Kevin Kühnert über Perspektiven der SPD: „Nur über meine Leiche“
Noch eine Groko nach der Wahl 2021? Dem erteilt der Juso-Chef eine Absage. Stattdessen freut er sich über Olaf Scholz, der nach links gerückt sei.
taz: Herr Kühnert, haben Sie sich nach rechts – oder hat Olaf Scholz sich nach links bewegt?
Kevin Kühnert: Olaf Scholz und mit ihm die Politik der SPD in der Regierung haben sich spürbar nach links bewegt. Normalerweise mussten sich SPD-Spitzenkandidaten angeblich immer in die sogenannte Mitte begeben. Scholz hat sich erkennbar nach links bewegt.
Wo?
Bei den großen Fragen. Europa geht beispielsweise völlig anders als vor zehn Jahren mit der Krise um. Damals waren Hilfen an Südeuropa an Rückzahlungen, Sozialabbau und den Verlust von Souveränität gekoppelt. Jetzt gibt es direkte Zuschüsse. Das mag kein sexy Thema sein. Aber das ändert so ziemlich alles in der EU. Das ist maßgeblich von Olaf Scholz und dem französischen Finanzminister Bruno Le Maire betrieben worden. Die Krisenpolitik in Deutschland folgt ähnlichen Maßgaben, auch wenn da Luft nach oben ist.
Muss die SPD-Linke geradezu dankbar für die Coronakrise sein? Schuldenbremse ausgesetzt, der Staat als Akteur …
Nein, das verbietet sich. Die SPD hat diesen Kurswechsel schon vor der Coronakrise begonnen. Wir haben beim Parteitag unser neues Sozialstaatskonzept zur Überwindung von Hartz IV beschlossen und Anfang 2020 in der Koalition massive Investitionspakete anvisiert. Was die Große Koalition jetzt tut, etwa die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes auf zwei Jahre, ist richtig, hat aber mit der Pandemie zu tun.
Der 31-Jährige wünscht sich, dass Kritiker Verbesserungen in der SPD anerkennen, wenn sie passieren. Seit Dezember 2019 SPD-Vize, bewirbt sich Kühnert im kommenden Jahr um ein Bundestagsmandat im Wahlkreis Berlin Tempelhof-Schöneberg. Sein Studium der Politikwissenschaften unterbrach er, als er 2017 zum Vorsitzender der Jungsozialisten gewählt wurde. Der fehlende Uni-Abschluss wird ihm gern von Konservativen zum Vorwurf gemacht.
Aber kleine Selbstständige fallen durch den Rost.
Unser heutiger Sozialstaat ist auf ihre Bedürfnisse noch nicht genug vorbereitet. Es ist gut, dass Soloselbstständige jetzt einfacher und ohne Vermögensprüfung Grundsicherung beziehen können. Aber gerade bei Soloselbstständigen zeigt sich in dieser Krise, dass die Schutzmaßnahmen des Sozialstaates noch überwiegend auf eine Arbeitsgesellschaft ausgerichtet sind, die sich längst weiterentwickelt hat. Die Trennung zwischen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten ist längst verwischt.
In Großbritannien funktioniert Hilfe für kleine Selbstständige besser. Warum ist das hier so schwierig?
Vielleicht weil wir mit Selbstständigen das Bild vom Manager verbinden, aber nicht den Betreiber einer Pommesbude, bei dem das Einkommen des Firmeninhabers auch das Einkommen des einzigen Beschäftigten ist. Der und die frei arbeitende Grafikdesignerin brauchen eine Absicherung für solche Krisen. Der Sozialstaat muss auf der Höhe der Zeit sein. Erste Selbständige holen wir jetzt in die gesetzliche Rente. Wir brauchen vermutlich auch eine Art Kurzarbeitergeld für Selbstständige – über die kleine Gruppe der Selbstständigen, die in Heimarbeit nur für eine Firma arbeiten, hinaus.
Wer zahlt für die Krise? Laut Olaf Scholz soll 2022 die Schuldenbremse wieder gelten. Also Sozialleistungen dann runter?
Die Schuldenbremse ist nicht abgeschafft worden, sondern ausgesetzt. Das ist ein Fakt. Wer zahlt, das wird eine wichtige Auseinandersetzung des Wahlkampfes werden. Die Union will den Gürtel enger schnallen, Friedrich Merz jede sozialstaatliche Leistung auf den Prüfstand stellen. Die Konsequenz aus der Krise muss sein, Resilienz, wie es jetzt überall heißt, aufzubauen. Wir müssen sozialstaatlich Vorsorge treffen, bevor die nächste Krise über uns hineinbricht.
Woher kommt ihr Vertrauen, dass wir nicht wieder den Olaf Scholz der schwarzen Null erleben?
