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Diskussion über MindestlohnDer Bluff der SPD-Führung

Pascal Beucker
Kommentar von Pascal Beucker

CDU-Chef Merz hat recht: Ein höherer Mindestlohn steht nicht im Koalitionsvertrag. Der Ball liegt bei einer Kommission, die zuletzt pro Arbeitgeber agierte.

Merz hat Recht: Im Koalitionsvertrag ist ein höherer Mindestlohn nicht verbindlich festgeschrieben Foto: Kay Nietfeld / dpa

D ie Aufregung in der SPD-Spitze um die Äußerungen von Friedrich Merz zum Mindestlohn ist verständlich. Wer wird schon gerne bei einem Bluff erwischt – ausgerechnet zu Beginn des SPD-Mitgliederentscheids? „Wir sorgen für höhere Einkommen, indem wir die Tariftreue stärken und den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen“, sagte Saskia Esken wörtlich bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages. Das entspricht nicht der Wahrheit.

Merz hat leider recht, dass sich Union und SPD nur darauf verständigt haben, die Entscheidung der Mindestlohnkommission zu überlassen. Bis Ende Juni muss das paritätisch mit Ver­tre­te­r:in­nen der Ar­beit­ge­be­r:in­nen und der Gewerkschaften besetzte Gremium seinen Vorschlag für das kommende Jahr machen. Mal schauen, was dabei herauskommt – vielleicht sind es 15 Euro, wahrscheinlich aber weniger.

Es gibt keine bindende Formel, sondern nur Orientierungspunkte, die im Rahmen einer „Gesamtabwägung“ von der Kommission für die Festlegung des Mindestlohns zu berücksichtigen sind. Das ist ein Konstruktionsfehler, an dem auch die neue Koalition bedauerlicherweise nichts ändern will. Im schlimmsten Fall kann das zu so einem Debakel wie zu Ampelzeiten führen, als 2023 mit der Mehrheit der Ar­beit­ge­be­r:in­nen und der formal unabhängigen Kommissionsvorsitzenden gegen die Ge­werk­schafts­ver­tre­te­r:in­nen eine viel zu mickrige Anhebung der Lohnuntergrenze beschlossen wurde.

Dass Union und SPD vor zehn Jahren einen flächendeckend geltenden Mindestlohn eingeführten, beruhte auf der Erkenntnis, dass das deutsche Sozialpartnerschaftsmodell ausgerechnet im untersten Lohnbereich nicht mehr funktioniert. Das liegt vor allem in der Schwäche der Gewerkschaften hierzulande begründet. In Ländern mit starken Gewerkschaften braucht es keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn.

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Das Problem ist, dass sich diese Schwäche in der Mindestlohnkommission fortsetzt. Anders als in Tarifauseinandersetzungen fehlt den Gewerkschaften hier jegliches Druckmittel, während die Ar­beit­ge­be­r:in­nen­sei­te über eine Blockademacht verfügt. Ausgehend vom dem bereits damals von Union und SPD zu niedrig angelegten Ausgangspunkt von 8,50 Euro brutto pro Stunde führte das zu nicht ausreichenden Mindestlohnsteigerungen in der Folgezeit. Der von der Ampelkoalition nach der Bundestagswahl 2021 per Gesetz – und unter Umgehung der Mindestlohnkommission – beschlossene Sprung auf 12 Euro versuchte, das zu korrigieren, ohne jedoch eine grundsätzliche Lösung zu wagen.

Ein Ausweg wäre, endlich den in der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns, also des mittleren Einkommens, als Mindestlohnuntergrenze verbindlich festzuschreiben. Die Daten des Statistischen Bundesamtes zur Grundlage genommen, würde das tatsächlich für 2026 einen Mindestlohn um die 15 Euro bedeuten. Dass die Ar­beit­ge­be­r:in­nen­lob­by eine solche Festschreibung auf keinen Fall will, verwundert nicht. Entsprechend gibt es sie denn auch nicht im Koalitionsvertrag. Da helfen auch keine nachträglichen verbalen Kraftmeiereien der SPD-Führung. Sie sollte ihre Parteibasis nicht für dumm verkaufen.

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Pascal Beucker
Inlandsredakteur
Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft. Sein neues Buch "Pazifismus - ein Irrweg?" ist Mitte vergangenen Jahres im Kohlhammer Verlag erschienen.