Kommentar Identität und Integration: Die Özil-Debatte ist eine Neiddebatte

Özil selbst sagt, er habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. Das ist eindeutig zuviel des Guten. Denn Deutschsein ist zeitaufwendig.

Mesut Özil vor einer riesigen Deuschlandfahne

Mesut Özil nach seinem Tor gegen die türkische Fußballmannschaft im Jahr 2010 Foto: dpa

Mal wieder richtet sich der Zorn gegen diejenigen unter uns, die mehr haben. Der Neid wächst, und das ist kein Wunder bei dieser Ungleichheit: In diesem Land leben Personen, die sind afrodeutsch, turkodeutsch, italodeutsch, asisatisch-deutsch oder sonst wie mehr-als-deutsch. Andere dagegen sind nur-deutsch und haben sonst nichts. Das ist nicht fair, denn schließlich können sie nichts dafür, dass ihre Vorfahren sich nur mit anderen Deutschen gepaart haben.

Während ich meine Weihnachtsferien bei Oma unter Palmen verbringen durfte, saßen meine Klas­sen­ka­me­ra­d*in­nen bei den Großeltern im nordhessischen Schneeregen fest. Während Herr Özil sich entscheiden durfte, für welche Nationalmannschaft er spielen will, wurde den meisten Nur-Deutschen kein einziges Trikot angeboten. Das schmerzt. Und so blicken sie voller Missgunst auf die, die mehr haben: zwei Sprachen, zwei Pässe oder gar zwei Heimaten.

Die Özil-Debatte ist eine Neiddebatte. Er selbst hat zugegeben, Familie in mehr als einem Land zu haben und dazu noch „zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches“. Das ist eindeutig zu viel des Guten. Zwei Herzen! Das heißt im Grunde doppeltes Leben. Wer damit gesegnet ist und obendrein noch einen Weltmeistertitel und einige Millionen auf dem Konto hat, der soll dankbar sein und den Mund halten. Freundlichkeit, Respekt und Anerkennung kann so einer nicht auch noch verlangen. Er soll gefälligst Leistung zeigen; wer sich darüber beschwert, ist ein Jammerlappen. Jede Benachteiligung, die ihm widerfährt, ist doch im Grunde nur ein gerechter Ausgleich.

Der Rassismus, den viele Mehr-Als-Deutsche derzeit wieder erleben, ist eine besonders destruktive Form des Neids, denn er versucht, den Beneideten auf verschiedene Weise zu schaden. Zum einen soll ihnen genommen werden, was man ihnen nicht gönnt. Diese Leute sollen sich gefälligst entscheiden. Deutsch und … das geht nicht. In den Augen der Neider hat niemand zwei Zugehörigkeitsgefühle verdient, und deshalb muss ihm dringend eines davon weggenommen werden. Das geschieht, indem man ihnen ihr Deutschsein einfach abspricht, beziehungsweise deutlich macht, dass ihnen diese Zugehörigkeit jederzeit aberkannt werden kann. Diese Verunsicherung soll sicherstellen, dass der Mehr-als-Deutsche seine hiesigen Pflichten nicht vernachlässigt. Deutschsein ist schließlich zeitaufwendig. Man muss sich schon kümmern. Wie ist das alles zu schaffen, wenn man noch anderweitig gebunden ist?

Ein Schimpfwort mit Spaghetti

Eine andere Möglichkeit ist es, den Vorteil einfach zum Makel zu erklären. Schon Ende der 1950er Jahre blickte man neidisch auf ­Menschen, die kunstvoll Nudeln auf ihre Gabeln wickeln konnten, und erfand ein Schimpfwort mit ­Spaghetti. Neidisch darüber, dass sich da welche in einer Sprache unterhalten, die dem Nur-­Deutschen unbekannt ist, ruft man auch heute noch über die Straße: „Hier wird Deutsch gesprochen!“

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Die Zweisprachigkeit, die interkulturelle Expertise, die Möglichkeit, sich an mehreren Orten zu Hause zu fühlen – das alles wird zum Problem erklärt, denn um es zu feiern und zu bewundern, müsste man ja gönnen können. Neben der Abwertung des Anderen wird das Deutsche erhöht. Wir haben die beste Hymne, also singt sie gefälligst mit. Unsere Dichter sind großartig, also lest sie, auch wenn wir nicht glauben, dass ihr sie versteht.

Dabei wird nicht behauptet, dass es keine Probleme gibt. Aber nur Nur-Deutsche dürfen diese ansprechen, bei den Mehr-als-Deutschen wird man misstrauisch. Sie haben immerhin die Möglichkeit, uns einfach mit unserem Deutschsein allein zu lassen und sich einer ihrer anderen Heimaten zuzuwenden, sollte es mal nicht so gut laufen. Wer die Wahl hat, muss immer wieder beteuern, dass er sich nicht umentscheiden wird. Gefordert wird verlässliche Deutschland-Monogamie mit dem Bekenntnis zu ewiger Treue.

Wenn Deutsche mit Hintergrund diesen zu deutlich zur Schau stellen, wird vielen Nur-Deutschen ihr eigener Mangel an Hintergründigkeit schmerzlich bewusst. Mehr-als-Deutsche werden daher dazu angehalten, ihren Reichtum nicht öffentlich zu zeigen. Diesen Vorgang nennen wir „Integration“. Ein Schutzmechanismus, der dazu dient, Nur-Deutsche nicht zu verunsichern oder gar zu reizen. Die Forderung nach Integration meint eigentlich: Sei bloß nicht stolz darauf, wer du bist und was du hast. Sei dankbar, dass du einer von uns sein darfst. Für diesen Zweck wurde extra ein Preis ins Leben gerufen. Den Integra­tionsbambi will eigentlich niemand gewinnen, aber einige wollen ihn unbedingt verleihen. Als Anreiz zur Bescheidenheit und Unauffälligkeit.

Schlagen die Herzen gleichzeitig?

Nur mit Neid lässt sich erklären, dass einzelne weniger dazugehören sollen, nur weil sie etwas mit in diese Gesellschaft einbringen, das nicht alle beisteuern können. Zugegeben: Die Vorstellung von zwei Herzen ist von außen betrachtet ein wenig gruselig. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wie das funktionieren soll. Schlagen sie gleichzeitig oder im Wechsel? Kann man eines einfach ausschalten, wenn es mal schmerzt? Sind Menschen mit zwei Herzen besonders gut darin, diejenigen unter uns auszumachen, die gar keines haben?

Aber was, wenn einer die Kraft seiner zwei Herzen dafür einsetzen will, die Gemeinschaft zu stärken? Wer etwas teilen soll, der muss auch zeigen dürfen, dass er es hat. Wir sollten das zulassen.

Neid ist eine unangenehme Emotion und schadet allen Beteiligten. Wer die eigenen Minderwertigkeitsgefühle bezwingt, spürt Wohlwollen statt Missgunst und Neugierde an Stelle von Angst. Dann fällt es leicht zu akzeptieren, dass wir mit Menschen zusammen leben, die deutsch sind und arabisch oder deutsch und türkisch, und dass daraus niemandem ein Nachteil entsteht.

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36, ist freie Dramaturgin und Theaterregisseurin. Sie lebt in Berlin.

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