Ich halte nichts davon, als Gegenposition zur der ideologisch getriebenen schwarzen Null pauschal mehr Staatsverschuldung zu fordern. Schuldenmachen per se ist nicht links. Nachhaltiges und zukunftsorientiertes Investieren ist links. Es geht aber vor den Ausgaben erst mal um die Einnahmen. Die Politik der letzten 20 Jahre war geprägt durch Senkung des Spitzensteuersatzes und die niedrige Kapitalertragssteuer …
… unter tätiger Mithilfe der SPD …
… ja, stimmt. Aber wir sind in der Lage, aus Fehlern zu lernen und haben uns schon vor Corona auf dem Parteitag für die Reaktivierung der Vermögenssteuer ausgesprochen. Auch Olaf Scholz meint: Die reichsten ein, zwei Prozent der Bevölkerung sollten einen Beitrag zur solidarischen Bewältigung der Krise und zur Verteilungsgerechtigkeit leisten. Die Forderung verstecken wir nicht.
Olaf Scholz ist also ein Linker geworden. Bleibt die Frage, ob Sie nach rechts …
Ich wusste, dass Sie darauf zurückkommen. Für Jusos und Parteilinke sind die Kompromisse in den letzten Jahren oft übel ausgegangen. Es ging immer darum, Wahlen in der ominösen Mitte zu gewinnen. In dieser Logik sind wir oft an den Rand gedrängt worden. Jetzt bewegt die SPD sich in die richtige Richtung, auch durch unseren Beitrag. Das freut mich erst mal.
Sie klingen ja sehr pragmatisch. Sie sind seit acht Monaten Vizevorsitzender von 420.000 Genossinnen und Genossen. Hat Sie das verändert?
Ich finde nicht.
Sie reden genauso wie vorher, als Sie nur Juso-Chef waren?
Ja klar.
In Ihrer Rede beim Parteitag haben Sie gesagt, dass Politik für Sie kein Rollenspiel ist. Also: Ihr kriegt den Kevin, den ihr kennt. Sie waren ein Scholz-Kritiker, jetzt verteidigen Sie ihn. Ist das kein Rollenwechsel?
Wo es nötig ist, werde ich Scholz auch weiterhin kritisieren – übrigens immer zuerst im direkten Gespräch. Selbstverständlich will ich mehr Verteilungsgerechtigkeit über Vermögensteuer hinaus. Und natürlich sollten wir an der Forderung festhalten, den Spitzensteuersatz für wirkliche Top-Verdiener zu erhöhen, und dafür sorgen, dass Erträge aus Kapital nicht mehr geringer besteuert werden als Einkünfte aus Arbeit.
Verstehen Sie Linke, die der SPD noch immer misstrauen?
Misstrauen kann ein gesunder Reflex sein. Wer aber gar nicht erkennen will, dass sich die SPD und mit ihr die Politik auch durch unser jahrelanges Nerven verändert hat, wird zynisch und defätistisch. Wer nur sagt: Scholz ist ein Neoliberaler, der den Sozialstaat abbaut, hat es sich in einer vermeintlichen Gewissheit bequem gemacht und zuletzt vermutlich auch wenig die Nachrichten verfolgt. Der Clou ist doch: Die richtige Politik wird manchmal von den vermeintlich falschen Leuten gemacht.
Wem werfen Sie das vor? Der NoGroko-Bewegung, mit der Sie 2017 ja zur öffentlichen Figur geworden sind?
Allen, die sich angesprochen gefühlt haben. Es gibt gelegentlich eine holzschnittartige Haltung in der gesellschaftlichen Linken. Da ist Olaf Scholz ausschließlich derjenige, der sich bei Polizeigewalt und G20-Gipfel in Hamburg falsch verhalten hat. Ja, da haben wir Jusos auch deutliche Kritik geäußert. Aber sich an jedem kritikwürdigen Halbsatz von Scholz vor drei, zehn oder 20 Jahren festzuklammern, und gleichzeitig die wichtigen realen Weichenstellungen in Europa und beim Staatshaushalt schulterzuckend zu ignorieren, finde ich inkonsequent.. Bei manchen gilt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das Problem ist doch nicht Kritik an der SPD oder Scholz. Das Problem ist eine Form der Bräsigkeit, die andauernd Veränderung fordert, aber sie nicht erkennt, wenn sie tatsächlich passiert.
In der Cum-Ex-Affäre hat Scholz verheimlicht, wie oft er den Warburg-Banker getroffen hat. Ist das kein Grund, ihm zu misstrauen?
