Kritik an Alexei Nawalny: Eine Projektionsfläche
Wer ist Alexei Nawalny? Ein Blogger? Ein Politiker? In Deutschland wie in Russland ist man sich uneins. Ein Annäherungsversuch.
Im Staatsfernsehen poltert der Scharfmacher Dmitri Kisseljow, Generaldirektor des Medienstaatsunternehmens „Rossija segodnja“, über Nawalny als „Politiker vom Niveau einer Klobürste“ und beschuldigt ihn, ein „politischer Pädophiler“ zu sein, weil dieser ja so viele Jugendliche in die Politik ziehe. Der Kreml gibt ohnehin stets vor, Nawalny sei ein „Niemand“, und widmet diesem „Niemand“ doch immer wieder etliche Zeit, um umständlich darauf zu verweisen, alles, was Nawalny über die russische Elite enthülle, sei falsch. Im Westen sehen viele in Nawalny den Superdemokraten oder einen Rassisten. Wer ist der Mann, in dem nicht nur ein Entweder-oder steckt, sondern ein Sowohl-als-auch?
Der Sohn eines Militärs – er war 15, als die Sowjetunion zugrunde ging – ist vor allem ein Suchender. Seine politische Karriere begann Nawalny in liberalen Kreisen bei der linksliberalen Partei „Jabloko“. Nachdem er sich nationalistischen Ideen zugewandt hatte – weil diese im Land durchaus allgegenwärtig sind –, schmiss ihn die Jabloko-Führung wieder raus. Vor einem Jahrzehnt marschierte er bei den sogenannten Russischen Märschen mit, bezeichnete Kaukasier als „Kakerlaken“, nannte Zentralasiaten „Kriminelle“. Bis heute hat er sich für solche Auftritte nicht entschuldigt. Von den Positionen ist er allerdings längst abgerückt, sein Programm ist eher konservativ geprägt. Die früheren rassistischen Äußerungen halten ihm vor allem die moskautreuen linken Kreise immer wieder vor und scheinen dabei auszublenden, wie sehr auch der Kreml mit rechtsradikalen Politikern kooperiert.
Schon früh setzt Nawalny aufs Internet, macht die grassierende Korruption im Land zu seinem Thema. Bis heute drehen sich seine Enthüllungen, ein gut gemachtes Stück Infotainment, um die sich bereichernde Elite des Landes. Er legt Korruptionsschemata vor, anhand deren das Regime Reichtümer anhäuft, lässt sie mit schnellen Schnitten und bunten Grafiken untermalen, trifft damit den ironischen Ton in den sozialen Medien.
Alternativloses System
Er ist längst sein eigenes Leitmedium, Journalist*innen hält er oft für überflüssig und zeigt ihnen gern seine Verachtung. Lieber sucht er die direkte Ansprache. Auch als Politiker. In einem Land, in dem Minister, Senatoren oder Bürgermeister darauf beharren, keine politische Tätigkeit auszuüben, macht Nawalny genau das: Politik, auch wenn er nach zwei Vorstrafen in politisch motivierten Verfahren von allen politischen Ämtern ausgeschlossen ist.
Er sucht die Nähe zu den Menschen, mit sehr begrenzten Mitteln auch aus der Haft heraus. In einem System, das keine Alternative vorsieht, will er genau diese Alternative sein. Unfreiwillig macht ihn der Kreml selbst zu solch einer Alternative, mag er Nawalny noch so stark verleugnen.
Die Bewunderung der Menschen für Nawalnys Mut, nach dem überlebten Giftanschlag auf ihn in das Land des Mordanschlags, wie er sagt, zurückgekehrt zu sein, in sein Land, bringt ihm auch Sympathien von denen ein, die mit dem sperrigen Menschen Nawalny bislang wenig anfangen konnten. Der Oppositionspolitiker hat sich für seine Überzeugung entschieden, allen Gefahren zum Trotz Politik in Russland zu machen. Das imponiert vielen im Land – und auch außerhalb dieses Landes –, mögen sie ihn auch für rechthaberisch, arrogant, polemisch halten.
Selbst aus seiner Einzelzelle in der Moskauer „Matrosenstille“ heraus arbeitet er weiter am Kontrollverlust der „Macht“. Ein Albtraum für die Präsidialverwaltung, die aus der Vergangenheit eigentlich wissen müsste: Je öfter Nawalny in Arrestzellen verbrachte, desto größer wurde seine Popularität. Eine Popularität, die freilich auf Populismus basiert. Nawalny nimmt oft Ansichten an, die ihm die meiste Unterstützung garantieren. Deshalb finden viele in ihm das, was sie für sich selbst suchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen