Sexuelle Gewalt: „Die Leute wollen nicht hinsehen“

Vor allem für Frauen mit Lernschwierigkeiten ist die Gefahr sexueller Übergriffe hoch. Über die Ursachen spricht Pia Witthöft von der „Mutstelle“.

Aus einer Serie für das WIR-Magazin zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder

taz: Frau Witthöft, Sie beraten bei der „Mutstelle“ Menschen mit Lernschwierigkeiten, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Wo ist die Gefahr am höchsten?

Pia Witthöft: Ich würde sagen, dort, wo pädagogisch nicht geschulte Arbeitskräfte im Einsatz sind.

Bei Fahrdiensten zum Beispiel?

Ja, das kommt leider immer wieder vor. Ansonsten sind die Vorfälle ähnlich zu denen, die wir auch sonst kennen: Am Arbeitsplatz, im häuslichen Umfeld, in Partnerschaften, im öffentlichen Raum. Aber das Ausmaß an Abhängigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist viel höher, sie wehren sich häufig spät oder werden nicht ernst genommen.

Pia Witthöft

Jahrgang 1968, ist Psychologin. Sie arbeitet schon lange mit Menschen mit Lernschwierigkeiten. Seit deren Gründung arbeitet sie bei der Mutstelle der Berliner Lebenshilfe.

Kommen die Betroffenen selbst zu Ihnen?

2014 wurde die Mutstelle als Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Menschen mit Behinderung gegründet. Nicht gerade leichte Sprache, deshalb der Kurzname „Mutstelle“. „Weil es Mut und Ermutigung braucht, sich überhaupt zu wehren und dann auch dafür, nicht die einfachen, sondern nachhaltige Lösungen bei Übergriffen zu finden“, sagt Pia Witthöft. Nicht einmal anderthalb Stellen sind dafür eingerichtet, finanziert von der Integrations- und der Gesundheitsverwaltung. Im letzten Jahr hatte die Mutstelle 100 fallbezogene Anfragen, in 78 Fällen waren Frauen betroffen. Dazu kommen rund 40 Anfragen von Trägern. (mah)

Selten. Meistens sind es Fachkräfte aus Einrichtungen oder Angehörige, die sich an uns wenden.

Woran liegt das?

Menschen mit Lernschwierigkeiten sind häufig ausgeschlossen von Informationen zu ihren Rechten, nicht nur in Bezug auf die sexuelle Selbstbestimmung. Und dann müssen sie ja auch wissen, an wen sie sich wenden können. Selbst wenn überall Flyer von uns liegen würden, müssen die Menschen sie lesen und verstehen können, müssen die Nummer wählen können. Und dann ist es noch eine Frage von Mut, deshalb heißt unsere Beratungsstelle auch Mutstelle.

Erklären Sie das bitte.

Es gibt Statistiken, wie oft Kinder, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, nach Hilfe fragen müssen, bevor sie gehört werden: Im Durchschnitt sieben Mal! Das erleben auch Menschen mit Lernschwierigkeiten: Dass ihnen nicht geglaubt wird, dass keiner Zeit hat, dass abgewiegelt wird. Und häufig stehen sie gerade zu der Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, die übergriffig wird.

Wer ist das zum Beispiel?

Das können Fachkräfte oder Angehörige sein. Aber wir haben auch relativ viele Fälle, in denen andere Menschen mit Lernschwierigkeiten übergriffig werden. Auch da gibt es Abhängigkeiten, zum Beispiel weil die betroffene Person froh ist, endlich einen Freund zu haben und sich vielleicht unwohl fühlt, aber nie gelernt hat, dass die eigenen Grenzen von anderen respektiert werden müssen. „Das gehört dazu, wenn du meine Frau bist“, sagen übergriffige Partner häufig. Da wird viel ausgehalten, ehe sich die Betroffenen Hilfe suchen.

Das klingt wie die Lage der Frauen in den Sechziger Jahren. Ist die sexuelle Selbstbestimmung nicht angekommen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten?

Punktuell schon, aber das reicht nicht. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig schon sehr früh und anhaltend Grenzverletzungen erleben. Schon als Kind haben sie sich zum Teil daran gewöhnt, dass andere sie behandeln, für sie entscheiden, sich ihr Leben am Plan anderer orientiert. Ich versuche mir immer vorzustellen, was das mit meinem Selbstwertgefühl machen würde, wenn jeder Tag damit beginnt, dass andere für mich entscheiden. Ich kann weder bestimmen, wann ich aufstehe noch wann oder ob ich dusche, nebenbei streicht mir einer ein Brot, das mir gar nicht schmeckt. Und wenn ich mich wehre, versteht das vielleicht keiner oder ich werde als trotzig abgetan. Das betreuende System ist häufig nicht auf Selbstbestimmtheit ausgerichtet. Da bleibt dann ein innerer Abdruck von eigener Wertlosigkeit, von fehlender Wirksamkeit.

Ist es nicht Aufgabe der Fachkräfte in Einrichtungen, dass Menschen so weit es geht selbstbestimmt leben und arbeiten können?

Theoretisch ist das so. Aber wir sind immer noch mittendrin im Paradigmenwechsel von weniger Betreuung und mehr Begleitung.

