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Ersatzfreiheitsstrafen in BerlinFür Armut bestraft

Jetzt landen Menschen wieder im Knast, die Geldstrafen nicht bezahlen können, etwa wegen Fahrens ohne Ticket. Ak­ti­vis­t*in­nen arbeiten dagegen an.

Bald wieder voll besetzt: Zellen in der JVA Plötzensee Foto: dpa

Berlin taz | In Haus A der Justizvollzugsanstalt Plötzensee bereitet man sich schon vor. Noch sind viele der Zellen leer, aber ab 1. Juni wird sich das ändern. Wer Geldstrafen nicht bezahlen kann, muss dann wieder ins Gefängnis: Die coronabedingte Aussetzung der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen endet.

In Berlin betrifft das vor allem Menschen, die wiederholt ohne Ticket gefahren sind, mit Drogen oder bei kleineren Diebstählen erwischt wurden. Fast alle gehören zu den Ärmsten – Drogenabhängige, die für den nächsten Schuss klauen, viele sind obdachlos. Das Land unterhält hier in Plötzensee ein eigenes, berüchtigtes Gefängnis für die „Ersatzfreiheitsstrafer“.

„Dann bestrafen wir wieder Menschen für ihre Armut“ sagt Mitali Nagrecha. Die Juristin ist Gründerin des Justice Collective, Teil eines breiten Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreitsstrafen, sie plant zusammen mit anderen Ak­tivist*in­nen für den 31. Mai eine Aktion gegen „diese große Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit“.

Die Ersatzfreiheitsstrafen sind ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, das sich bis heute als Teil unseres Rechtssystems gehalten hat. Am Anfang steht eine Geldstrafe, die – häufig ohne Gerichtsverfahren – immer dann verhängt wird, wenn eine Gefängnisstrafe nicht angemessen erscheint. Die Geldstrafe wird in Tagesätzen bemessen, die Höhe des Tagessatzes richtet sich nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten. Eine Geldstrafe von 200 Euro – das können zum Beispiel 40 Tagessätze à 5 Euro sein. Kann die verurteilte Person die 200 Euro nicht bezahlen, muss sie also für 40 Tage ins Gefängnis.

Seit rund 30 Jahren steigt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen deutlich. Das hat auch mit einer durch die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik verschärften Spaltung der Gesellschaft zu tun, an deren Rand die Gering- und Gar­nichts­ver­die­ne­r*in­nen stehen. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass die Ersatzfreiheitsstrafen den größten Teil aller Gefängnisstrafen ausmachen. In der JVA Plötzensee sitzt im Durchschnitt fast ein Drittel der Ersatzfreiheitsstrafer wegen wiederholten Fahrens ohne Fahrschein ein, die sogenannte Leistungserschleichung – dies wiederum ist ein Straftatbestand aus der Nazizeit.

Deutsche Klassenjustiz

Mitali Nagrecha ist amerikanische Juristin. Vor einigen Jahren hat sie begonnen, sich mit dem deutschen System der Geldstrafen für minderschwere Delikte zu beschäftigen, „weil es eine Alternative hätte sein können zum offensichtlich ungerechten amerikanischen System“. Doch ihre Analyse des vermeintlich neutralen deutschen Rechtssystems ist vernichtend: Klassenjustiz, ungerecht in Sachen Einkommensunterschiede und Strafangemessenheit. Inzwischen lebt Nagrecha in Berlin, die Abschaffung des Geld- und Ersatzfreiheitsstrafensystems ist ihr ein besonderes Anliegen.

Aber wie kann es ungerecht sein, wenn die Geldstrafen umso niedriger sind, je weniger jemand verdient? Nagrecha erklärt: weil erstens vor allem Armutsdelikte überhaupt bestraft werden – hier spielten Klassismus und auch Rassismus eine große Rolle. Und weil sich zweitens die Richter*innen, die in aller Regel einer anderen Schicht entstammen als die, über die sie richten, oft gar nicht vorstellen könnten, wie wenig Geld ein armer Mensch aufbringen kann. Wer von 350 Euro im Monat lebt, ohne jede Reserve, für den sind 200 Euro ein Vermögen. Für Drogenabhängige und Obdachlose sind solche Summen oft schlicht nicht aufzubringen.

Die Debatte über diese Unangemessenheit ist nicht ganz neu. In Fachkreisen wird sie schon länger geführt, an die Oberfläche einer breiteren Öffentlichkeit hat sie das Buch des Juristen Ronen Steinke („Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“) und die Aktion des Freiheitsfonds gespült. Der Freiheitsfonds kauft aus Spenden Ersatzfreiheitsstrafer, die wegen Fahrens ohne Ticket einsitzen, frei. 157 Personen waren das bisher in Berlin mit 10.238 Hafttagen, also insgesamt 28 Jahren Gefängnis. An Spenden hat das rund 150.000 Euro gekostet, gespart hat es 1,5 Millionen Euro Kosten, rechnet der Fonds vor – denn ein Hafttag in einem Berliner Gefängnis kostet rund 150 Euro.

Und auch wenn das nicht die tatsächliche Ersparnis ist – die Haftplätze werden ja trotzdem vorgehalten – betrachten selbst die Gefängnisdirektoren die Ersatzfreiheitsstrafen in vielen Fällen als unverhältnismäßige Ressourcenverschwendung. Denen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein hierher müssen, „legen wir schon bei der Ankunft das Anmeldeformular für den Freiheitsfonds vor“, erzählt der stellvertretende Anstaltsleiter der JVA Plötzensee, Detlef Wolf. Außerdem sollen künftig durch systematische Gnadenerlasse Ersatzfreiheitsstrafer schneller wieder entlassen werden, die dement sind (gar nicht selten, heißt es aus der JVA) oder bei denen durch die Haft der Verlust eines Therapie- oder Wohnplatzes droht. Ein entsprechendes Konzept sei noch in der Abstimmung zwischen den Haftanstalten und der Gnadenstelle bei der Justizverwaltung.

Bald wieder überfüllt

Vor Corona saßen in den Berliner Gefängnissen im Wochendurchschnitt weit über 300 Er­satz­frei­heits­strafer*in­nen ein. So viele, dass Haus A in Plötzensee längst nicht ausreichte. Wenn die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafen nun ausläuft, werden die Gefängnisse wieder überfüllt sein, befürchten Ak­ti­vis­t*in­nen wie Mitali Nagrecha oder Arne Semsrott vom Freiheitsfonds. Deshalb fordern sie die neue Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) auf, die Aussetzung und Gnadensammelerlasse beizubehalten.

Die Justizsenatorin lehnt das auf Anfrage der taz ab. Die Maßnahmen hätten dem Infektionsschutz gedient, das strukturelle Problem der Ersatzfreiheitsstrafen lasse sich damit nicht lösen, heißt es aus Krecks Verwaltung. Außerdem müsse man unterscheiden: Vergehen wie Fahren ohne Ticket sollten klar entkriminalisiert werden, bei der Jus­tiz­mi­nis­te­r*in­nen­kon­fe­renz am 1. Juni will Berlin deshalb einen entsprechenden Antrag einbringen. Bei anderen Geldstrafen wolle man hingegen besser darauf hinwirken, dass die Verurteilten das Geld abzahlen oder abarbeiten könnten.

Für Nagrecha vom Justice Collective ist diese Vorstellung illusorisch: „Leute, die nicht zahlen können, können aus den gleichen Gründen oft auch nicht arbeiten.“ Die Grundfrage bleibe, ob Menschen für Versäumnisse der Gesellschaft bestraft werden und das Strafsystem weiter dem Erhalt der herrschenden Machtverhältnisse dienen sollten. Aber die Aktivistin ist auch realistisch und weiß: „Beim Fahren ohne Ticket ist jetzt etwas drin, das ist in der Diskussion.“ Für eine tiefgreifende Reform des Strafsystems bei minderschweren Delikten „brauchen wir mehr Zeit, Überzeugungsarbeit und Kreativität“.

Vor der JVA Plötzensee wollen Nagrecha und ihre Mit­strei­te­r*in­nen am 31. Mai ab 10 Uhr demonstrieren, Teile des Bündnisses reisen außerdem zur Übergabe einer Petition zur Jus­tiz­mi­nis­te­r*in­nen­kon­fe­renz ins bayerische Schwangau. Das Ziel: Wenigstens für Fahren ohne Ticket sollte niemand mehr ins Gefängnis müssen.

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29 Kommentare

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  • Rot-Rot-Grün in Berlin könnte zumindest Einkommen-abhängig Jahrestickets für den ÖPNV für umsonst raus geben. Steht doch schon (für alle!) im Programm einer der Koalitionsparteien.

    Ansonsten weitermachen wie bisher. Es gibt ja auch Schwarzfahrer ohne psychologische Probleme aus politischen Prinzip (jene die seit 1917 denken das das Nicht-Einlösen eine Fahrkarte zur Revolution dazu gehört 🤪).

  • Durch was soll den die Ersatzfreiheitsstrafe ersetzt werden?

    • @Blechgesicht:

      Durch gemeinnützliche Arbeit. Ein voller Sack Müll 10 Euro.

      • @HAHABerlin:

        Im Text wurde aber auch geschrieben dass, viele der Insassen krank, psychisch angeschlagen oder drogenabhängig sind da wäre gemeinnützige Arbeit wahrscheinlich auch nur unter massiver Bewachung/Anleitung/Betreuung möglich. Was dann wiederum genauso teuer und menschenunwürdig wie die Ersatzfreiheitsstrafe wäre.

  • 100% Zustimmung, die Leute die dort straffällig sind sind überwiegend verarmt, haben psychische Probleme und sind vielmehr ein Fall für eine sozialpsychologische Betreuung als für den Knast.



    Unser auf Strafe und Vergeltung ausgelegtes Rechtssystem müsste auch an dieser Stelle renoviert werde.



    Abgeltung einer Strafe per Gefängnis ist grundsätzlich zu überdenken. Bei den hier beschriebenen Sachverhalten sowieso.

  • taz: „Dann bestrafen wir wieder Menschen für ihre Armut“ sagt Mitali Nagrecha. Die Juristin ist Gründerin des Justice Collective, Teil eines breiten Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen. Die Ersatzfreiheitsstrafen sind ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, das sich bis heute als Teil unseres Rechtssystems gehalten hat.

    Wie doch jeder weiß, ist Armut nur eine Ausrede für Faulheit. Man muss einfach nur das Buch von dem Aktienexperten der CDU und ehemaligen BlackRock-Lobbyisten Friedrich Merz lesen und schon gehört man auch zu den Reichen. ***Reich dank Friedrich Merz - Browser Ballett - ARD*** www.youtube.com/watch?v=puMte5W3TGs

    taz: "In Berlin betrifft das vor allem Menschen, die wiederholt ohne Ticket gefahren sind ..."

    Bei 'Fahren ohne Fahrschein' ("Erschleichen von Leistungen") handelt es sich übrigens um den § 265a StGB, der am 1. September 1935 in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Jan Böhmermann hat über diesen 'Naziparagraphen' aus dem Jahr 1935 auch schon eine Sendung gemacht. ***Fahren ohne Fahrschein: Unnötigste Straftat seit 1935 | ZDF Magazin Royale*** www.youtube.com/watch?v=iWX3pqbidKk

    • @Ricky-13:

      Das 1935-Argument ist natürlich ein ganz brandheißer Diskussionsbeitrag. Holla die Waldfee...

      Aber nicht jeder Straftatbestand, den sich die Nazis ausgedacht haben, ist per se ein ideologisches Werkzeug der Menschenverachtung. § 265a diente nur der "rechtstechnischen" Schließung einer Strafbarkeitslücke, die aus den damals aufkommenden Fahrkartenautomaten und -entwertern resultierte: Die hatten gegenüber leibhaftigen Schaffnern den rechtlichen Nachteil, dass man sie nicht "täuschen" kann. Die Verwendung eines öffentlichen Verkehrsmittels konnte man sich daher zwar wie bei einem Betrug erschleichen (so tun, als habe man bezahlt, um die Transportleistung in Anspruch nehmen zu können), aber der tatbestandliche menschliche Irrtum, den der Betrüger dabei erzeugt, fehlte.

      Ich würde auch spekulieren, dass es nicht geifernde Rassenideologen waren, die diese Lücke geschlossen sehen wollten, sondern von der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Tram- und Busbetreiber und die Reichsbahn. Dass das "Erschleichen von Leistungen" tendenziell immer schon auch eine "Armutstat" war, dürfte entsprechend auch eher in Budget- als in Menschenrechtserwägungen untergegangen sein.

      Und Budgeterwägungen sind KEIN Phänomen, das mit den Nazis das Zeitliche gesegnet hat. Tatsächlich liegen die jeweiligen Verkehrsbetriebe vielen öffentlichen Trägern arg auf der Tasche, und es gibt eben nicht nur arme Menschen sondern auch arme Kommunen. Wer weiß, dass er mit seinem Verkehrsbetrieb sogar Gewinn machen könnte (statt dort ständig mit eigentlich nicht vorhandenem Geld Löcher stopfen zu müssen), WENN nur alle Fahrgäste ihre Tickets bezahlen würden, der freut sich über jeden nachdrücklichen "Anreiz" für sie, das auch zu tun.

      Von daher kann man natürlich über kostenfreie Nutzung von ÖPV für sozial Schwache als Teil der Daseinsvorsorge diskutieren, aber "1935" hat damit eigentlich nicht so arg viel zu tun.

      • @Normalo:

        Das müssen Sie nicht mir erzählen, sondern Jan Böhmermann, denn der sprach vom 'Naziparagraphen § 265a StGB'. Und die kleine Waldfee hat damit schon gar nichts zu tun.

        "Der Jurist und Journalist Ronen Steinke weist in seinem Buch 'Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz' auf ein grundsätzliches Problem hin, das nicht nur, aber auch mit der Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein zu tun hat: Die Ersatzfreiheitsstrafe ist inzwischen die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland geworden. Mehr als die Hälfte derer, die hierzulande eine Haftstrafe antreten, sind Verbüßer von Ersatzfreiheitsstrafen. Steinke spricht daher von Gefängnissen als neuen Schuldtürmen. Früher war die Ersatzfreiheitsstrafe eine Ausnahme, schreibt er, doch mit steigender Armut stieg der Anteil der Häftlinge in deutschen Gefängnissen, die eigentlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, sie aber nicht begleichen können. 2019 waren das schätzungsweise 51.000 Personen – genaue Zahlen werden seit 2003 nicht mehr erhoben –, mehrere tausend davon wegen Fahrens ohne Fahrschein. Die Ampel stellt in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht, „das Sanktionssystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen“ zu überarbeiten. Auf Nachfrage bestätigt das Bundesjustizministerium, dass geprüft werde, „ob beim Thema Erschleichen von Leistungen nach § 265a StGB und Ersatzfreiheitsstrafen Handlungsbedarf besteht“. Eine Entkriminalisierung fordern seit längerem unter anderem die Linkspartei, die Grünen, der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltverein." [Quelle:



        "Haftgrund: Armut" - 'der Freitag']

    • @Ricky-13:

      "Wie doch jeder weiß, ist Armut nur eine Ausrede für Faulheit. Man muss einfach nur das Buch von dem Aktienexperten der CDU und ehemaligen BlackRock-Lobbyisten Friedrich Merz lesen "

      Merz ist die große billige Ausrede der Regierenden der Rot-Rot-Grünen Koalition (& Friends) in Berlin dafür, dass diese die Versprechungen as ihren Wahlprogrammen hinsichtlich ÖPNV nicht einmal für die Ärmsten in Berlin bereit sind umzusetzen

      Kostenloses ÖPNV für Einkommen unter H4 in Berlin sofort!

      • @Rudolf Fissner:

        "Strafe für Armut" allenfalls dann, wenn jemand vom Jobcenter zur Vorsprache geladen, sich das Fernbleiben ob der 10%igen Sanktion nicht trauen würde, aber das Fahrgeld in Anbetracht der Tatsache, daß es zunächst das Existenzminimum mindert, auch nicht aufbringen könnte. Die Jobcenter haben zur Bearbeitung der Erstattungsanträge sechs Monate Zeit, die in seltenen Fällen auch mal vollends ausgereizt wurden.

        Die Frage ist nur, wieviele der Ersatzsträfler auf Fahrten zum Vorsprachetermin erwischt wurden und dann keine Sozialstundengelegenheit auftun konnten, so daß sie denklogisch wegen ihrer Hilfsbedürftigkeit einzufahren hatten?

        Und wenn es diese Fälle gäbe - warum gilt die Vorladung zum Termin nicht auch gleich als Fahrkarte? Aber nein, da muß eine Menge Arbeit in den Ämtern und Streß bei den Betroffenen erzeugt werden, um Geld aus dem Budget der Arbeitslosenverwaltung in das der Verkehrsverbünde umzuschichten, anstatt die jeweiligen Haushaltsmittel von vornherein anzupassen ...

  • Wow, das nenne ich mal eine gesetzestreue Kommentarspalte.

    Dass die meisten dieser Leute krank sind, süchtig, psychische Probleme haben, mir doch egal.

    Gesetz ist Gesetz. Und das ist in Stein gemeißelt und darf niemals geändert werden.

    Ein Tag im Knast kostet in Berlin ca. 180 Euro. So viel wie ein ordentliches Hotel.

    Auch egal.

    • @Jim Hawkins:

      Wie kommen Sie darauf, dass die Menschen deswegen egal seien? Housing First Projekte ( de.wikipedia.org/wiki/Housing_First ) bedeuten nicht Leben in der Straßenbahn. Hilfe für Drogenabhängige bedeutet nicht Tolerierung von Kleinstkriminalität oder Ordnungswidrigkeiten.

    • @Jim Hawkins:

      Folgt man den Gesetzen der Sozialen Marktwirtschaft, dann müssten wir nur mehr einsperren um eine 110% Belegung zu erreichen, und dann müssten die Kosten ja eigentlich sinken. Man darf nicht übersehen, dass Schießer Beamtenstatus haben, aber auch die Psychologen, Ärzte und Sozialarbeiter im Knast.

  • Ich kann mich über die Weltfremdheit und Naivität der Aussagen in diesem Artikel nur wundern. Mitali Nagrecha unterstellt Richtern, per se kein Einfühglungsvermögen für die Situation der Angeklagten zu haben. Worauf begründet sich das? Auf Ihrer Erfahrung (mit wie vielen Richtern?) oder ihren Vorurteilen? Weiterhin sind die Menschen nicht ihrer Armut wegen zu Haftstrafen verurteilt worden, sondern wegen straffälliger Delikte, die mit einer Geldstrafe zuvor geahndet wurden. Dass diese für manche schwer zu bezahlen ist, mag sein. Nicht desto trotz ist unser Rechtssystem ein repressives System, welches Strafe dazu anwendet, Wiederholungen entgegenzuwirken. Tagessätze werden so angelegt, daß sie verhältnismäßig sind und eine Strafe, und keine Kleinigkeit die man mal abtut, darstellen. Anders als vielleicht in manchen Counties auf dem anderen Kontinent, wo man sich schon wegen Mißachtung eines Stoppschilds nächtens auf kaum befahrenen Straßen in Gewahrsam wiederfindet und auch dort Geldstrafen(!) oder gar mehrtätige Haftstrafen zu erwarten hat.



    Und weshalb Leute die nicht zahlen können auch nicht arbeiten können, erschließt sich wohl auch nur Frau Nagrecha. Mir jedenfalls nicht.

  • Das ist ja geil:



    "Eine Geldstrafe von 200 Euro – das können zum Beispiel 40 Tagessätze à 5 Euro sein. Kann die verurteilte Person die 200 Euro nicht bezahlen, muss sie also für 40 Tage ins Gefängnis."

    Gibt es auch "halbe Tage" oder "viertel Tage" ?

    ... also mein Zahnarzt macht die 200 € in einer Stunde ... und hätte das also zwischen Frühstück und Mittag locker "abgebrummt" ...

    Und jetzt nimm mal einen Millionenbänker der zu ... sagen wir mal ... 40 000 € verurteilt ist.



    Der muss also auch nur 40 Tage in Haft - weil der ja am Tag 1000 € verdient.

    Cool.

    • @Bolzkopf:

      Geldstrafen (aber nicht -bußen) und Tagessätze werden nach Einkommen berechnet. 40 Tagessätze Zahnarzt nach Ihrem Beispiel sind also 64000 Euro, und das entspräche auch seiner Geldstrafe für das gleiche Vergehen.

  • Zitat: Für Nagrecha vom Justice Collective ist diese Vorstellung illusorisch: „Leute, die nicht zahlen können, können aus den gleichen Gründen oft auch nicht arbeiten.“



    (Zitat Ende)

    Der gesellschaftliche Denkfehler besteht darin, Arbeit nur dann als solche zu akzeptieren, wenn sich jemand findet, der dafür - sozialversicherungspflichtig - bezahlt.

    Persönliche Fähigkeiten sind zwar individuell verschieden, aber meist auch dann noch vorhanden, wenn über lange Zeit kein Arbeitsrechtsverhältnis mehr zustandekam.

    Der Punkt ist nur, daß es während einer Pandemie noch viel weniger soziale Arbeitsgelegenheiten gibt als ohnehin schon, so daß Sozialstunden in manchen Fällen von den Gerichten nicht ausgeurteilt worden sind, weil der Betroffene kaum die Möglichkeiten gehabt hätte, sie auch fristgerecht abzuleisten.

    Frau Kreck könnte das Problem also durchaus angehen, indem sie erstens die Möglichkeit des Umwandelns von Geldstrafen stärker in die Öffentlichkeit rückt und zweitens dafür sorgen läßt, daß Arbeitsgelegenheiten in hinreichendem Umfang zur Verfügung stehen, mit denen man nicht einfach nur der auferlegten Pflicht nachkommt, sondern die auch der Gesellschaft einen Nutzen und dem Betroffenen ein Gefühl persönlicher Erfüllung bieten. Gerne auch an einzelnen Stunden am Tag, falls mehr aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich nicht geht.

    • @dtx:

      Was soll getane Arbeit, deren Resultat für niemanden einen entsprechenden Wert hat? Menschen sind keine Hamster, denen man ein sinnloses Rad hinstellt, weil sie so gerne laufen.

      Das heißt, dass Arbeit kein Selbstzweck sein kann sondern einen Wert schaffen sollte, der dann auch eine Vergütung verdient. Und da wir nunmal Geld als Mittler für den Leistungsaustausch verwenden, ist die Frage, ob jemand für eine bestimmte Arbeit bereit ist Geld zu zahlen durchaus von sinnstiftender Qualität.

      • @Normalo:

        Haushaltsführung, Kindererziehung, die Tätigkeit der "Grünen Damen und Herren" in den Kliniken ... es gibt noch viel mehr, was in Euro und Cent gemessen exakt gar nichts einbringt und deshalb exakt gar nichts wert sein kann?

        Als Schöffe erhält man für die Beteiligung der Gesellschaft an der Strafrechtspflege eine "Aufwandsentschädigung", dürfte demnach mit der Sinnhaftigkeit dieses Tuns in einer Grauzone liegen, genauso wie die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr oder des THW ...

        Nun wird es aber hingenommen, daß mit der Aufstockerei Steuergelder privatisiert und Arbeitgeber in die Lage versetzt werden, Arbeitskraft auch unter ihrem Wert auszubeuten.

        Der Steuerzahler hätte jedes Recht, die teils von ihm entlohnten Arbeitskräftte gegen Mittag aus den Unternehmen abzuziehen und für das Gemeinwohl arbeiten zu lassen. Und er hätte auch das Recht, gemeinschaftsschädliches Verhalten durch gemeinnützige Arbeit ausgleichen zu lassen.

        Nur wollen die von ihm beauftragten Vertreter diesen Ausgleich nicht organisieren. Dummerweise kann man in einer überalternden Gesellschaft nicht mehr darauf setzen, daß sich immer jemand an den allgegenwärtigen Mißständen stören werde, der in der Lage sei, ihnen aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln abzuhelfen.

  • "Für Armut bestraft" Nein, für permanentes Schwarzfahren!

    Ich finde es zwar auch sehr fragwürdig, ob man permanente Schwarzfahrer einsperren soll, wenn sie die Strafe nicht bezahlen (können), aber die Aussage "für Armut bestraft" ist dann doch völlig an der Realität vorbei.



    Wenn Schwarzfahren nun Straffrei wird, dann können sich Bus und Bahn auf Millionen neue nicht zahlende Kunden einstellen. O.k., wenn das so gewollt ist.

  • „Dann bestrafen wir wieder Menschen für ihre Armut“. Falsch! Die Menschen werden für ein Vergehen gegen bestehende Gesetze bestraft.

    • @Lars B.:

      Nein, das ist durchaus richtig so.



      Kaum ein Mensch, der sich das Ticket für den ÖPNV leisten kann, wird nach diesen Paragraphen belangt werden oder gar in Haft kommen, weil die entsprechenden Strafen a) entweder nicht entstehen oder b) die Bußgelder bezahlt werden können.

      • @Piratenpunk:

        @Piratenpunk



        Kaum ein Mensch? Das ist ein Irrtum. Ich erinnere mich an eine Dame, die als ich damals in den Norden zog, in der U2 am Bahnhof Billstedt am Montag, Dienstag und Mittwoch derselben Woche zur selben Zeit im selben Wagen ohne Ticket erwischt wurde - mit einem nicht gerade billigen Laptop auf dem Schoß ...

        Weshalb ich hier schon in einem Beitrag darauf hinwies, daß zwischen purer Renitenz und Schwarzfahren aus wirtschaftlicher Renitenz unterschieden werden müsse. Das gibt aber weder die Praxis, noch das StGB her.

  • Zum einen kann eine Geld- und in deren Folge ggf. eine Ersatzfreiheitsstrafe (es gäbe mit dem Antrag auf Umwandlung in Sozialstunden auch die Möglichkeit des "Schwitzens statt Sitzens") nur verhängt werden, wenn der Gesetzgeber das für einen Tatbestand so vorgesehen hat.

    Die Richter haben Gesetze anzuwenden, für deren Gestaltung sind die Parlamente zuständig. Das Gericht darf niemanden nur deshalb von einem nach dem Gesetz zutreffenden Schuldvorwurf freisprechen, weil Parlamentarier, die den ÖPNV kostenlos nutzen, nicht zwischen Schwarzfahren aus Not und Beförderungserschleichung aus Renitenz unterscheiden können bzw. wollen (und Jobcenter Fahrtkosten zu den von ihnen verursachten Terminen häufig nur im Nachhinein erstatten), auch wenn der bzw. die Richter das gerne tun würde(n).



    Zum anderen ist der Eindruck unzutreffend, daß Richtern schon wegen ihrer sozialen Stellung jegliche Empathie abgehe, sonst hätten diese ihren Beruf allesamt verfehlt.

    Der Artikel scheint außerdem auszublenden, daß man auch gegen Geldstrafen in Berufung gehen kann (man muß dann den Termin wahrnehmen, ansonsten wird die Berufung kostenpflichtig abgelehnt; viele Leute wollen aber nach einiger Zeit einfach nur noch ihre Ruhe haben, bleiben bei vermeintlichen Bagatellen dem Verfahren fern und haben dann nicht nur die Strafe und die Kosten an der Backe, sondern das Ding auch im BZR stehen).



    Man trifft dann auf einen Berufsrichter und zwei Schöffen, wobei alle drei dieselben Stimmrechte haben und die Schöffen aus allen sozialen Schichten der Gesellschaft stammen. Wenn sich ein Arbeitsloser bei seiner Kommune zur Zeit der Neuwahl auf ein Schöffenamt bewirbt, hätte die bei ihm keinen anderen Grund, den Vorschlag an die Justizverwaltung weiterzuleiten oder auch nicht, wie bei jedem anderen Interessenten auch (sofern es sich nicht um das Amt des Jugendschöffens handelt, für das - zu Recht - besondere Anforderungen gestellt werden).

    • @dtx:

      Frau Mitali Nagrecha hat als Juristin die sich seit mehreren Jahren mit dem Thema beschäftigt, im Gegensatz zu ihnen natürlich keine Ahnung.

      • @Andreas J:

        Frau Nagrecha setzt sich auch augenscheinlich für Gesetzesänderungen ein und nicht etwa für eine "verbesserte", aber dem Gesetz widersprechende Urteilspraxis. @DTX interpretiert hier eine Kritik an der Rechtssprechung in den Artikel, die ich nicht sehe. Inhaltlich hat er jedoch Recht, dass man den richtern nicht anlasten kann, dass sie Recht anwenden. Vielleicht auch zur erläuterung: Die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe ist letztlich schon der Ersatz, der dem Verurteilten eine dem Maß seiner Schuld entsprechende Gefängnisstrafe ersparen soll. Sie soll also bei kleinen Strafmaßen den Vollzug einfacher und humaner gestalten, nicht etwa die Strafe an sich abmildern.

        Davon abgesehen: Dass eine in US-Recht ausgebildete Juristin zwangsläufig das deutsche Rechtssystem wirklich durchblickt, ist keine Selbstverständlichkeit. Insbesondere spielen im US-Strafrecht reine Präzedenzfälle und solch vage Rechtsbegriffe wie "Gerechtigkeitsempfinden", "allgemeine Vernunft" eine Rolle, mit denen man viel begründen kann, aber wenig vor deutschen Gerichten erreichen würde, die gerne mit deterministischen Vokabeln wie "Vorbehalt des Gesetzes" und "Einheitlichkeit der Rechtsordnung" hantieren. Ein US-Abschluss ist da kein abschließender Kompetenznachweis.

  • Wie wäre es denn damit? Menschen mit einem Einkommen unter x € dürfen die BVG frei nutzen. Bei Kindern bis 14 ist das doch längst so.



    Wie wäre es denn diejenigen einzusperren, die solche üblen sozialen Verhältnisse zugelassen haben, die das aktiv betrieben haben`

    • @cuba libre:

      Warum wollen Sie unbedingt in den Knast?

    • @cuba libre:

      Das Alter eines Kindes festzustellen, ist für den Zugbegleiter/den Fahrkartenkontrolleur in den meisten Fällen kein unüberwindbares Hindernis. Einkommen weniger als X schon, dafür gibt es (zumindest in HH) das Sozialticket, an das man via team.arbeit.hamburg bzw. die Sozialämter kommt.



      Wer sich nicht beim Amt meldet oder wer als sozial Schwacher nicht in der Stadt, sondern im holsteinischen oder niedersächsischen Ausland wohnt, hat(te) Pech, sofern er doch regelmäßig in die Stadt muß oder will.

      In Berlin dürfte das nicht anders sein; da wird der Senat auch kein Geld für Brandenburger übrig haben.