SPD-Schriftzug von hinten

Schriftzug einer stolzen, alten Partei in Berlin: Bringt der Parteitag die Wende? Foto: dpa

Linkswende auf dem SPD-Parteitag:Vorwärts! Aber wohin?

Wie es die SPD auf ihrem Parteitag fertig­gebracht hat, einen neuen Kurs zu bestimmen und dennoch alle Fragen zur Koalition offenzulassen.

8.12.2019, 17:36  Uhr

Und dann ertönt der Jubel. Am Samstagnachmittag stehen fast alle Delegierten von ihren Plätzen auf und applaudieren, ein, zwei Minuten lang, konservative Seeheimer wie linke Jusos. Standing Ovations sind ein Ritual von Parteitagen, vor allem wenn die Vorsitzenden ihre Reden beendet haben. Applaus ist ein Barometer, das anzeigt, wie bewölkt die Stimmung ist und ob die Partei zur Führung steht.

Jetzt aber bejubeln die GenossInnen einen Antrag. Es ist einer der mitreißenden Momente des Berliner SPD-Parteitags. Die Partei hat gerade ohne Gegenstimme ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen. Der Staat soll nicht mehr, wie zu Gerhard Schröders Zeiten, fordern und fördern, sondern „empathisch, unterstützend und bürgernah“ werden.

Hartz IV soll fortan Bürgergeld heißen. Für zwei Jahre sollen Vermögen und die Wohnungsgröße von Empfängern nicht mehr überprüft werden. „Pflichtverletzungen dürfen nicht folgenlos“ bleiben, heißt es etwas vage. Aber in jedem Fall muss das „sozioökonomische und soziokulturelle Existenzminimum gesichert sein“. Diese Formulierung signalisiert, dass die SPD Hartz-IV-Empfänger besser stellen will, als es das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich entschieden hat.

Wer früher Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher in Frage stellte, sagt die Ex-Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel, sei in er Partei „total isoliert“ gewesen. „Eine Riesenauseinandersetzung“, so Drohsel, sei jetzt endlich beendet.

Die SPD will nun eine Kindergrundsicherung von 250 Euro pro Kind und „perspektivisch 12 Euro Mindestlohn“, um den Niedriglohnsektor zu bekämpfen. Und sie will, dass Arbeitslose, die sich weiterbilden, bis zu drei Jahre lang Arbeitslosengeld beziehen können.

Die SPD steht nun für einen zugewandten Sozialstaat

All das zielt in eine ähnliche Richtung: Die Sozialdemokraten wollen einen zugewandten Sozialstaat. Und sie wollen endlich das Agenda-2010-Gespenst, das sie seit fünfzehn Jahren verfolgt, verbannen. Es ist nicht der erste Versuch, Hartz IV zu bewältigen. Ein erfahrener SPD-Mann muss erst mal nachzählen, ob das jetzt der dritte oder vierte große Anlauf ist. Aber es soll der letzte sein.

Ist das jetzt die komplett nach links gewendete SPD? Eigentlich nicht. Das neue Führungsduo, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, hat mit dem Konzept für den neuen Sozialstaat wenig zu tun. Das Copyright gehört Ex-Parteichefin Andrea Nahles. Es soll die SPD grundlegend verändern und endlich mit sich selbst versöhnen.

Kevin Kühnert läuft kurz nach der Jubelszene über den Flur vor der City-Cube-Halle, wo die Partei den Aufbruch „in die neue Zeit“ beschwört. In roten und schwarzen Lettern. Er hat eine Brezel in der Hand, bricht sich ein paar Stückchen ab und schiebt sie sich beim Reden in den Mund. Es gibt wenige Orte, an denen man sich so ungesund ernährt wie auf Parteitagen. Moment, jetzt muss er erst mal ein Selfie mit Delegierten machen. Kühnert ist der neue Star der SPD, intellektuelles Kraft­zentrum, Stratege und Machtfaktor. „Das Sozialstaatspapier ist geeint“, sagt er. Es werde von allen getragen. Seine Augen blitzen. Ein Erfolg. Er ist jetzt stellvertretender Vorsitzender der SPD. Und ab jetzt verantwortlich für Einigungen und Erfolge. Er muss die Partei jetzt repräsentieren, nicht mehr kritisieren. Selten hatte ein 30-Jähriger so viel Einfluss in der SPD – einer Partei, die zu mehr als der Hälfte aus über 60-Jährigen besteht.

Kühnert hat eine funkelnde Bewerbungsrede für diesen Vizeposten gehalten. Es ist der erste Begeisterungsmoment des Parteitags, mit wildem, spontanem Beifall. Kühnert spannt weite Bögen, skizziert die Spannung zwischen individualisierter Gesellschaft und Solidarität, attackiert Annegret Kramp-Karrenbauer und spottet in einer leicht klamaukhaften, aber gut kalkulierten Einlage über die Rote-Socken-Phobien der Konservativen. Am Ende dreht er Helmut Schmidt, den Gottvater der SPD-Rechten, auf links. Schmidt wollte einst Leute mit Visionen zum Arzt schicken. „Gehen wir zum Arzt und überzeugen ihn von unseren Visionen“, ruft Kühnert in den tobenden Saal.

Kevin Kühnert nimmt Anleihen bei Helmut Schmidt

„Gehen wir zum Arzt und überzeugen ihn von unseren Visionen“

Aber 158 Delegierte, fast ein Viertel, stimmen am Ende doch gegen den Juso-Chef. Kühnert polarisiert. Ein alter Sozialdemokrat zischt am Rande, die Rede sei demagogisch. Nein, das war sie nicht. Nur fesselnder, effektvoller, auch kalkulierter als viele andere eher technokratische oder appellhafte Reden. Kühnert ist der erste Juso-Chef, der je Vizechef der Partei geworden ist.

Wie hart die Jusos sein können, bekommt am Samstag Ralf Stegner zu spüren. Der Parteilinke war Vizevorsitzender der SPD. Auf dem Parteitag schafft es der 60-Jährige noch nicht mal mehr in den 34-köpfigen Parteivorstand. Ein nötiger Genera­tionswechsel, heißt es dazu unterkühlt aus Juso-Kreisen.

Kevin Kühnert

Auf rote Socke gedreht: Juso-Chef Kevin Kühnert ist jetzt Parteivize Foto: dpa

Rodion Bakum hat eigentlich schon ausreichend politische Spektakel in den vergangenen Wochen erlebt. Am Volkstrauertag stand auf der Gedenkschleife seiner SPD in Mülheim an der Ruhr: „Den Opfern von Krieg und Verschissmuss“. Bakum, Chef der Mülheimer GenossInnen, musste das Desaster managen. Die SPD hatte der Floristin den Text für die Schleife telefonisch durchgegeben. „Das machen wir demnächst nur noch schriftlich“, sagt Bakum zerknirscht. Die Blumenverkäuferin hat gekündigt, der Laden ist geschlossen. „Bedauerlich“, sagt er erschöpft.

Am Freitagmorgen wartet der Delegierte Bakum auf die Reden der Neuen, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. „Die werden auf jeden Fall gewählt“, sagt der gebürtige Ukrainer mit Pottakzent.

„Wohlstand für Millionen, nicht Millionäre“

Esken kommt im knallroten Kostüm auf die Bühne. Sie will „ihr ganzes Herzblut“ der Austrocknung des Niedriglohnsektor widmen. „Der Markt alleine regelt gar nichts.“ Die SPD müsse „Betriebsrat der digitalen Gesellschaft“ sein. Norbert Walter-Borjans hält die Grundsatzrede. Frieden und soziale Gerechtigkeit sind Signalworte. Und links zu sein. „Wohlstand für Millionen, nicht Millionäre“, ruft er und fordert ein „Jahrzehnt der öffentlichen In­vestitionen“. Zur Großen Koalition sagt Walter-Borjans nicht viel.

Das Echo der Delegierten auf die beiden Newcomer ist freundlich, aber nicht überschwänglich. Die Wahlergebnisse sind gut. Walter Borjans bekommt fast 90, Esken immerhin nahezu 76 Prozent. Andrea Nahles, ihre Vorgängerin, war 2018 mit nur 66 Prozent zur SPD-Chefin gewählt worden.

Esken und Ealter-Borjans

Freundlich begrüßt: das neue Spitzenduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Foto: dpa

Kühnert ist sehr erleichtert. Er hat ja die Unterstützung für das Team organisiert. Es ist auch sein Sieg. Auch der Mülheimer Genosse Bakum ist „sehr zufrieden“. Dass Walter-Borjans so viel mehr Sympathie zufliegen werde, sei klar gewesen. Er habe als ehemaliger NRW-Finanz­minister einen „Prominenzvorsprung“.

Aber das Ergebnis zeigt vor allem, was die Partei jetzt will: ein bisschen Frieden. Auch die Wahlen für die Parteivizes verlaufen harmonisch. Neben Kühnert wird Arbeitsminister Hubertus Heil gewählt. Eigentlich hatten Esken und Walter-Borjans keine Minister als Vizechefs befürwortet. Die Partei sollte endlich frei von Regierungszwängen sein. Die SPD-Pragmatiker fanden genau das gefährlich. Die Partei dürfe kein frei drehendes Radikal werden, heißt es. Esken und Walter-Borjans geben nach, um eine Konfrontation zwischen Heil und Kühnert zu vermeiden. Die Zahl der Stellverteter wird von drei auf fünf erhöht.

In der insgesamt zehnköpfigen Parteispitze gehören fünf eher zur Linken, fünf, darunter die neuen Vizes Klara Geywitz und Anke Rehlinger, zu den Pragmatikern, die kein Groko-Aus wollen. Die Macht hat sich mit Esken, Walter-Borjans und Kühnert natürlich nach links verschoben – aber nicht radikal, sondern austariert. Es gibt keinen Durchmarsch der Linken. Die SPD ist eine Kompromissmaschine.

Johannes Kahrs, Seeheimer-Chef

„Wir Seeheimer unterstützen immer die Führung“

Auch Johannes Kahrs, Chef des Seeheimer Kreises, will den neuen Frieden nicht gefährden. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, dessen Agenda-Politik auf dem Berliner Parteitag endgültig beerdigt wird, hatte vorab sein Missvergnügen über die neue Führung kund­getan. Kahrs kantet zurück. Schröder habe sich früher „jede Kritik von der Seitenlinie verbeten“ und solle sich jetzt lieber zurückhalten. „Wir Seeheimer unterstützen immer die Führung“, sagt Kahrs. So klingt es, wenn Versöhnung intoniert wird.

Franziska Drohsel stört die diffuse Ansage in Sachen Groko. Die frühere Juso-Chefin will die Groko lieber „sofort beenden“. Kühnert und die Jusos finden einen Anti-Groko-Antrag aber eher unpassend. Der gefährde die Kompromisslinie. Drohsel bringt den Antrag auf dem Parteitag ein – und bekommt für „Raus aus der Groko“ ungefähr 10 Prozent.

Was wird aus der Großen Koalition?

Viel Frieden, ein paar rechtzeitig ausgetretene Schwelbrände. Und wie geht es weiter? Anke Rehlinger, die neue SPD-Vizevorsitzende, sagt: „Der Leitantrag ist eine klare Handlungsempfehlung für die nächste Zeit.“ Nun, genau das ist er nicht und sollte es auch gar nicht sein. Denn das Papier lässt offen, was für die SPD ein ausreichender Erfolg ist, um diese Koalition weiterzuführen – und was der Grund, um den Platz am Kabinettstisch zu räumen. Ein paar Details beim Klimapaket, das sowieso noch nachgebessert wird? Ein paar neue Investitionen, die ja DGB und Arbeitgeber auch verlangen? Oder muss es etwas ganz Deutliches, Großes sein? Der Parteitag hat eigentlich nichts geklärt – nicht einmal einen vagen Zeitpunkt, wann die SPD eigentlich entscheiden wird, ob sie weiter regieren will. Das Schlimmste, sagt einer, wäre, „wenn wir uns jetzt monatelang fragen, ob wir nun drin bleiben oder nicht.“

Achim Post ist Chef der NRW-Landesgruppe in der Bundestagsfraktion, Vizefraktionschef und Seeheimer. Er lobt den „Parteitag der Zusammenarbeit“. Und: „Es ist gut, dass in dem Leitantrag kein Zeitpunkt fixiert worden ist.“ Damit hätte man sich selbst Fesseln angelegt. Eine Fixierung auf klare Ziele und Zeitpunkte stört. Denn die SPD-MinisterInnen und fast die gesamte Bundestagsfraktion wollen die Koalition fortführen. Bei Gesprächen sollten, so Posts Warnung, beide Seiten, die Union und die neue SPD-Führung, jetzt nicht „danach suchen, wie man aus der Regierung aussteigen kann“.

Es gibt jetzt zwei Machtzentren in der Sozialdemokratie, die unterschiedliche Agenden verfolgen. Fraktion und MinisterInnen wollen weiterregieren. Esken und Walter-Borjans stehen bei ihren Anhängern im Wort, besser, erfolgreicher verhandeln zu können. Oder eben die Regierung zu verlassen.

Das war, als sie um den SPD-Vorsitz kämpften, ein schlagkräftiges Argument für die beiden. Nun führen die beiden die SPD. Und es klingt wie eine sehr kühne Ankündigung.

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