Und dieser Paradigmenwechsel wird zusätzlich erschwert durch Personal- und Zeitmangel, oder nicht? Wenn zum Beispiel eine Pflegeperson für 10 Be­woh­ne­r*in­nen zuständig ist, ist es doch schwer, nicht nur zu versorgen.

Sicher. Aber die Haltung, mit der ich auch in solch schwierigen Situationen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten umgehe, ist entscheidend. Dass ich auch dann nicht vergesse, dass ich mit Menschen arbeite, die ein Recht auf Selbstbestimmung haben.

Wer entscheidet, was passiert, wenn Ihnen ein klarer Fall sexualisierter Gewalt zugetragen wird?

Es gibt Situationen, in denen alle, die im Bilde sind, am liebsten sofort eingreifen und die Polizei einschalten würden. Aber manchmal muss man es auch aushalten, dass die betroffene Person das noch nicht möchte. Auch da gehört es zur Selbstbestimmung, ihr nicht die Kontrolle zu nehmen. Wer hierher kommt, hat die Sicherheit, es passiert nichts, was du nicht willst.

Mögen Sie mir von einem typischen Fall berichten?

Der gemeinsame Nenner ist fast immer die emotionale Abhängigkeit der betroffenen Person und eine gewisse Machtposition der ausübenden Person. Das kann auch der Kollege in der Werkstatt oder der Mitbewohner sein. Eine Fallkonstellation, die ich aber auch schon mehrfach betreut habe, ist die von Fremdtätern, die ganz gezielt Menschen vor Förderschulen und Werkstätten ausspähen und sie dann unter falschen Versprechungen nach Hause locken. Wir müssen davon ausgehen, dass es da ein ähnliches Täterverhalten wie bei pädosexuellen Tätern gibt. Und zwar häufiger, als ich das gedacht hätte.

Das Spektrum der Menschen mit Lernschwierigkeiten ist riesig. Von Menschen, die klar für sich sprechen können und anderen, die nicht mit Worten oder Gesten kommunizieren können. Wen können Sie überhaupt erreichen?

Ich fürchte, es bleiben Gruppen übrig. Wenn sich jemand verbal nicht in unserer gewohnten Weise äußern kann, dann ist die Person auf Menschen aus dem Umfeld angewiesen, die Zeichen der Gewalt erkennen: Angst und Anspannung in bestimmten Situationen oder blaue Flecke, die sich nicht anders erklären lassen.

Die Gefahr gerade für Frauen in Einrichtungen ist lange bekannt und dennoch erfährt die Öffentlichkeit von so wenigen Fällen. Haben die Einrichtungen Angst, darüber zu sprechen?

Es gibt sicher die Angst, das könnte auf den Ruf der Einrichtung zurückfallen. Aber ehrlich gesagt bin ich froh über jede Einrichtung, die darüber spricht. Dann weiß ich wenigstens, dass das dort nicht unter den Teppich gekehrt wird. Das gilt auch für die Öffentlichkeit. Ich habe mal bei einem Fernsehbeitrag mitgewirkt über sexualisierte Gewalt in Einrichtungen. Und die Quoten zeigten ganz deutlich: Die Leute haben bei dem Beitrag weggeschaltet. Sie wollen nicht hinsehen. Das hat mich sehr betroffen gemacht.

Vielleicht liegt dem eine Hilflosigkeit zugrunde.

Aber man kann doch etwas tun! Die Fachkräfte müssen geschult werden, es braucht in Einrichtungen gelebte Schutzkonzepte. Das ist unverzichtbar, aber leider gibt es keine verpflichtenden Standards. Wichtig sind Selbstvertretungen, damit sich Menschen mit Lernschwierigkeiten gegenseitig unterstützen. In den Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt es inzwischen geschulte Frauenbeauftragte aus der Belegschaft selbst. Das brauchen wir als Verpflichtung auch in Wohneinrichtungen. Außerdem sollten Schutzräume wie Frauenhäuser zugänglich sein für Menschen mit komplexen Lernschwierigkeiten, das ist leider kaum der Fall. Auch da braucht es Schulungen für die Mitarbeiterinnen.

Und außerhalb von Einrichtungen – bei den Fahrdiensten zum Beispiel?

Warum sollte es nicht auch eine Verpflichtung zu Schutzkonzepten und Schulungen bei Fahrdiensten geben?! Ich bin davon überzeugt, wenn schon bei Einstellungsgesprächen mit Fah­re­r*in­nen über den Verhaltenskodex und das Thema sexualisierte Gewalt gesprochen würde, dann würden potenzielle Täter abgeschreckt.

Und Sie können all diese Ak­teu­r*in­nen schulen?

Wir schaffen das nur für die Selbstvertreter*innen. Wenn wir wirklich in die Breite gehen würden – allein in Berlin gibt es unzählige Wohn-, Arbeits- und Freizeiteinrichtungen – dann sind wir mit unseren nicht einmal anderthalb Stellen in der Mutstelle schnell am Ende.

Wie gut werden die Fälle von sexualisierter Gewalt an Menschen mit Lernschwierigkeiten auch strafrechtlich weiterverfolgt und in eindeutigen Fällen die Täter belangt?

Die Benachteiligung von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rechtssystem ist beschämend. Dort geht das Nichternstnehmen noch viel weiter. In Berlin werden nur 3,4 Prozent aller angezeigten Sexualstraftaten verurteilt. Bei Menschen mit Behinderung ist das mit Sicherheit noch einmal weniger.

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