Wahlverhalten von Migrant*innen: Früher rot, heute schwarz
Machten Zugezogene früher mehrheitlich ihr Kreuz bei der SPD, bevorzugen sie nun die CDU. Ist das ein langfristiger Trend?
Danach sprechen sich über 43 Prozent der Befragten für eine der beiden Unionsparteien aus. Die SPD landet mit 25 Prozent auf Platz 2, es folgen die Linke und die Grünen mit jeweils rund 10 Prozent. Die FDP ist mit einem Zuspruch von knapp über 5 Prozent weniger beliebt.
Warum ist das so?
Darüber kann nur spekuliert werden. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftung für Integration und Migration, der die Studie erstellt hat, erfasst zwar die Daten, wertet sie aber nicht aus. Eine mögliche Erklärung könnte in einem kleinen, aber einprägsamen Satz liegen: „Wir schaffen das“. Gesagt im Sommer 2015 von Kanzlerin Angela Merkel. Der Satz ist wirkmächtig, bis heute: Deutschland nimmt Geflüchtete auf, behandelt sie weitgehend gut, schließt keine Grenzen. So sehen das viele Geflüchtete immer noch. Für sie ist und bleibt Merkel eine Heldin.
Der Satz ist zudem global nachhaltig. Selbst in Ländern wie Dschibuti, Indien, Myanmar und Kambodscha, die in der deutschen Presselandschaft nicht täglich präsent sind, hat „Wir schaffen das“ ein Bild von Deutschland als das migrationsfreundlichste Land auf der Welt produziert.
Normalisierungseffekt: Wir leben ein gewöhnliches Leben
Vielen der Zugezogenen – wie vielen Deutschen übrigens auch – sind die hiesig politische Lage und das deutsche Parteiensystem nicht bis in den letzten Winkelzug vertraut. Das aber wissen sie: Den Satz hat Merkel gesagt, Merkel ist in der CDU, also ist die CDU prima. Dass die Union mitnichten migrationsfreundlich, sondern eher migrationskritisch ist, dass Deutschland de facto die Grenzen dicht gemacht hat und durch den kürzlich wieder eingesetzten Familiennachzug für subsidiär geschützte Geflüchtete weit weniger Angehörige nach Deutschland kommen als gedacht, übersehen die jüngst Zugezogenen vielfach.
Unabhängig davon darf davon ausgegangen werden, dass Parteienvorlieben nicht nur unter Deutschen wechseln, sondern ebenso unter Menschen mit Migrationshintergrund. So haben die schon länger hier lebenden türkischstämmigen Menschen, die die größte Gruppe der Zuwander*innen ausmachen, jahrzehntelang mehrheitlich sozialdemokratisch gewählt. Dass sie jetzt verstärkt auf die Union umschwenken, kann man einerseits als Normalisierungseffekt lesen: Wir sind in Deutschland – mehr oder weniger – angekommen, wir leben hier ein gewöhnliches Leben, warum sollten wir nicht so wählen wie die meisten Deutschen? Andererseits schwindet die Bindung der Menschen mit türkischen Hintergrund an die SPD bereits seit 15 Jahren, die Sozialdemokrat*innen können ihre Politik auch Menschen mit türkischem Hintergrund nicht mehr klar genug vermitteln.
Möglicherweise handelt es sich beim migrantischen Zuspruch zur Union aber auch nur um einen kurzzeitigen Schwenk. Migrationsexpert*innen jedenfalls sprechen nicht von neuen manifesten politischen Orientierungen, sondern eher von „erodierenden Bindungen“. Und die können auch wieder festgezurrt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt