Konsequenzen im Fall Nawalny: Unschuldsvermutung mit Grenzen
Der Mordversuch am Oppositionellen Nawalny könnte unaufgeklärt bleiben. Dennoch verdient Russland Strafe – denn dem Kreml ist egal, wer ihn vergiftet hat.
H och im Kurs steht die Unschuldsvermutung. Wer Konsequenzen für Russland im Fall Nawalny ablehnt, argumentiert in diesen Tagen bevorzugt mit den Grundsätzen des Rechtsstaats. Erst mal abwarten, wer den Oppositionellen denn zu ermorden versucht hat, meint beispielsweise Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch. „Für viele steht fest, was passiert ist, für mich nicht“, sagte er.
Erst ermitteln, dann bestrafen: An diesem Anspruch ist natürlich etwas dran. Die Reihenfolge entspricht nicht nur dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden. Sie kann auch noch juristisch relevant werden, wenn sich die Betroffenen etwaiger Sanktionen vor Gericht gegen ihre Bestrafung wehren.
Einen entscheidenden Punkt blenden Bartsch und Co allerdings aus. Die Unschuldsvermutung funktioniert nur unter der Maßgabe, dass sich der Staat ernsthaft darum bemüht herauszufinden, wer für ein Verbrechen verantwortlich ist. Für Mordermittlungen im sibirischen Omsk ist aber nicht das Polizeipräsidium Berlin zuständig, sondern der russische Staat.
Und dieser Staat, der eben kein Rechtsstaat ist, wird diese Aufklärungsarbeit nicht leisten. Das lehrt die Erfahrung aus früheren Fällen, und das haben russische Offizielle mit ihrem demonstrativen Desinteresse am Fall Nawalny auch diesmal wieder klargemacht.
Die Täter*innen werden also unbekannt bleiben. Das ist schwer erträglich, geht es doch mutmaßlich um einen Mordversuch unter Anwendung einer international geächteten Chemiewaffe. Der Ausweg aus dem Dilemma: Nicht der Attentäter selbst wird bestraft, sondern diejenigen, die sich nicht darum kümmern, ihn zu ermitteln. Der russische Staat muss nicht dafür Konsequenzen spüren, dass er Nawalny töten wollte. Er muss dafür Konsequenzen spüren, dass ihm egal ist, wer Nawalny töten wollte.
Zweite Untersuchung wäre hilfreich
Und die Bundesregierung? Sie darf dem Kreml keine Gelegenheit bieten, von der eigenen Untätigkeit abzulenken. Seit zwei Wochen wartet die russische Staatsanwaltschaft auf die Antwort auf ihr Rechtshilfeersuchen an die Bundesrepublik. Das ist für solche Ersuchen vielleicht kein ungewöhnlich langer Zeitraum.
Der Fall Nawalny ist aber auch kein gewöhnlicher Kriminalfall. Mit den eigenen Erkenntnissen so schnell wie möglich so transparent wie möglich umgehen: Damit könnte Berlin der russischen Regierung den Wind aus den Segeln nehmen. Helfen würde es auch, die Nawalny-Proben von zweiter Stelle auf Nowitschok untersuchen zu lassen. Nicht vom russischen Staat, sondern von der zuständigen Anti-Chemiewaffen-Organisation OVCW. Und nicht erst nächste Woche, sondern am besten schon heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen