Klima und Konservatismus: Die Kammer des Schreckens
Herr L. ist ein Konservativer und hasst die Hitze. Weil seine Klimaanlage ausgefallen ist, fragt er sich nun, ob diese beiden Dinge zusammenhängen.
A n einem Sonntag im Juli 2021 war es zu heiß, morgens schon. Herr L. betrachtete besorgt die Temperaturanzeige seines digitalen Weckers. 24 Grad um 6.51 Uhr waren zu viel und Herr L. war genervt, dass sein Sohn es versäumt hatte, die Handwerker mit der Reparatur der Klimaanlage zu beauftragen und jetzt spontan nach Ibiza geflogen war. In der Wetter-App sah Herr L., dass die Höchsttemperatur gegen 16 Uhr erreicht werden sollte. 35 Grad. Früher hätte es das nicht gegeben. Er vermisste früher und er hasste die Hitze.
Herr L. mochte sein Leben. Er hatte hart gearbeitet und einiges erreicht: Ein Haus, eine Frau, die Kinder, einen kleinen Vorgarten und einen deutlich größeren Garten hinter dem Haus. Zwei Autos, davon ein BMW, einen Fire Magic Aurora A660S Gasgrill, diverse Aktien, eine Wohnung in Stuttgart, die er unter Wert an einen Freund seines Sohnes vermietete. Er hatte auch gute Bekannte: einen Internisten, einen Chirurgen, viele aufrechte Mittelständler, mehrere Banker, jemanden vom DFB. Kurzum: Herr L. hatte kein schlechtes Leben, und weil er dafür durchaus dankbar war, ging er sonntags in die Kirche und steckte einen Schein in die Kollekte. Das Einzige, was Herrn L. wirklich nervös machte, waren die Hitze und seine Abstellkammer.
Herr L. sagte gern: „Ich bin ein Konservativer, ob es den Leuten gefällt oder nicht.“ Konservativ, also conservare, erhalten, bewahren – das erschien ihm richtig. Herr L. bewahrte und erhielt vieles, das meiste in der Abstellkammer. Das Problem war, dass er nicht mehr genau wusste, was sich alles in der Kammer befand. Herr L. hatte gern den Überblick, aber er traute sich nicht mehr, die Tür zur Kammer zu öffnen.
Vakuumverpackte Normalität
Er erinnerte sich an einen Karton voller christlicher Werte: die steinerne Skulptur einer traditionellen Kleinfamilie, seine Ludwig-Erhard-Gedenkmünze, ein Modell des Abendlandes, das sein Sohn 1995 im Kunstunterricht gebastelt hatte, und eine Sonderedition des Gesellschaftsspiels „Festung Europa“. Im vorletzten Winter hatte seine Frau acht Einmachgläser mit alter deutscher Rechtschreibung befüllt und in die Kammer gestellt. Und irgendwo müsste noch die vakuumverpackte Normalität liegen.
Trotzdem spürte Herr L. dieses Unbehagen, immer, wenn es zu heiß war und wenn er an die Kammer dachte. Leider war es oft zu heiß. Die Hitze, die Kammer. Hing das zusammen? „Quatsch“, sagte Herr L. zu sich selbst, die Scheißhitze vernebelte den guten Menschenverstand. Und doch: Er fühlte sich wie vor einer Reise, wenn er fürchtete, etwas vergessen zu haben. Als ob es etwas Essenzielles zu bewahren gab, das ihm nicht einfallen wollte. Herr L. drehte das Radio auf, um seine Gedanken zu übertönen.
Angela Merkel sagte, „wir müssen uns sputen“, eine andere Frauenstimme redete von Extremwetterereignissen. Ihm lief der Schweiß, wie ärgerlich, vor allem wegen der gelben Rückstände auf dem weißen Poloshirt. So ging es nicht weiter. Gleich morgen würde er sich selbst um die Klimaanlage kümmern.
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