Falsches Wahlverhalten in Oder-Spree: Wie kann man nur so undankbar sein?
So viele Wahlen laufen schlecht, von der Türkei bis hin zum Landkreis Oder-Spree. Dabei wissen wir Deutsche es doch besser. Solange das uns nützt.
Diese Woche fallen überall Wahlen auf beunruhigende Art aus. 65 Prozent des „gesochs“ (Mathias Döpfner), pardon, der türkischen Staatsbürger, die hierzulande an der Präsidentschaftswahl in der Türkei teilgenommen haben, gaben Erdoğan und seiner AKP ihre Stimme. 65 Prozent für einen Autokraten! Dass Erdoğan einer ist, weiß doch dabei jeder, der deutsche Zeitungen liest und ARD-Sendungen schaut.
Die nächste schlechte Nachricht: Im Landkreis Oder-Spree in Brandenburg wurde fast ein Politiker von der AfD zum Landrat gewählt. Das wäre eine Premiere gewesen. Nur ganz knapp konnten die Kräfte der Demokratie dieses Debakel verhindern. Fast 48 Prozent stimmten hier für die AfD. Dabei wissen wir alle, dass man das nicht darf. Das weiß jeder, der die richtigen Zeitungen liest und ARD-Sendungen schaut: Die „ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig“ (Mathias Döpfner). Pardon, besorgniserregend.
Fast am schlimmsten: Am Sonntag landete der deutsche Beitrag schon wieder abgeschlagen auf dem letzten Platz beim Eurovision Song Contest. Wie kann das sein? Warum liebt uns Europa nicht? Versteht dieser Kontinent denn nicht, wie sehr wir uns für ihn aufopfern? Das versteht doch jeder, der deutsche Zeitungen liest. Was tun wir als Mehrheitsgesellschaft mit solchen Minderheiten? Was tun mit Gruppen, die sich weigern, unseren Werten zu folgen?
Offensichtlich sind sie falsch informiert: Russische Propaganda im Netz, türkischer Lügenwahlkampf in Deutschland, eingepflanzte Fake-Erinnerungen an eine bessere Vergangenheit, und ohnehin der tiefe Bildungsgrad, das erklärt einwandfrei, warum sie falsch liegen. Sie sind einfach ein bisschen dumm, pardon, uninformiert. Würden sie doch nur auch die richtigen Zeitungen lesen und ARD-Sendungen schauen.
So wenig erwartet
Sie alle haben von uns profitiert: die Ausländer, die Ostdeutschen, die Europäer. Was wir ihnen nicht alles gebracht haben: den Ausländern begehrte Jobs in unseren Autofabriken und Kohleminen, den Ostdeutschen die Demokratie und, noch viel wichtiger, die D-Mark, den Europäern die Freiheit, auf unseren Baustellen und in unseren Callcentern zu arbeiten und die Gelegenheit, mit ihren Steuern unseren Banken die Kredite auszugleichen.
Im Gegenzug haben wir doch wirklich so wenig erwartet: Nur dass die Ausländer wieder in ihr Land zurückgehen, wenn sie hier nicht mehr gebraucht werden, dass die volkseigenen Betriebe abgewickelt werden, die die Ostdeutschen ohnehin so schlecht verwaltet haben; und dann eben noch einen Markt ohne Barrieren für unsere Exportwirtschaft.
Dafür bezahlen wir hier links und rechts für kalabrische Brunnen und polnische Autobahnen. Für die Griechen haben wir sogar den volkswirtschaftlichen Karren aus dem Dreck gezogen.
Blühende Landschaften für alle
Mancher mag einwenden, die griechische Wirtschaft sei in der Krise um ein Viertel geschrumpft. Nun, offensichtlich liegt das daran, dass unsere Rezepte von diesen unfähigen, pardon, ungebildeten Griechen nicht korrekt umgesetzt wurden.
Denn die Wahrheit lautet: Wohin man schaut, sei es der Brandenburger Landkreis Oder-Spree, der Stadtteil Essen-Katernberg oder Piräus an der Ägäis: Überall blühen die Landschaften. Diese nicht wegzudiskutierenden Erfolge bilden den endgültigen Beweis dafür, dass wir am besten wissen, wie man die Welt organisieren soll. Sind wir nicht Export-, Demokratie-, Völkermord- und Aufarbeitungsweltmeister?
Diese geballte Kompetenz befähigt uns Deutsche dazu, genau zu bestimmen, was richtig ist und was falsch. Die anderen haben da mächtig Aufholbedarf. Am einfachsten wäre: Türkisches Wahlrecht nur für Deutsche. Ostdeutsches Wahlrecht nur für Westdeutsche. Und Eurovision-Televoting nur unter deutschen Anschlüssen. Dann gibt es auch das korrekte Resultat. Der Utopie stünde nichts mehr im Wege: Deutschland überall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“