Krawalle in Stuttgart und Frankfurt: „Deutsch“ in Gänsefüßchen

Die Stuttgarter Polizei erforschte den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen. Präventions- und Integrationsarbeit sieht anders aus.

Polizisten patrouillieren über den Schlossplatz.

Polizisten patrouillieren über den Schlossplatz nach den Krawallen in Stuttgart Foto: Christoph Schmidt/dpa

Im Nachgang der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vom 20. auf den 21. Juni, bei der nach Drogenkontrollen durch die Polizei Hunderte Menschen in der Stuttgarter Innenstadt randalierten, wurde neben der Staatsangehörigkeit auch der Migrationshintergrund der momentan 44 Tatverdächtigen ermittelt. Dieser liegt laut deutschem Statistischem Bundesamt dann vor, wenn die Person selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.

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Die Stadt Stuttgart hat einen Migrationsanteil von 45 Prozent – deutschlandweit hat jede vierte Person Migrationshintergrund. Wie könnte bei diesen Zahlen der Migrationshintergrund überhaupt relevant sein? Zwei Drittel der Tatverdächtigen sind Jugendliche und Heranwachsende.

Bei ihnen greift bezüglich des Umfangs polizeilicher Ermittlungen Paragraf 43 des Jugendgerichtsgesetzes, demnach „die Lebens- und Familienverhältnisse“ sowie das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle Umstände, „die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können“. Dazu gehört auch der Migra­tionshintergrund. Der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz will sich jedoch den Versuch einer „soziologischen Zuordnung“ der Tatverdächtigen ersparen.

Welches Interesse hat die Polizei dann an der Herkunft der Eltern? Lutz kommentiert die Video- und Tonaufnahmen der Nacht so: „[S]chwäbisch hören Sie da wenig, um es mal einfach so zu formulieren.“ Wenn Dialektkompetenz aber nicht soziologisch als Marker des sozialen Milieus einer Person verstanden wird, dann muss angenommen werden, dass Lutz „Schwäbisch-Reden“ mit „deutsch sein“ oder zumindest mit „erfolgreich integriert sein“ gleichsetzt.

Sein Kommentar sagt vor allem etwas über ihn selbst aus, als jemand, der von „den unterschiedlichen Personengruppen“, die in seiner Stadt und den umliegenden Landkreisen leben, überfordert ist. Lutz berichtet, dass landesweit Anfragen laufen, da bei einigen der Tatverdächtigen der Migrationshintergrund „noch nicht gesichert“ sei. Es stellt sich die Frage, ob eine derartige Ermittlung verhältnismäßig ist.

Wenn der Eindruck entsteht, dass dem Migrationshintergrund ein besonderes oder isoliertes Interesse entgegengebracht wird, so ist nachvollziehbar, warum in den Medien seither über „Stammbaumforschung“ debattiert und der Polizei struktureller Rassismus vorgeworfen wird, auch wenn die Ermittlung ja erst im Nachgang der Tat erfolgte.

JedeR vierte Deutsche hat einen Migrationshintergrund

Das prinzipiell zulässige Abfragen der elterlichen Herkunft wird so in einen Zusammenhang mit straffälligem Verhalten gestellt und spielt in erster Linie populistischen Parteien in die Hände. Die Nationalität der Eltern werde „auch bei ‚deutschen‘ jugendlichen Tatverdächtigen geprüft“ heißt es in einer Twitter-Nachricht der Polizei Stuttgart vom 12. Juli. Die Anführungszeichen des Tweets sind irritierend, denn wenn es deutsche Tatverdächtige mit Anführungszeichen gibt, dann muss es auch solche ohne geben.

Politiker, deren Eltern selbst nach Deutschland migrierten, wie der Stuttgarter Stadtrat und Konstanzer Bürgermeisterkandidat, Luigi Pantisano, zeigen sich entsetzt darüber, dass sie trotz ihres deutschen Passes weiterhin nur „‚Deutsche‘ in Anführungszeichen“ sein sollen. Polizei und Regierung rechtfertigen das Abfragen der „Hintergründe“ der „jungen Männer“ im Hinblick auf notwendige Präventions- und Integrationsmaßnahmen:

Das Abfragen der elterlichen Herkunft spielt in erster Linie populistischen Parteien in die Hände

„Straftaten verhindern, bevor sie entstehen“ sei das Ziel, so Ministerpräsident Kretschmann in einer Rede am 14. Juli. Allerdings soll dies „ohne Ansehen der Person“ geschehen. Doch was für ein Verständnis von Prävention steht hinter einer rein statistischen Erhebung, die gar nicht auf den einzelnen Jugendlichen abzielt? Welche Präventionsmaßnahmen folgen hieraus? Polizeipräsident Lutz bringt die Installation von Videokameras sowie ein Alkoholkonsumverbot im öffentlichen Raum ins Spiel.

Die gleichen ­Maßnahmen werden in Frankfurt diskutiert, nachdem es am vergangenen Sonntag dort zu Ausschreitungen gekommen war. Wenn der ­Präventionsgedanke sich allerdings in zunehmender Überwachung und der Einschränkung von ­Rechten erschöpft, dann ist es um ihn nicht ­besser bestellt als um den Integrationsgedanken, bei dem bisher auch davon ausgegangen wird, dass es die „Anderen“ sind, die sich anzupassen haben.

Solange die Unterscheidung ­zwischen Deutschen mit und Deutschen ohne Anführungszeichen fortbesteht, kann Integration gar nicht gelingen. Präventions- und Integrationsarbeit muss auch in den politischen Institutionen selbst stattfinden. Das Gewaltmonopol eines demokratischen ­Staates kann nur dann nach­haltig von allen respektiert werden, wenn Prävention und Integration mehr sind als Kontrollinstrumente des Staates.

Integration statt Überwachung und Verbote

In Stuttgart wie in Frankfurt wurde die „Event- und Partyszene“ verantwortlich gemacht, deren Anhänger sich gegen die Polizei „solidarisiert“ hätten. Sich solidarisieren ist auch unter dem Eindruck globaler Verschiebungen jedoch eine politische Handlung par excellence, auch wenn sie nicht friedlich, sondern mit Gewalt einhergeht.

Damit Städte öffentliche Räume bleiben, in ­denen letztendlich ohne Anwendung von Gewalt und Zwang „die Freiheit in Erscheinung treten kann“, wie Hannah Arendt es formulierte, bedarf es mehr als staatlicher Überwachung und Verbote.

Körperverletzung und Sachbeschädigung gehören sanktioniert, aber staatliche Institutionen täten gut daran, Präventivmaßnahmen und Integrationsarbeit auch im Hinblick auf ihre eigenen Klassifikationen und Praktiken zu etablieren; angefangen bei der Verwendung von Anführungszeichen über einen selbstkritischen Blick, warum sich das Bild der Polizei in Deutschland in den letzten Jahren gewandelt hat, bis hin zur Anerkennung, dass Politik gerade im öffentlichen Raum der Straße gemacht wird.

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ist Professorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt politische Anthropologie an der Universität Konstanz. Sie arbeitet zu ethno-religiösen Minderheiten, Aktivismus, Staatenlosigkeit und Rechtspluralismus in Zentral- und Südostasien und zunehmend in Europa.

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