Evangelikale Glaubensformen: Gotteskrieger aus Schwaben
Sie leben in konservativen Weltbildern und legen die Bibel wörtlich aus. Evangelikale Bewegungen haben Zulauf in Schwaben – auch wegen Corona.
Jakob Tscharntke steht an einer schmucklosen weißen Kanzel. Im Hintergrund eine schnöde, gräuliche Raufasertapete, daneben eine Vase, lieblos gefüllt mit ein paar Blumen. Rund 45 Minuten lang spricht er über den Unsinn der Coronamaßnahmen, von Politikern, die Verbrecher am eigenen Volk sind, von Zwangsmaßnahmen. Zu sehen ist Tscharntke in einem Video auf Youtube, entstanden ist es in Riedlingen, einem Städtle am Südrand der Schwäbischen Alb.
Rund 10.000 Menschen leben hier. Beschaulich ist es, viel Fachwerk, ein beliebtes Ausflugsziel für Radtourist:innen. Am Stadtrand liegt die Evangelische Freikirche Riedlingen. Von dort aus predigt Tscharntke in die Welt hinaus. Der Pastor von der Schwäbischen Alb erreicht über seinen Youtube Kanal mit seinen Coronapredigten teilweise mehr als hunderttausend Zuschauer:innen. Seit Jahren lässt sich Tscharntke vor allem über Migrationspolitik aus, jetzt geht es um den „Coronawahnsinn“. Sogar die Löschung eines seiner Coronavideos auf den Onlineplattformen hat er schon geschafft.
Bis zu 30.000 Anhänger:innen der evangelikalen-freikirchlichen Bewegung gibt es Schätzungen zufolge in Württemberg. Verwurzelt ist die Strömung im Pietismus. Zu den Hochburgen im Ländle zählen die Gebiete rund um Stuttgart, also der Rems-Murr-Kreis, Kornwestheim, der nördliche und östliche Schwarzwald und die Schwäbische Alb. Vor allem im ländlichen Raum versammeln sich die Freikirchlichen.
Ihren Ursprung hat die Glaubensform im späten 18. Jahrhundert. Im Kern ging es darum, das eigene Glaubensleben zu intensivieren. Daraus entstand der Pietismus oder die Erweckungsbewegung. Im Zentrum der Reformen: die Bibel als höchste Autorität, und zwar in ihrer wortwörtlichen Auslegung. Hochburgen der Bewegung in Deutschland sind Baden-Württemberg, aber auch das Rheinland, Sachsen, das Siegerland.
„In der evangelikalen Bewegung ist bei aller Verschiedenheit wahrzunehmen, dass die Welt da draußen in Gut und Böse eingeteilt wird, es also zu einem Schwarz-Weiß-Denken kommen kann“, sagt Gunda Werner. Sie ist Theologin und leitet das Institut für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft an der Universität Graz.
Das Spektrum ist vielfältig. Evangelikale Gruppen, Pfingstkirchen, charismatische Kirchen. Was sie verbindet? „Eine Art Moderne-Müdigkeit, das Gefühl, dass traditionelle Werte nicht mehr gelten“, sagt Werner. Die Anhänger:innen sprechen oft von der Rettung des Abendlands, von der Missionierung Nichtgläubiger. Häufig mit martialischen Begriffen. Die Rede ist von den Soldaten, die vor der Schlacht stehen, vom Krieg, der bevorsteht.
Apokalyptischer Kampf
Hans-Ulrich Probst, Referent für die Themen Populismus und Extremismus bei der Evangelischen Kirche in Württemberg, beobachtet seit mehreren Jahren eine stärker werdende Politisierung in evangelikalen-freikirchlichen Gruppierungen in der Region. „Antworten mit der Hand auf der Bibel sind attraktiv“, sagt Probst. Gemeint ist, Vielfalt, diverse Lebensentwürfe, Kontrollverlust, das Ungewisse der Zukunft, soziale Identitäten machen Angst.
Empfohlener externer Inhalt
Ein Schlüsselmoment 2013 war die Neufassung des baden-württembergischen Bildungsplans. Dass dort geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Querschnittsthema auftauchen sollten, löste Empörung aus. Höhepunkt war die „Demo für Alle“ in Stuttgart, an der rund 30.000 Menschen teilnahmen. Auftrieb bekam die Bewegung 2014 und 2015 mit der Ankunft vieler Geflüchteter.
Einzelne freikirchliche Pastoren, wie Jakob Tscharnke aus dem schwäbischen Riedlingen, begannen in ihren Predigten einen geplanten Bevölkerungsaustausch darin zu erkennen. Die große Mehrheit des Pietismus engagierte sich jedoch für Geflüchtete. Und nun Corona. Die Pandemie ist für viele Evangelikale ein Zeichen für den apokalyptischen Kampf. Und Zeit sich zu radikalisieren.
Vor allem über Youtube, Telegram oder Twitter werden die kruden Haltungen verbreitet. Und natürlich über traditionelle Kanäle wie das Magazin Idea. Laut Probst kommt es in Publikationen zur Verbindung von christlichen und rechtspopulistischen Themen. Das Magazin habe eine Art Scharnierfunktion, sagt er.
Mobilisiert wird aber auch bei Großveranstaltungen, die besonders junge Leute anlocken sollen. Zum Beispiel die Nightfever-Abende. „Einfache Sprache wird dort tituliert. Komplexität wird nicht gesucht“, sagt Theologin Werner. In Stuttgart soll bereits im März ein Nightfever-Happening stattfinden. Und auch Jakob Tscharntke wird weiter gegen die Coronamaßnahmen wettern. Online natürlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen