Ex-Chefinnen der Grünen Jugend: „Wir dachten, wir könnten zu gesellschaftlichem Druck beitragen“
Die ehemaligen Chefinnen der Grünen Jugend rechnen mit der Partei ab. Die Abtrünnigen planen jetzt einen Kongress – und kostenlose Nachhilfe für Arme.
taz: Frau Appuhn, Frau Stolla, seit einer Woche sind Ihre Nachfolger*innen an der Spitze der Grünen Jugend im Amt. Ihre Zeit bei den Grünen ist endgültig vorbei. Wie war der Abschied?
Svenja Appuhn: Bewegend und traurig. Man tritt ja nicht jeden Tag aus seiner Partei aus. Wir waren beide sehr lang Mitglied und haben in der Grünen Jugend politisch laufen gelernt. Aber wir haben uns den Schritt gut überlegt und sind jetzt gespannt auf das nächste Kapitel.
taz: Gab es ein Abschlussgespräch mit Robert Habeck?
Katharina Stolla: Wir haben ihn über unseren Schritt informiert und uns verabschiedet.
taz: Wann fiel Ihre Entscheidung, mit den Grünen zu brechen?
Stolla: Final in den letzten Wochen. Der Entfremdungsprozess dauerte aber schon länger.
Appuhn: Wir haben beobachtet, dass die Partei einen zunehmend konservativen Kurs fährt. Wir haben nicht mehr gesehen, dass sie die Ambition hat, die Gesellschaft so grundsätzlich zu verändern, wie wir das für nötig halten. Und wir haben immer stärker daran gezweifelt, dass wir sie zu diesen Veränderungen treiben können.
Svenja Appuhn und Katharina Stolla, beide 26, waren seit Oktober 2023 Bundessprecherinnen der Grünen Jugend. Ende September kündigten sie an, die Partei zu verlassen und einen neuen Jugendverband mit dem vorläufigen Namen „Zeit für was Neues“ zu gründen.
taz: Gab es einen entscheidenden Anlass?
Appuhn: Es gab nicht den einen Anlass, sondern mehrere Erlebnisse. Eines war die Bundesdelegiertenkonferenz im letzten Herbst. Wir hatten beantragt, dass es keine weiteren Asylrechtsverschärfungen geben soll. Robert Habeck hat in seiner Gegenrede den Delegierten die Pistole auf die Brust gehalten und gesagt: Die Grüne Jugend will, dass wir aus der Regierung rausgehen. Dann waren die Mehrheiten sehr schnell klar.
taz: Im Rechtsruck sehen Sie die Grünen als Teil des Problems statt als Teil der Lösung?
Appuhn: Einerseits sind die Grünen Leidtragende des Rechtsrucks. Sie erleben enorme Anfeindungen. Andererseits haben sie keine Gegenstrategie, lassen sich von Rechts treiben und tragen in der Ampel rechte Migrationspolitik mit. Aber weshalb kann die Regierung denn so getrieben werden? Weil viele Menschen unter den Krisen leiden und enorme Abstiegsängste haben. Die Rechten sind gerade sehr gut darin, die allgemeine Unzufriedenheit in Stimmung gegen Minderheiten umzuleiten.
Stolla: Die Frage ist, wie man als politische Kraft nicht am Gegenwind verzweifelt, sondern sich selbst wieder Rückenwind organisiert. Man muss den Menschen das Gefühl geben, dass man konsequent an ihrer Seite steht. Und dafür muss man die soziale Frage in den Fokus nehmen, statt sie als eine von vielen zu behandeln und sie deshalb immer wieder hinten runter fallen zu lassen.
taz: In den grünen Programmdebatten und der Analyse der letzten Wahlniederlagen spielen soziale Fragen doch eine große Rolle.
Appuhn: Das beste Programm der Welt bringt nichts, wenn es nicht umgesetzt wird.
Stolla: Gerade bei sozialen Fragen ziehen die Grünen immer wieder den Kopf ein, wenn es hart auf hart kommt und man sich wirklich mit den Interessen der Reichen anlegen müsste – etwa beim Lieferkettengesetz oder der Begrenzung von Mieten. Die Partei ist nicht in der Lage, solche Konflikte zu führen.
taz: Warum sind die Grünen Ihrer Ansicht nach so konfliktscheu?
Appuhn: Das kann man zum Beispiel an ihrer Wahlwerbung festmachen. In den Spots packen sich der Unternehmer, die Krankenschwester und der Müllmann an den Händen und bringen das Land gemeinsam voran. Natürlich will ich auch, dass alle eine gute Zukunft haben. Aber die Grünen verkennen, dass es handfeste Klassengegensätze gibt.
Stolla: Es gibt in der grünen Partei kein breit geteiltes Bewusstsein dafür, klar auf der Seite der Lohnabhängigen zu stehen.
taz: Nicht alle gesellschaftlichen Konflikte lassen sich mit Klassengegensätzen erklären. Die grüne Kompromissbereitschaft kann also auch nicht nur mit einem fehlenden Klassenbewusstsein zu tun haben.
Stolla: Was die Grünen stark charakterisiert: Sie denken Veränderungen vor allem übers Regieren. Daher geht es ihnen immer darum, an der Regierung zu bleiben oder schnellstmöglich wieder in die Regierung zu kommen, und deshalb tragen sie ständig Kompromisse mit, die sie selber schlecht finden. Diese Strategie kann nicht aufgehen. Macht hat man doch dann, wenn man die gesellschaftlichen Mehrheiten verschieben kann.
Appuhn: Die Entwicklung der Grünen ist ja auch spannend: Sie waren mal extrem staatskritisch. Jetzt wünscht man sich, Angela Merkel zu ersetzen.
taz: Bewirkt der linke Flügel der Partei Ihrer Ansicht nach denn nichts?
Appuhn: Er nimmt immer wieder Anlauf zum Aufstand. Aber dann werden kleine Verbesserungen verhandelt und obwohl man das Ergebnis immer noch für falsch hält, wird der Aufstand in letzter Minute abgeblasen. Besonders in Erinnerung bleibt der Länderrat vor eineinhalb Jahren, als es um die Zustimmung zu den europäischen Asylrechtsverschärfungen ging. Gemeinsam mit dem linken Flügel wollten wir die Zustimmung hart an bestimmte Kriterien binden. Er hat aber im letzten Moment zurückgezogen – und wir standen alleine da.
taz: Dass Sie mit den Grünen in der Ampel keine klassenlose Gesellschaft erkämpfen werden, hätte Ihnen schon früher klar sein können. War es ein Fehler, vor einem Jahr überhaupt für die Spitze der Grünen Jugend zu kandidieren?
Stolla: Nein. Die Ampel reagiert auf Druck und wir dachten, wir könnten mit der Grünen Jugend zu gesellschaftlichem Druck beitragen.
Appuhn: Stattdessen haben wir uns aber ständig mit verschränkten Armen vor dem Bundestag wiedergefunden, weil die Regierung mal wieder etwas beschlossen hat, was wir falsch finden. Man ist empört und bekommt dafür viel Öffentlichkeit, aber es ändert sich nichts. Schlimm wird es dann, wenn die vormals linken Köpfe in der Partei zunehmend assimiliert werden und irgendwann die Politik verteidigen, die sie früher kritisiert hätten. So wird Linkssein zur Jugendsünde. Aus dieser Dynamik wollten wir raus.
taz: Aus der Grünen Jugend gab es zum Abschied viel Kritik an Ihnen. Sie hätten die Mitglieder hintergangen und die Verbandsstrukturen ausgenutzt.
Stolla: Ich verstehe, dass es Frust gibt. Uns ist wichtig: Unser neuer Verband ist noch nicht gegründet und es sind auch keine Ressourcen der Grünen Jugend in das Projekt geflossen.
taz: Ein weiterer Kritikpunkt: Sie hätten zu viel Zeit im Marx-Lesekreis verbracht und zu wenig in der politischen Praxis.
Appuhn: Man sollte Theorie und Praxis nicht gegeneinander ausspielen. Wer die Welt verändern will, muss sie verstehen. Und wenn man sich anschaut, wie die Vermögensverteilung derzeit global auseinandergeht, schadet es nicht, Marx zu lesen. Auf der Straße waren wir trotzdem: Wir haben uns aktiv an einer Kampagne mit Verdi und Fridays For Future beteiligt. Wir waren in ganz Deutschland auf Betriebshöfen unterwegs, haben versucht, mit Busfahrerinnen und Busfahrern für bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV zu streiten. In unserer Kampagne zur Europawahl sind wir explizit in Stadtteile gefahren, in denen Parteien normalerweise nicht ihre Zelte aufbauen.
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taz: Sie gründen jetzt einen neuen Jugendverband. Was genau haben Sie vor?
Appuhn: Wir wollen all die jungen Menschen erreichen, die zu Recht das Gefühl haben, dass sich niemand um sie kümmert. Denkbar sind Beratungsangebote für Menschen, die vom Vermieter abgezockt werden oder kostenlose Lernangebote für diejenigen, die kein Geld für Nachhilfe haben. Wir wollen das nicht einfach als Charity-Projekt machen. Wo der Staat versagt, wollen wir unsere Arbeit mit Kampagnen verbinden und Druck auf die Politik ausüben.
taz: Die KPÖ, bei der sich ehemalige österreichische Jung-Grüne engagieren, fährt ein ähnliches Konzept – ist damit aber gerade bei der Nationalratswahl gescheitert.
Stolla: Bei der KPÖ läuft viel über lokale Verankerung und langfristigen Aufbau. Dort, wo das funktioniert, hat sie sehr starke Wahlergebnisse. Die Menschen haben das Gefühl: Da ist eine Partei wirklich für mich da.
taz: Schließen Sie sich der Linkspartei an? Oder warten Sie ab, um nicht mit ihr unterzugehen?
Appuhn: Wir machen erst mal das, was wir können, nämlich eine Jugendorganisation. Wir wollen ausprobieren, was überhaupt funktioniert.
taz: Die Linkspartei ist Ihnen inhaltlich sehr nahe – und steht vor dem Abgrund. Vielleicht gibt es in Deutschland doch kein Potenzial für Ihre Forderungen.
Appuhn: Für bezahlbaren Wohnraum, eine gute Gesundheitsversorgung und eine gerechtere Vermögensverteilung gibt es riesige Mehrheiten. Sie sind nur nicht organisiert. Ein Problem der gesellschaftlichen Linken insgesamt ist, dass es in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Abwendung von sozialen Fragen gab – und eine starke Hinwendung zu kulturellen und Antidiskriminierungs-Fragen. Dabei ist passiert, was gar nicht hätte passieren müssen: Das Verbindende ging verloren. Menschen haben Linke immer weniger als diejenigen erlebt, die sich um ihre Lebenssituation sorgen und mehr als diejenigen, die ihnen sagen, wie sie zu reden und zu denken haben. Das muss sich ändern.
taz: So lange man sich für soziale Fragen interessiert, darf man in Ihrem Verband auch das N-Wort sagen?
Stolla: Es geht darum, wie man mit Menschen umgeht, die bestimmte Verhaltensweisen nicht gelernt haben. Wehrt man sie reflexhaft ab oder hört man Ihnen zu? Als ich zu den Grünen gekommen bin, war eine der ersten Sachen, die ich gelernt habe, wie man richtig gendert. Ich finde es vollkommen in Ordnung, wenn Leute das nicht können. Das heißt ja nicht, dass sie queerfeindlich sind.
taz: Sie reden viel über Klassenpolitik. Ist das Klima zweitrangig?
Appuhn: Es gibt eine total arrogante Debatte, die den Menschen unterstellt, sie wollten keinen Klimaschutz. Aber jede Studie widerlegt das. Eine Krankenschwester, die im Sommer bei über 30 Grad in einem nicht klimatisierten Krankenhaus arbeitet, weiß genau, was der Klimawandel bedeutet. Das Problem ist, dass in der Klimapolitik in den letzten Jahren immer mehr gesagt wurde: Man muss den Leuten was zumuten. Aber wem mutet man die Lasten denn zu? In einer Klimapolitik, die nicht vorher die Verteilungsfrage klärt, zahlt die breite Bevölkerung statt der Reichen und der großen Verschmutzer. Das wollen die Leute nicht.
taz: Erst müssen wir die sozialen Fragen klären und dann klappt alles andere schon – ist das nicht etwas zu einfach gedacht?
Stolla: Es geht nicht um die Reihenfolge.
Appuhn: Die soziale und die ökologische Frage sind doch untrennbar miteinander verknüpft. Ein Beispiel: Handy-Hersteller programmieren ihre Geräte so, dass sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr funktionieren und neu gekauft werden müssen. Das ist schlecht für die Umwelt und für den Geldbeutel. In der Logik dieses Wirtschaftssystems ist es für das Unternehmen aber sehr rational, so zu handeln. Das ist doch irre.
taz: Sie wollen also den Kapitalismus überwinden.
Appuhn: Ist doch eine gute Idee.
taz: Etliche linke Strukturen und auch die Linkspartei zerlegen sich gerade wegen des Nahost-Konflikts. Wie gehen Sie damit um?
Appuhn: Wir haben im vergangenen Jahr in der Grünen Jugend Positionen gefunden, die ich persönlich immer noch vertrete: Ich bin für die sofortige Freilassung der Geiseln, für einen Waffenstillstand und für eine Aussetzung der Waffenlieferungen. Aber Außenpolitik wird nicht der Fokus dieser Organisation sein.
taz: Haben Sie einen konkreten Zeitplan für Ihr Projekt?
Stolla: Auf unserer Internetseite haben sich mehr als 4.000 Interessierte gemeldet. In den nächsten Wochen wollen wir so richtig loslegen. Es wird eine Konferenz geben und zeitnah auch erste Treffen und Aktionen.
taz: Gibt es schon einen Namen? Beim aktuellen Arbeitstitel wird es wohl kaum bleiben?
Appuhn (lacht): Gefällt Ihnen „Zeit für was Neues 2024“ nicht?
taz: Geht so.
Appuhn: Danke für das Feedback. Der Verband ist noch nicht gegründet. Insofern hat er auch noch keinen Namen.
taz: Und von welchem Geld machen Sie das alles?
Stolla: Wir haben in dieser Woche eine Spendenkampagne gestartet, denn wir haben erst mal kein Geld.
Appuhn: Vom Standard her wird es jedenfalls ein Bruch. Wir werden in nächster Zeit viel Regionalexpress fahren. Die Zeit der ICE-Tickets ist vorbei.
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