Ein Tag am Jobcenter Neukölln: Nur mit Termin
Anfang 2022 soll der Hartz-IV-Regelsatz um 3 Euro steigen. Was fängt man damit an? Hartz-IV-Empfänger:innen berichten.
Es ist kurz nach 8 Uhr morgens vor dem Eingang des Jobcenters Neukölln. Eine Frau wedelt mit Unterlagen vor einem Sicherheitsmann. Neben ihr steht ein junger Mann, der in sein Handy tippt. Es ist noch ziemlich leer.
„Haben Sie einen Termin?“
„Nein, ich muss Unterlagen abgeben.“
„Im Moment nur mit Termin. Sonst nur Anruf oder Briefkasten.“
Er zeigt auf die drei silbernen Metallkästen draußen vor dem Eingang. Corona hat auch das Jobcenter zu neuen Regeln gezwungen.
08.20 Uhr.
Eine junge Mutter schiebt ihren zwei Kindern geschnittene Apfelstücke in den Mund. Der kleine Sohn schreit im Kinderwagen. Sie wartet auf ihren Termin. „8.30 Uhr, Etage 4“, steht auf ihrem Brief. Sie hält ihn wie eine Eintrittskarte zwischen ihren langen Fingernägeln. Der Termin ist mit pinkem Textmarker markiert. Schon gehört? Hartz IV wird zum Jahreswechsel um drei Euro erhöht.
„Nö. Aber drei Euro. Das ist doch nichts. Und bestimmt muss man davon dann auch noch wieder was abdrücken.“
Das Jobcenter Neukölln: Viel Grau und viel Glas. Drinnen im Erdgeschoss ein Netto, eine Mietschuldnerberatung. Friseur. Sicherheitsdienst. Thai Imbiss. Vaporizer Shop. Deutsch- und Integrationskurse.
Eine Frau in Cordjacke stellt kreuz und quer schwarze Putzeimer auf den Gängen zwischen den Schaufenstern auf. „WEIL ES HIER TROPFT“, schreit sie durch ihre Kopfhörer. Das gesammelte Wasser aus den Eimern kippt sie in zwei Blumenkübel. Wer einen Termin beim Jobcenter hat, läuft Slalom.
09.24 Uhr
Ein junger Typ um die 25 entwirrt das Kabel seiner Kopfhörer. Sein Handy klingelt, seit er aus dem Aufzug vom Jobcenter gestiegen ist, er geht aber nicht ran.
Neuer Regelsatz. Drei Euro mehr. Schon mitbekommen?
„Nein, ich habe keinen Brief bekommen. Scheiße, sollte ich einen Brief bekommen haben? Gilt das für alle?“
„Ja für alle. Neuer Regelsatz.
„Krass.“
„Warum krass?
„Ja drei Euro sind drei Euro.“
„Und was machst du mit drei Euro mehr, wenn ich fragen darf?
„Ey, keine Ahnung. Aber ich hatte schon Monate, da hab ich von drei Euro die ganze letzte Woche des Monats gelebt.“
Seit zwei Jahren ist er arbeitslos. Sein letzter Vertrag war befristet. Eigentlich waren alle Jobs seit seiner Ausbildung befristet. Er arbeite, seit er 17 ist, sagt er. Jetzt findet er einfach nichts Neues. „Nur hier und da mal was schwarz. Darf ja nichts verdienen offiziell.“
Blick in das gemeinsame Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP vom Freitag. Ein „Bürgergeld“ soll eingeführt werden. Zuverdienstmöglichkeiten sollen verbessert, Anträge digitalisiert werden. An den „Mitwirkungspflichten“ aber wolle man festhalten.
09.49 Uhr
Der Eingangsbereich füllt sich wieder. Der nächste Schub wartet, zum Termin gehen zu dürfen. „Alle mit 10-Uhr-Termin bitte hier warten“, delegiert der Sicherheitsmann.
Eine Frau steht etwas abseits. Blonder langer Zopf, pinke Fleecejacke. Sie ist in ihre Unterlagen vertieft.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Drei Euro mehr?“ Sie lacht etwas hysterisch. „Ja Glückwunsch, davon kann ich mir drei Gurken kaufen. Preise werden ja immer teurer. Strom, Einkäufe, alles. Was will ich da mit drei Euro?“
Eigentlich will sie einen Bildungsgutschein. Sie will an die Supermarktkasse, eine Fortbildung zur Kassiererin machen. Vorher habe sie jahrelang Gastro gemacht, aber da musste sie ständig nachts arbeiten.
Dann musste ihre Mutter auf ihre Tochter aufpassen, 9 Jahre alt. Sie sei alleinerziehend. Dann noch die drei Bandscheibenvorfälle. Das sei irgendwann einfach zu viel gewesen. Deshalb will sie an die Kasse, aber das Jobcenter wolle ihr den Bildungsgutschein nicht bewilligen. „An der Kasse bin ich nicht vielseitig genug einsetzbar, sagen sie.“ Sie solle Einzelhandel oder Erzieherin lernen.
„Aber mit meinem Rücken kann ich halt nichts heben. Bin gespannt, was sie heute von mir wollen. Weiß man ja vorher nie.“
Der Security-Typ ruft: „Alle mit 10-Uhr-Termin bitte jetzt hoch.“
„Sorry, muss jetzt los.“
Bei Netto nebenan suchen sie Aushilfskräfte. „Heute im Angebot: Karriere machen“, steht auf dem Schild am Eingang. Im Kühlregal mit den Sonderangeboten steht frische Heumilch (1,29 Euro), Butter (2,19 Euro), Kinder Pingui (8 Stück für 1,88 Euro). Eine Salatgurke kostet hier 39 Cent.
Im September stiegen die Verbraucherpreise um 4,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. In den Hartz-IV-Regelsatz wird das erst im Folgejahr eingerechnet. So schreibt es das Gesetz vor. Drei Euro mehr, damit steigt der Regelsatz für Erwachsene um 0,76 Prozent.
10.14 Uhr
Was sagt eigentlich der Sicherheitsmann? Haben Sie schon gehört, dass der Regelsatz um drei Euro erhöht wurde?
„Das weiß doch hier eh niemand. Die Leute gucken auf ihren Bescheid und nehmen das, was sie kriegen können. Als könnte hier jemand durchblicken, was ihm zusteht.“
Anruf bei der Kundenhotline des Jobcenters. In der Warteschleife läuft John Legend. „Cause all of meeeee, loves aaaaall of you“. 10 Minuten ohne Erfolg. Zweiter Anruf. Bei der Pressestelle der Arbeitsagentur hebt schnell jemand ab.
„Wie werden die Empfänger:innen über die Erhöhung informiert?“
„Neben der vielen medialen Berichterstattung bekommen alle einen Bescheid.“
„Wann?“
„Das ist sehr individuell, aber alle bekommen Bescheid.“
„Dieses Jahr noch?“
„Ja, das sollte so sein.“
10.57 Uhr
Ein junger Typ kommt an. Beige Kappe, runde Brille, verwaschene Levis-Jeans und Hoodie. Er entschuldigt sich in fließendem Deutsch, dass sein Deutsch sehr schlecht sei. „English is okay.“
„Drei Euro mehr ist doch gut. Besser als wenns weniger wird. Hör ich nämlich auch oft, dass Leuten das Geld gekürzt wird. Ist Gott sei Dank bei mir noch nie passiert.“
Er ist vor 10 Jahren nach seinem Erasmus-Semester in Deutschland geblieben, hat für ein amerikanisches IT-Unternehmen gearbeitet, dann die Stelle gewechselt. Befristeter Vertrag. Jetzt ist er seit eineinhalb Jahren arbeitslos.
„Hartz IV ist okay. Ich bekomme 430 Euro, 100 gehen für Strom und Internet drauf. Bleiben noch 330. Für mich reicht das. Diesen Monat hatte ich sogar ein paar Euro am Ende des Monats übrig. Ich finds okay gerade, aber natürlich hätte ich Bock auf einen neuen Job.“
Es ist sein erster Termin beim Jobcenter. Warum er eingeladen wurde? „No idea.“
Parallel diskutiert eine Frau um die 50 mit dem Sicherheitspersonal.
„Sie sind verpflichtet, den Brief mit der Termineinladung mitzubringen.“
„Aber woher soll ich das wissen?“
„Naja, ich geh doch auch nicht ohne Ball zum Fußballspielen.“
„Wenn ich den Termin verpasse, kriege ich nächsten Monat kein Geld, das wissen Sie genau.“
„Sie brauchen den Brief. So sind die Regeln. Das entscheide nicht ich, sondern die da oben.“
„Scheiß Jobcenter-Kacke.“
11.16 Uhr
Eine junge Frau hetzt zum Eingang. Schwarzer Hoodie, Kapuze. Ihre Augen tränen vom Fahrradfahren. Aus ihren Kopfhörern um den Hals läuft noch Musik. Drei Euro mehr, ob sie es schon weiß?
„Nein, aber ich bin im Moment froh um jede scheiß drei Euro. Ich habe als DJ gearbeitet, die Pandemie hat mich komplett gefickt.“
Anruf bei der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts. Sind drei Euro mehr Hartz IV trotz steigender Verbraucherpreise verfassungsgemäß?
Am anderen Ende erklärt ein Mann: Die gesetzliche Grundlage sei in der Vergangenheit mehrfach geprüft und für verfassungsgemäß befunden worden. Für eine erneute Prüfung der aktuellen Erhöhung müsse erst mal eine Verfassungsbeschwerde eingehen. Noch liege kein Verfahren vor.
12.03 Uhr
Die alleinerziehende Mutter kommt aus dem Fahrstuhl. Und? Darf sie jetzt an die Supermarktkasse?
„Nee, ging nur um Unterlagen. Kram halt.“
Kurz vor Schluss um 12.30 Uhr kommt auch der junge Typ mit runder Brille von seinem Termin zurück. Worum es ging?
„Actually I have no Idea.“
Sie hätten seinen Ausweis und seine Papiere kontrolliert. Er verabschiedet sich:
„Weird place.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mindestlohn feiert 10-jähriges Jubiläum
Deutschland doch nicht untergegangen