen in ihren Heimen Angaben zu einer möglichen „Erstickung durch Speisebreieinatmung“ gefunden. Die Staatsanwaltschaft, die diese Fälle untersucht hat, sah dennoch andere Gründe als todesursächlich an und schloss die Akten. So gesehen ist der Teller mit dem Milchreis, vor dem Gundula Oertel stundenlang sitzen musste, vielleicht doch nicht harmlos.
Ich bin 1963 auf Borkum gewesen, ich vermute nach einer Hepatitis. Bis vor Kurzem wusste ich nicht, in welchem Heim. Ich beschließe, mit Gundula Oertel gemeinsam nach Borkum zu fahren, wo im November ein Kongress der Initiative Verschickungskinder stattfindet. Was erwartet sie vom Kongress? Zwei Punkte hat sie. Einen persönlichen: „Ich möchte gern wissen, wie frühkindliche Traumatisierung geschieht, welche Langzeitfolgen sie hat.“ Einen allgemeinen: „Welche Systematik steckt hinter der Kinderverschickung, und wie konnte es geschehen, dass die Würde von Kindern so eklatant verletzt wurde?“
Ich stehe davor – und fühle nichts
Etwa 80 ehemalige Verschickungskinder sind zum Kongress gekommen, alle mit einer individuellen Geschichte. Es gibt Lesungen, wissenschaftlichen Input, Arbeitsgruppen. Silke Ottersberg, eine der Koordinatorinnen, hilft mir anhand meiner Fotos, das Heim zu identifizieren, in das ich als kleines Mädchen verschickt wurde. Es ist das Kinderkurheim Sancta Maria, das heute eine Mutter-Kind-Klinik ist. Ich stehe davor – und fühle nichts.
Ich bin erstaunt, dass die Klinik unmittelbar an ein Wohngebiet angrenzt. Ich hatte mir die Lage isolierter vorgestellt. In der Borkumer Kulturinsel, wo der Kongress auf Einladung des Bürgermeisters stattfinden kann, gibt es eine kleine Ausstellung im Foyer, die Informationen zu den einzelnen Heimen zusammengetragen hat. Zu Sancta Maria hat jemand ein Aktenzeichen notiert. 1953 sind dort zwei Mädchen verstorben.
Aber wo fängt man mit der Suche an, wenn einem beim Kongress in Bezug auf den eigenen Aufenthaltsort keiner weiterhelfen kann? Gundula Oertel, von Berlin aus nach St. Peter-Ording verschickt, hat bei der Berliner AOK nachgefragt – keine Antwort. Ich hake nach – keine Antwort. Könnten Akten zur Kinderverschickung im Landesarchiv Berlin gelandet sein? Oertel hat einen Platz im Lesesaal beantragt. Sechs Wochen Wartezeit derzeit, nur zehn Akten auf einmal. Vieles ist noch nicht digitalisiert. Sie beginnt mit den Jahren ab 1945.
Oertel stößt auf ein Schreiben von 1949 an alle Berliner Schulen, in dem darum gebeten wird, „erholungsbedürftige Kinder“ zu entsenden. Sie findet die Kostenaufstellung für ein vom Hilfswerk Berlin betriebenes Heim in St. Peter-Ording, 1949. Sie stellt fest, dass zigtausende Kinder aus Westberlin zur Erholung ausgeflogen worden sind. „Alles lose Fäden“, sagt sie. Oertel hat erneut Archiveinsicht beantragt, der Archivleiter eine lange Fundliste geschickt. Mut hat man ihr dort dennoch nicht gemacht.
Anders als Gundula Oertel weiß ich, in welchem Heim ich war. Geleitet wird es noch immer von den Franziskanerinnen vom Heiligen Märtyrer Georg zu Thuine im Emsland, Niedersachsen. Schwester Maria Cordis Reiker ist Generaloberin und telefonisch zu erreichen. Sie wirkt ernsthaft bekümmert und mauert doch. Der Orden habe eine Dokumentation bei einer unabhängigen Historikerin in Auftrag gegeben, nachdem sich einzelne Verschickungskinder gemeldet hätten. Sie soll Anfang 2022 erscheinen, mehr will sie vorab nicht sagen.
Ob sie Kenntnis von den 1953 in Sancta Maria gestorbenen Mädchen hat?, frage ich mich und beschließe, der Sache selbst nachzugehen. Bei der Suche im Archivinformationssystem stoße ich auf kurze Inhaltsangaben der Archivare: „Personalsachen; Bericht und Zeitungsausschnitt zum Tod der 12-jährigen Margret aus Ochtrup und der 14-jährigen Carola aus Dortmund beim Baden (1953); Druckschrift: Flyer mit Fotos des Heimes und des Heimlebens; Grundriss; Postkarte; Beschwerdebrief einer Mutter über Gewalt an ihren Söhnen 1970; darauf basierend ein Zeitungsausschnitt zu einer gewalttätigen und die Post zensierenden Ordensschwester im Heim 1970.“
Allein diese Notizen belegen, dass zwischen 1953 und 1970 im Kinderkurheim Sancta Maria Vernachlässigung und Repression dazu gehörten. Zumal es Berichte aus anderen Heimen darüber gibt, dass Kinder, die nicht schwimmen konnten, zum Baden im Meer gezwungen wurden.
