Falsche Argumente über Asylrecht: Die uralten Kamellen eines renommierten Historikers
CDU-Kanzlerkandidat Merz bezog sich im TV-Duell auf den Historiker Heinrich Winkler. Doch dieser irrt, wenn er das Asylrecht im „Spiegel“ historisch beurteilt.
![Schwarz-Weiß-Fotografie. In einem mit Menschen gut gefüllten Saal unterschreibt ein Mann einen Vertrag Schwarz-Weiß-Fotografie. In einem mit Menschen gut gefüllten Saal unterschreibt ein Mann einen Vertrag](https://taz.de/picture/7522634/14/2337196-1.jpeg)
Heinrich August Winkler ist ein verdienter Historiker. Zur aktuellen Migrationsdebatte hat er allerdings kein Expertenwissen beizutragen. Insbesondere haben seine Ausführungen zur Entstehung des Grundrechts auf Asyl heute keinerlei praktische Relevanz mehr.
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Dennoch veröffentlichte der Spiegel am Wochenende einen Gastbeitrag von Winkler unter dem Titel „Die deutsche Asyllegende“. Darin argumentierte der Historiker, dass der Parlamentarische Rat bei der Schaffung des Grundgesetzes kein subjektives individuelles Asylrecht schaffen wollte, sondern nur ein institutionelles, vom Staat zu gewährendes Recht. In der heutigen Debatte werde etwas verteidigt, was eigentlich ganz anders gedacht war, so Winkler. Mit der eigentlichen Konzeption des Asylrechts wäre die von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz propagierte Zurückweisung aller Asylsuchenden an der Grenze durchaus möglich, so Winkler.
Zunächst: Das Grundgesetz wird vom Bundesverfassungsgericht ausgelegt und nicht von Geschichtsprofessoren. Das Bundesverfassungsgericht hat aber das Asylrecht in ständiger Rechtsprechung als subjektives Grundrecht verstanden.
Dass Winkler die Karlsruher Urteile als „eigenwillig und anfechtbar“ bezeichnet, ist für einen Nichtjuristen bemerkenswert. Was Winkler wohl nicht weiß: Die historische Auslegung einer Grundgesetznorm ist nur eine von vier parallel anzuwendenden Auslegungsmethoden, neben Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck.
Mit zunehmendem Abstand wird die historische Auslegung unwichtiger. Deshalb lag Karlsruhe nicht falsch, als es zu anderen Ergebnissen kam als Winkler.
Die Kontroverse über das deutsche Grundrecht auf Asyl ist aber auch schon sehr lange überholt. Der heute 86-jährige Winkler schlägt hier Schlachten vergangener Jahrzehnte.
Bereits 1993, vor mehr als 30 Jahren, wurde das deutsche Grundrecht auf Asyl nach einer jahrelangen Hetzkampagne der CDU/CSU weitgehend abgeschafft.
Das Asyl-Grundrecht wurde damals nicht, wie Winkler meint, um „Detailbestimmungen“ ergänzt, sondern fast völlig entleert.
Das Grundrecht gilt nicht mehr für Flüchtlinge, die Deutschland über einen sicheren Drittstaat erreichen. Da Deutschland von EU-Staaten und der Schweiz umgeben ist, gilt das Grundrecht auf Asyl für 99 Prozent der Flüchtlinge nicht mehr.
Winkler hat recht, dass es heute immer noch Politiker:innen gibt, die sich in der Auseinandersetzung mit Friedrich Merz auf das Asyl-Grundrecht berufen. Leider gehört auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) dazu. Um das Argument von Scholz ins Leere laufen zu lassen, braucht Merz aber nicht die historische Hilfe von Winkler, es genügt ein Verweis auf Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes. Dort ist die faktische Irrelevanz des Grundrechts heute festgeschrieben. Um es deutlich zu sagen: Wer heute noch mit dem Grundrecht auf Asyl argumentiert, verschafft Merz und der AfD einfache argumentative Erfolge. Bei Sozialdemokraten wie Scholz ist das besonders zynisch.
Schließlich hat die SPD 1993 der CDU/CSU bei der faktischen Abschaffung des Asylrechts zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit verholfen. Die Zurückweisung aller Asylsuchenden an der deutschen Grenze verstößt also nicht gegen das Grundgesetz, aber gegen EU-Recht. Die Europäische Union verfügt längst über ein eigenes harmonisiertes Asylsystem. Auch der Individualanspruch auf Asyl beruht heutzutage auf EU-Recht, das im deutschen Asylgesetz umgesetzt wurde.
Ab 2026 wird es eine direkt geltende EU-Verordnung geben. Für die Auseinandersetzung mit dem EU-Asylrecht ist Winklers Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes völlig irrelevant. Es geht hier um neues Recht auf einer höheren, vorrangigen Ebene. Nun erwartet niemand von einem 86-jährigen Historiker, dass er sich mit dem EU-Asylrecht auskennt. Aber vom Spiegel könnte man doch so viel Fürsorge für den eigenen Autor erwarten, dass er darauf verzichtet, einen so peinlich veralteten Text abzudrucken.
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