Olaf Scholz hat zweimal im Finanzauschuss des Bundestags Rede und Antwort gestanden. Wenn es jetzt offene Fragen gibt, wird er für weitere Anhörungen zur Verfügung stehen. Er hat betont, dass es selbstverständlich keine politische Einflussnahme zugunsten der Warburg Bank gab. Das hätte mich auch sehr gewundert, weil er Cum-Ex-Geschäfte aufs Schärfste verurteilt und eine striktere Finanzmarktregierung gefordert hat.
Ist eine Fortsetzung der Groko nach 2021 denkbar?
Nur über meine Leiche – also politisch gesehen. Die Groko funktioniert in dieser Krise ganz okay, weil die Union nicht so viel im Weg rumsteht. Aber alle grundlegenden Argumente gegen die Dauer-Groko sind noch immer richtig.
Sie gelten bei Fridays for Future als Hoffnungsträger, als jung, offen, sympathisch. Dabei sagen Sie selten etwas zur Klimapolitik. Werden Fridays-for-Future-Anhänger enttäuscht sei, wenn Sie mal was zur deutschen Autoindustrie sagen?
Die SPD hat das im Juni konkret bei den Coronahilfen getan – nicht zur Freude der Chefetagen der Autoindustrie. Das Nein zu einer Autokaufprämie für Verbrennungsmotoren ist in der SPD nicht vom Himmel gefallen. Es zeigt den politischen Richtungswechsel in der Sozialdemokratie. Wir haben das getan, obwohl wir wussten, dass manche auch in den Gewerkschaften das erst mal nicht nachvollziehen können, es aber gleichzeitig nur wenige bei Fridays for Future gibt, die sagen: Geil, was die SPD macht.
Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in England standen für die Linkswende in den Mitte-links-Parteien. Sie sind gescheitert. Was bedeutet das für die SPD?
Ich sehe das differenzierter. Sanders ist nicht gescheitert. Er hat zusammen mit Alexandria Ocasio-Cortez und anderen die Agenda der Demokraten in den USA nachhaltig verändert, etwa bei der Gesundheitsversorgung und den Hochschulgebühren. Wir müssen von dem Denken Eins oder Null weg. Erfolg ist doch nicht nur: Eine Person setzt sich durch und wird gewählt. Das ist unterkomplex.
Also sind Sie der Sanders der SPD?
Ich wollte doch nicht Kanzlerkandidat werden …
… in dem Sinne, dass Sie das Programm nach links verschoben haben.
So verstanden – ja. Aber dieser Erfolg hat sehr viele Väter und Mütter …
Sanders verkörperte die Hoffnung auf einen radikalen Bruch mit dem Finanzkapitalismus. Das ist gescheitert …
Ich sehe das anders. Es geht darum, die gesellschaftliche Hegemonie zu verändern. Im Kongress wird eine neue Generation von demokratischen Abgeordneten einziehen, die sich als parlamentarischer Arm verschiedener sozialer Bewegungen verstehen. Die werden machtpolitisch eine Rolle spielen, falls die Demokraten dort eine Mehrheit erringen. Da kann ein echtes Bündnis von Bewegung und Partei entstehen, so wie wir Jusos oder auch eine Politikerin wie Katja Kipping es sich wünschen.
Sie wollen auch in den Bundestag. Warum?
Um direkter als bisher an Veränderungen mitwirken zu können. Ich habe mich für die SPD entschieden, weil ich nicht nur Aktivist sein will. Ich kann gut mit Strukturen umgehen.
Reicht Ihnen die Partei nicht?
Ich bin stellvertretender Vorsitzender meiner Partei. Da geht es nicht mehr so viel weiter …
Doch.
Ich sitze in einem – gedachten – SPD-Hochhaus mit 20 Stockwerken im 19. Stockwerk. Oben wird der Blick nicht mehr viel großartiger. Die Frage ist eine andere: Bin ich hier auf Dauer wirkmächtig genug für das, was mich antreibt? In der parlamentarischen Demokratie sollten frei gewählte Abgeordnete die entscheidenden Rädchen im System der Tagespolitik sein. Meine Arbeit als Vizeparteichef besteht ja vielfach darin, bei Abgeordneten und Regierungsmitgliedern für Ideen und Konzepte zu werben.
Gibt es Themen, in denen Sie Experte sind?
Wenn man als Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis für 350.000 Leute zuständig sein möchte, muss man ein bisschen Generalist sein. Ich kann ja in der Bürgersprechstunde nicht sagen: Ah, sie sind Heilpraktikerin, da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich bin im SPD-Präsidium speziell für Bauen und Wohnen sowie den Sport zuständig und habe zwei Jahre an dem sehr detaillierten Sozialstaatskonzept mitgearbeitet. Ich bin in der Lage, mich tief in Themen einzuarbeiten, ohne dabei Nerd zu sein.
Profilierung im Bundestag geht nur über Expertentum. Würden Sie da in Richtung Bauen und Wohnen gehen?
Ich würde gern erst mal gewählt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“