Ab Anfang der 80er Jahre änderte sich die Gesetzgebung, Heime mussten zumachen, weil Diagnosen nicht mehr so leichtfertig erteilt wurden. Ihre Leitungen schrieben Bettelbriefe an Kommunen, Träger, Ämter, ihnen bitte Kinder zu überweisen, sagt Röhl. Die verbliebenen Heime haben sich in Mutter-Kind-Kurkliniken verwandelt. In der Inselbahn von Borkum-Hafen nach Borkum-Ort sitzt uns eine Mutter mit ihrer Tochter gegenüber. Das Mädchen ist fröhlich, ihr Koffer eine Sensation: ein Londoner Bus, auf dem sie wie auf einem Bobbycar fahren kann. Ab dem Moment, als die Mütter mit ihren Kindern zur Kur fuhren, änderte sich die Atmosphäre in den Kurheimen. Plötzlich waren da Angehörige, die aufpassten, Ärger machen konnten.
Bei dem Kongress auf Borkum sehe ich Tränen fließen. Ich lerne Menschen kennen, die eine Traumatherapie machen, aber auch andere. Jörn, der manisch-depressiv ist und sein Leben lang falsch therapiert worden ist. Friedhelm, der ein Bild mitbringt, das er vor Kurzem von seinem Jahrzehnte zurückliegenden Aufenthalt in Sancta Maria gemalt hat: schwarze gesichtslose Gestalten, der Nonnenhabit, säumen den Weg zum Strand, den wir Kinder in Zweierreihen marschieren mussten. Regina, die weggesperrt wurde und der man zu Hause nicht geglaubt hat. Stefan, den seine Eltern nicht wiedererkannten. Silke, die mit dem Gehstock der „Tante“ verprügelt wurde.
Gundula Oertel reichte es irgendwann nicht mehr, ihrer persönlichen Geschichte hinterher zu recherchieren, auch wenn sie damit noch lange nicht abgeschlossen hat. Sie engagiert sich jetzt in der Berliner Aktivengruppe der Initiative Verschickungskinder, wo es um Strukturen, Sichtbarkeit, die politische Ebene geht. Im Zug sagt sie: „Alle sind wir von der Verschickung betroffen, aber unterschiedlich intensiv. Doch jetzt verschiedene Betroffenheiten gegeneinander aufzurechnen, führt nur dazu, die schwerwiegenden Fälle wie Einzelfälle erscheinen zu lassen. Was uns alle eint, ist doch, dass wir dem Risiko ausgesetzt waren.“
Marie Luise Schreiter, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Uni Tübingen, beim Kongress live zugeschaltet, unterscheidet zwischen dem plötzlichen „Schocktrauma“ und dem „Entwicklungstrauma“, das sich über einen längeren Zeitraum in der Kindheit bildet. Bei Kindern sei das Gehirn noch sehr formbar, und traumatische Erlebnisse könnten sowohl die Entwicklung kognitiver als auch die emotionaler Verarbeitungsprozesse im Gehirn beeinträchtigen. Normalerweise stehen diese Prozesse in sensibler Balance, aber wenn das junge Gehirn in emotionalen Stress gerät, werden Botenstoffe ausgeschüttet, die zu langfristigen Veränderungen führen können. Zu Angstzuständen, Blockaden, Konzentrationsproblemen oder Depressionen. Jeder kennt es: Kein klares Denken ist mehr möglich, die Emotionen bestimmen das Verhalten, oder es herrscht Schreckensstarre. Werden die zugrunde liegenden traumatischen Erlebnisse später getriggert, kann dies das Gehirn in den gleichen physiologischen Zustand versetzen wie damals. Das Gehirn vermag dies nicht zu kontrollieren. Es muss lernen zu differenzieren.
In einer speziellen Therapie können Menschen lernen, die physiologischen Signale unter Kontrolle zu bringen. Die herkömmlichen Therapieformen seien dafür allerdings teils unzureichend oder ihre Konzepte veraltet, sagt die Tübinger Neurowissenschaftlerin eine Woche später am Telefon. Schreiters Abteilung wird den Fragebogen der Initiative auswerten, den das Berliner Nexus Institut in Zusammenarbeit mit Anja Röhl konzipiert hat. Von den 5.000 Mitmachenden haben sich 2.500 zu weiteren Untersuchungen bereit erklärt.
Schreiter begrüßt, dass der Koalitionsvertrag der neuen Regierung auch Bürgerforschung gezielt zu fördern verspricht. Bei der Bürgerforschung – auch Citizen Science genannt – nehmen Betroffene die Forschung selbst in die Hand, indem sie, unterstützt von wissenschaftlichen Einrichtungen, selber Daten sammeln und ihre eigene Expertise einbringen. Dies war auch eine wesentliche Forderung der Initiative, verschiedene Institute haben bereits mit Forschungsvorhaben angedockt, eine Studie zu Medikamentenmissbrauch ist in Arbeit.
Ich frage Marie Luise Schreiter: Haben wir nicht alle unser Trauma? Wird der Begriff zu verschwenderisch benutzt?
„Als Faustregel gilt“, sagt sie, „wenn Leidensdruck da ist, der durch hochemotionale Erinnerungen entstanden ist, kann man von Traumatisierung sprechen. Diese können, müssen aber nicht in der Kindheit oder durch ein einziges Erlebnis ausgelöst worden sein.“
„Natürlich ist es so“, sagt Anja Röhl, „dass wir alle mit bestimmten Traumamischungen leben lernen müssen. Die Kinderverschickung ist dabei manchmal eine ungute Grundierung im Leben, weil sie schon sehr früh erfolgt ist.“
Entscheidend ist, sagt eine befreundete Psychologin, dass sich Erlebnisse zu einer traumatischen Erfahrung verdichten, wenn sie nicht mitgeteilt werden können, wenn man damit allein bleibt. Weil Eltern ihren Kindern nicht glaubten oder Kinder sich ihren Eltern nicht anvertrauten.
Ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Eltern nicht über das eingekackte Bettlaken gesprochen habe. Nicht über die Scham, öffentlich vorgeführt worden zu sein. Fällt es mir deswegen schwer, für mich einzutreten, vor anderen zu sprechen?
„Meine Erinnerung ist körperlos“, sagt Gundula Oertel. „Ich habe nur den Gefühlsgehalt der Bilder, an die ich mich erinnere, im Kopf. Ich war distanziert, vielleicht sogar sediert.“ Anders als Erinnerungen haben Traumata kein Narrativ. Sie ändern, sie verformen sich nicht.
Bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele
Sie bleiben bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele liegen. „Es ist ein schwarzes Loch“, sagt ein Kongressteilnehmer. „Das verunsichert, weil man nicht weiß: Welche Programmierung habe ich damals bekommen, die ich nicht kenne?“
Der Kongress beschließt eine Resolution, die auf die Webseite der Initiative wandert. Gundula Oertel versucht, eine Formulierung einzubringen, die mehr auf das Politische, die Gemeinsamkeiten aller Verschickungskinder hinweist. „Spätestens, sobald Entschädigung gefordert wird, erweist sich die Verengung auf individuelle Schicksale als schwieriges Terrain.“
In Berlin verabredet sie sich mit dem 72-jährigen Historiker Karl Pechatscheck und anderen ihrer Ortsgruppe zum Videogespräch. Pechatscheck hat ein internes Papier verfasst, Oertel hat es aufgegriffen und weitergeschrieben. Dem Historiker liegt daran, die Kinderrechte allgemein in den Fokus zu stellen, nach vorne und nicht zurück zu blicken. Oertel hingegen will den eigentlichen Skandal aufarbeiten, der hinter dem System Kinderlandverschickung stand.
Auf Landesebene hat sich etwas getan. In Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein hat es Anhörungen im Landtag gegeben. Baden-Württemberg hat einen runden Tisch eingerichtet, Nordrhein-Westfalen hat am 30. November einen solchen beschlossen.
In zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch
Auf Bundesebene geht es langsamer. Dort fand zwischen der Initiative und den zuständigen Ministerien in zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch statt. Die angekündigte Fortsetzung des „Fachaustauschs“ sei „bislang nicht möglich gewesen“, schreibt ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums auf Anfrage der taz, „da sich die Bundesregierung im Sommer intensiv den gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona gewidmet hat und derzeit die Regierungsneubildung ansteht“. Immerhin wollte der SPD-Bundesparteitag am vergangenen Wochenende über einen Antrag zur Aufarbeitung der Kinderverschickung abstimmen.
Die Initiative hat einen Forschungsverein gegründet, Vorsitzende ist Anja Röhl. „Wir streben kollektive Wiedergutmachung an“, sagt sie, „in Form von Beratungsstellen und Unterstützungsangeboten bei der Heimort-Recherche und Bürgerforschung. Wir brauchen runde Tische, individuelle Entschädigungen sind nicht unser vordringlichstes Thema. Wer will 12 Millionen entschädigen? Wir wollen einen Skandal aufklären!“
Auch Gundula Oertel erwartet kein Geld, sondern wünscht sich tatkräftige Unterstützung auf allen Ebenen. „Menschen haben keinen Wert, sie haben Würde“, sagt sie, ein Zitat von Immanuel Kant.
Und Kinder haben Rechte. Auch diejenigen, die mal Kinder waren. Und das Kind, das ich mal war, sagt mir, dass ich vielleicht mit einer anderen Traumamischung zu tun habe, als ich bisher dachte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos