Gregor Gysi zum Belarus-Konflikt: „An Putin führt kein Weg vorbei“
Um den Konflikt an der polnisch-belarussischen Grenze zu lösen, müsse der russische Präsident mit ins Boot geholt werden, fordert Linken-Politiker Gysi.
taz: Herr Gysi, der belarussische Diktator Lukaschenko schickt Flüchtlinge an die EU-Grenze. Angela Merkel hat nun Russlands Präsidenten Putin um Vermittlung gebeten. Ist es wirklich klug sich mit einem Autokraten gegen einen Diktator zu verbünden?
Gregor Gysi: Es ist richtig, dass wir Russland dafür gewinnen, Einfluss zu nehmen auf Lukaschenko. Denn Lukaschenko fühlt sich ja nur sicher, weil er Russland im Rücken hat. Wenn wir die Situation jetzt weiter zuspitzen und den Druck auf Belarus erhöhen, denkt sich Lukaschenko was Neues aus. Es entspricht seiner Denkweise, die EU nun zu ärgern. Dafür missbraucht er auch die Migrantinnen.
Aber Putin als Verbündeten zu gewinnen, ist wie sich mit Erdogan gegen Assad zu verbünden. Das geht schief.
Wir müssen mit Putin reden. Anders geht es nicht. Oder wir sanktionieren uns zu Tode. Ich stelle mir das so vor, dass wir wieder ein bisschen zurück zu Willy Brandt gehen, zum Wandel durch Annäherung. Die Politik der Sanktionen hat bislang in Bezug auf Russland nichts gebracht. Die Opposition ist nach wie vor sehr eingeschränkt, Menschenrechte werden verletzt.
ist ehemaliger Parteichef- und Fraktionsvorsitzender der Linken. Der 73-Jährige war zuletzt außenpolitischer Sprecher der Linken im Bundestag und wird diesen Posten wohl auch in der aktuellen Legislatur übernehmen. Dank seines und zwei weiterer Direktmandate ist die Linke wieder im Bundestag als Fraktion vertreten.
Der Türkei-Deal mit Erdogan hat auch nicht dazu geführt, dass Erdogan gemäßigter regiert. Im Gegenteil. Er erpresst die EU damit.
Das stimmt. Wir sollten uns von Putin auch nicht erpressen lassen wie von Erdogan. Aber auch Putin braucht auch die EU. Er steht an einem Scheideweg. Wendet er sich China zu oder versucht er in Europa zu bleiben? In dieser Situation müssen wir versuchen einzugreifen. Wenn Putin erst mal den Weg nach China geht, dann kann man das vergessen. Dann entsteht ein unkontrollierbarer Machtfaktor. China ist Wirtschaftsmacht, Russland ist und bleibt eine atomare Weltmacht. Ob uns das passt oder nicht.
Deutschland sollte sich mehr um Putin bemühen?
Ja, aber natürlich immer unter der Bedingung, dass er dann auch etwas leistet. Es geht nicht darum, ihm sonst wohin zu kriechen. Ich bin auch sehr kritisch gegenüber Putin. Aber aus historischen und aus gegenwärtigen politischen Gründen benötigen wir ein anderes Verhältnis zu Russland. Es führt kein Weg an Putin vorbei. Wir können immer auch zivilgesellschaftliche Strukturen in Russland unterstützen. Aber diese haben letztlich nicht die Macht. Und wir kommen an der Macht nicht vorbei.
Zurück an die belarussische Grenze. Putin um Vermittlung zu bitten ist das eine. Aber wie mit den Menschen umgehen, die dort gestrandet sind. 4.000 sollen es aktuell sein, es kommen mehr.
Die 4.000, die jetzt konkret Hilfe brauchen, die verkraftet ganz Europa. Wir sollten sie also aufnehmen und sie über die EU verteilen. Gleichzeitig müssen wir aber auch dafür sorgen, dass dies nicht Methode wird. Wir müssen mit den Fluglinien reden, und zwar über Überflugrechte aber auch den Transport von Menschen nach Belarus. Auch dafür brauchen wir Russland.
Fordern Sie Sanktionen gegen Fluglinien, die hilfebedürftige Menschen transportieren?
Ich spreche nicht von Sanktionen, sondern will mit ihnen reden. Mir ist es lieber, ich erreiche eine Übereinstimmung. Und wir brauchen drittens eigene humanitäre Aufnahmeprogramme, etwa für die Menschen, die Afghanistan verlassen wollen. Wir haben ja die Situation mit angerichtet. Da können wir jetzt nicht so tun, als ob uns das Ganze nichts anginge. Mich erreichen viele Mails. Da gibt es einen Mann, der lebt seit zig Jahren in Deutschland. Und weil er zu lange hier lebt, darf er seine drei Kinder nicht nachholen. Was völlig idiotisch ist, denn die sind jetzt wirklich in Gefahr.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat gefordert, die EU-Grenze notfalls mit einer Mauer zu befestigen. Können Sie verstehen, dass die Leute Angst bekommen, wenn sich hunderte Menschen in Richtung Deutschland aufmachen?
Klar, die AfD wird das auch alles nutzen. Also steht tatsächlich Frage, wie wir das Ganze meistern.
Sind wir gerade in einer ähnlichen Situation wie 2015?
Nein, bisher nicht. Es kommen doch keine Massen, die die Bevölkerung restlos überfordern. Wir müssen die Situation diesmal besonnener lösten und vor allem eine internationale Lösung finden.
Merkel meinte damals „Wir schaffen das“. Die Debatte damals lief quer durch die Bevölkerung und auch durch ihre eigene Partei. Droht eine neue Zerreißprobe? Wenn Sahra Wagenknecht in der nächsten Talkshow einen Grenzzaun fordert.
Über Sahra Wagenknecht werden Sie von mir kein böses Wort hören. Ich hatte jetzt eine längere, gute Aussprache mit ihr. Sie hat das gute Recht ihre Meinung zu sagen und das kann auch eine andere sein, als die der Partei. Das muss sie dann aber eben sagen.
Hat sich ihr Verhältnis zu Sahra Wagenknecht verändert?
Ja. Und zwar durch die Bundestagswahl. Weil ich erkannt habe, dass unsere jetzige Krise auch meine Verantwortung betrifft. Wir müssen als Linke ein anderes Verhältnis zueinander pflegen.
Sahra Wagenknecht spricht für eine Gruppe von Menschen, die sich in der Linken an den Rand gedrängt fühlen. Was Migration, Umweltfragen, aber auch das Thema Impfen angeht. Wie bringt man beide Gruppen zusammen?
Das ist schwierig. Wenn die Grünen etwas gut gemacht haben, ist es, sich auf eine Klientel zu konzentrieren. Das sollten wir auch tun.
Auf welche Klientel sollte sich die Linke denn konzentrieren?
Das ist die Friedens- und die soziale Frage und wir brauchen die Ostidentität zurück. Wir können den Osten nicht der AfD überlassen. Viele Ostdeutsche fühlen sich nach wie vor als Deutsche zweiter Klasse. Die Auswirkungen sind verheerend. Wenn ich im Osten Veranstaltungen mache, dann merke ich in Gesprächen auch, wie wichtig es den Menschen nach wie vor ist, dass die Linke für sie spricht.
Die Linke hat inzwischen mehr Mitglieder im Westen als im Osten. Hat Ihre Partei nicht eher ein Stadt-Land-Problem? Die Linken in den Großstädten fordern autofreie Innenstädte und ein Verbot von Verbrennern, auf dem Land verteidigen sie den Diesel, weil sie auf das Auto angewiesen sind.
Wenn wir versuchen grüner zu sein als die Grünen werden wir nicht gewählt.
Was meinen Sie mit „grüner als die Grünen“?
