Frauen in der Öffentlichkeit: Mein Körper und ich sind schon da

Eine Frau wird jeden Sommer daran erinnert, dass sie einen Körper hat. Als würde sie sich nicht selbst daran erinnern, ständig.

Eine junge Frau trägt Kopfhörer. Dahinter ist eine grüne Wand, auf der man ihren Schatten sieht.

Beim sogenannten Frauenkörper ist es egal, wie viel oder was er anhat, er wird bewertet Foto: Giorgio Fochesato/imago

Zu fett, zu muskulös, zu groß, zu klein, zu nackt, zu bedeckt, zu haarig, zu geschminkt, zu verschwitzt, zu unsicher, zu laut. Eine Frau wird jeden Sommer daran erinnert, dass sie einen Körper hat. Als würde sie sich nicht selbst daran erinnern, ständig. Als könnte sie ihrem Körper aus dem Weg gehen, wenn er sich monatlich verkrampft und blutet, wenn ihm an den empfindlichsten Stellen Haare ausgerissen werden, wenn sich auf Fotos der Bauch nach innen zieht.

Die Männer auf der Straße bilden ein Spalier, machen Geräusche, als wollten sie einen Hund anlocken, und wenn ein sogenannter Frauenkörper hindurchgeht, ist es egal, wie viel er anhat, er wird immer noch ein bisschen mehr ausgezogen. Der sogenannte Frauenkörper passt sich an die Begebenheiten an.

Er kann stehenbleiben und schimpfen, oder doch lieber Kopfhörer auf und Blick aufs Handy, oder die Straßenseite wechseln, oder lächeln und hoffen, dass nichts passiert, oder zu Hause schon überlegen, an welchem Outfit die Blicke am elegantesten abperlen. Sie hat doch die Wahl, sie ist doch frei, der sogenannte Frauenkörper ist schließlich kein Opfer, richtig?

Ich kenne keine Frau, die sich nicht in regelmäßigen Abständen selbst verletzt, mit eigenen Worten, mit eigenen Händen, in Gedanken. Wir haben das lange geübt, zuerst an den anderen: Die da zeigt zu viel Haut, also ist sie leicht zu haben. Die da zeigt zu wenig Haut, also ist sie verklemmt. Die da hat ganz schön zugelegt, also ist sie faul. Die da könnte mal ihre Akne abdecken. Dann betrachten wir unseren eigenen Körper in allem, was er spiegelt, und plötzlich sind wir jede die da, dabei wollten wir doch der sweet spot genau zwischen ihnen sein.

Sie sagt „Ich kann nicht schwimmen gehen, sieh mich an“, obwohl das Internet sagt „every body is a bikini body“. Sie sagt, „ich kann das nicht tragen, sieh mich an“, obwohl das Internet sagt, „zieh an, was du willst“. Sie sagen, „sieh mich an“, aber am liebsten wollen sie nicht angesehen werden, diese Dinge liegen außerhalb der Reichweite von reichweitenstarken Sharepics.

Sie haben fast alle Krieg gegen ihren Körper geführt: Rennen bis in die Ohnmacht, eine Zahnbürste im Rachen. Sie haben solche Angst, zu viel zu sein, dass genug unerreichbar wurde. Sie sind jetzt selbstbewusste Frauen und googeln trotzdem „how to lose weight fast“. Keine wird plötzlich sanft, wenn der Krieg vorbei ist.

Muss sie das noch schreiben, im Jahr 2021, schon wieder, wo doch jetzt alle Körper empowert werden? So viele Hashtags, so viel Befreiung. Trotzdem entscheidet sie sich für die Kopfhörer, trotzdem rät die World Health Organisation Frauen „im gebärfähigen Alter“ von Alkohol ab, trotzdem werden Abtreibungen verboten und Vergewaltigungen geduldet – es kommt sogar vor, dass sie gefeiert werden –, trotzdem steht vor beinahe jedem Adjektiv, das sie beschreibt, ein „zu“. Trotzdem soll sie sich schämen für ihren Frauenkörper, immer. Sogar dann, wenn sie ihn endlich mag.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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