Wenn wir etwa noch früher aus der Kohle und noch konsequenter aus dem Verbrenner wollen. Deshalb wird keiner, der die Grünen aus ökologischen Gründen wählt, plötzlich uns wählen. Unser Stellenwert ist die soziale Frage. Und deshalb spreche ich immer von ökologischer Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung. Wir können ein Braunkohlerevier schließen, aber wir müssen den Braunkohlekumpeln sagen, welchen gleich bezahlten Job sie am nächsten Tag haben.
Genau das können Sie aber nicht.
Wir brauchen dann auch einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor und öffentliche Förderung für Landwirtschaft und Umwelt. Wir sind als Linke immer zuständig dafür, dass die soziale Frage nicht vernachlässigt wird.
Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow hat in der taz kritisch angemerkt, dass es nicht reicht zu sagen „Wir sind die soziale Opposition“.
Aber er ist in einer anderen Situation als wir im Bundestag. Er ist der Regierungschef, die Bundestagsfraktion ist die kleinste Oppositionsfraktion mit einer relativ starken Regierung.
Welche Rolle sollte die Linke in der Opposition spielen. Sind sie die Dauerkritiker:innen der Ampel?
Ja, wir sollten die Dauerkritiker sein, weil die Ampel eine Stillstandskoalition wird. Die einen wollten Steuern erhöhen, die anderen Steuern senken. Heraus kommt Null.
Was, wenn die Ampel ein Bürgergeld beschließt und Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger:innen abschafft. Kritisiert die Linke das dann auch, weil die Beträge nicht hoch genug sind?
Wenn die Ampel tatsächlich die Sanktionen abschaffen würde, werde ich dafür plädieren, dass wir dafür zu stimmen. Ich habe ja auch gesagt, es war ein großer Fehler von uns, nicht mit Ja zum Regierungsantrag für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und die Evakuierung der Ortskräfte dort zu stimmen. Es war ein Abstimmungschaos.
Wie konnte es dazu kommen?
Weil die Linken in der Fraktion alle in kleinen Grüppchen existierten. Und ihnen ihre politische Heimat wichtiger ist, als die Wirkung auf die Wählerinnen und Wähler. Die einen haben mit Ja gestimmt, die anderen mit Nein, die meisten haben sich enthalten. Mir ist es sehr schwer gefallen, mich zu enthalten.
Wieso haben Sie es dann getan?
Aus Disziplin. Weil ich den Kompromiss nicht verlassen wollte. Aber vielleicht müssen wir das alle lernen. Wir müssen als Linke lernen dann mit Ja zu stimmen, wenn etwas im Prinzip richtig ist.
Hat nicht genau diese Abstimmung zur Afghanistan-Evakuierung gezeigt, dass die Linke weit davon entfernt ist, regierungstauglich zu sein.
Sie hat gezeigt, dass es Leute gibt, die auf gar keinen Fall in die Regierung wollen. Aber das sind ja jetzt nicht mehr so viele in der Fraktion.
Mit 4,9 Prozent hat es die Linke nur dank der drei Direktmandate in den Bundestag geschafft. Wie ernst ist die Lage?
Sehr ernst. Ich glaube, dass sich die Spitzen von Partei und Fraktion treffen müssen und mit Zeit und Ruhe mal darüber nachzudenken haben, was eigentlich die künftige Rolle der Linkspartei in unserer Gesellschaft sein soll. Die ist nicht klar. Das ist ein Problem. Aber vielleicht reizt mich meine Partei auch deshalb wieder so. Zu Anwälten kommen nie glückliche Menschen, sondern Menschen mit Problemen. Das gilt auch für Parteien. Jetzt muss ich aufpassen, dass mich nicht die CDU reizt. Sie ist gerade auch in einer schwierigen Situation.
Sie lachen. Noch schwieriger als die Linke?
Ja, noch schwieriger, weil sie bedeutender ist. Wir brauchen jetzt beide etwas Zeit und Ruhe und keine Hektik, um unsere Rollen neu zu finden und zu definieren.
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