Die These: Die Impfpflicht muss endlich her
Unser Autor war lange gegen eine Impfpflicht. Doch angesichts der immer noch viel zu schlechten Impfquote geht ihm so langsam die Geduld aus.
Eigentlich könnten wir es schon so schön haben. Die Tage werden zwar kürzer, es wird wieder kühl. Wir müssten uns trotzdem keine Sorgen machen. Denn die Impfquote könnte bereits so hoch sein, dass wir uns entspannt in Cafés aufhalten und wieder Kinos und Theateraufführungen besuchen würden. Selbst Konzerte und Partys mit Tausenden fröhlich Feiernden würden von Infektiolog:innen und Intensivmediziner:innen nicht mehr als bedenklich angesehen. Das ist in Dänemark bereits der Fall.
Masken würden wir in Supermärkten und Räumen mit viel Publikumsverkehr zwar weiter tragen. Aber gar nicht so sehr aus Angst vor Corona, sondern wegen der anstehenden alljährlichen Grippewelle und diversen anderen Erkältungskrankheiten. Denn davor schützen Masken auch. Wir könnten auch wieder die Großtante im Pflegeheim besuchen, ohne Angst haben zu müssen, ein gefährliches Virus einzuschleppen.
All das können wir aber nicht. Denn neun Monate nach Beginn der Impfkampagne und etwa drei Monate, seitdem hierzulande ausreichend Impfstoff für alle Impfberechtigte zur Verfügung steht, haben wir die ziemlich ernüchternde Situation, dass 36 Prozent der Bevölkerung nicht vollständig geimpft sind. Viele davon haben nicht einmal vor, sich in absehbarer Zeit impfen zu lassen. Wir sind damit weit entfernt von der dringend empfohlenen Impfquote von mindestens 85 Prozent. Diese wäre notwendig, damit es in der kalten Jahreszeit nicht erneut zu einer Überlastung der Krankenhäuser kommt.
Das ist traurig und frustrierend. Frustrierend, weil ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung auch nach mehr als anderthalb Jahren der Pandemie offenbar nicht begriffen hat, dass eine Überlastung der Krankenhäuser nichts anderes bedeutet, als dass auch jede lebensnotwendige Krebsoperation verschoben werden muss. Allein in der ersten Welle im Frühjahr 2020 betraf das bundesweit mehr als 50.000 Operationen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und traurig ist es, weil es vielen offenbar egal ist, wie schlimm es dem medizinischen Personal ergeht, wenn sie nicht nur über Wochen völlig überarbeitet sind, sondern auch alleine oder zu zweit Leichen in blaue Säcke stecken müssen. Bei einer Überlastung der Krankenhäuser steht nämlich nicht einmal ausreichend Personal zur Verfügung, um mit, wie eigentlich üblich, drei oder vier Kräften die verstorbenen Patient:innen würdevoll wegzutragen.
Selbstbezogen und egoistisch
Dass gut ein Drittel der Bevölkerung sich nicht in die Lage der Pflegekräfte hineinversetzen mag, zeigt, wie selbstbezogen und egoistisch ein beträchtlicher Teil davon ist. Angesichts dieses Szenarios, vor dem wir in den nächsten Wochen wegen der vielen Impfverweigerer:innen womöglich wieder stehen, bin ich inzwischen für eine Impfpflicht.
Noch zu Beginn der Impfkampagne, also zu Beginn des Jahres, hätte ich mich gegen eine solche Anordnung ausgesprochen. Denn abgesehen davon, dass gar nicht genug Impfstoff für alle zur Verfügung stand, finde ich Aufklärung natürlich immer besser als Zwang. Zudem waren die zugelassenen Impfstoffe zwar intensiv geprüft, gerade die mRNA-Technologie von Biontech/Pfizer und Moderna war aber neu. Zweifel waren also durchaus angebracht.
Doch inzwischen sind allein vom Biontech-Impfstoff weltweit mehr als 1,5 Milliarden Dosen verabreicht. Abgesehen von leichtem Fieber, Schüttelfrost und Schmerzen an der Einstichstelle ist das Risiko von Nebenwirkungen allen Bedenken zum Trotz extrem gering. Trotz neu aufgetauchter, noch ansteckenderer Virusvarianten schützen auch die anderen drei hierzulande zugelassenen Impfstoffe weiter hochwirksam gegen schwere Verläufe. Und genau darauf kommt es beim Impfstoff an.
Als dann im Laufe der Sommermonate so viele Vakzine vorhanden waren, dass jeder Volljährige ein Angebot wahrnehmen konnte, war ich auch weiterhin nicht für eine Impfpflicht. Denn so viel Kulanz sollte jedem zugestanden werden, wenn er oder sie sich vor dem Sommerurlaub nicht mehr an die langen Schlangen in den Impfzentren stellen wollte. Die Urlaubszeit ist aber längst vorbei, Warteschlangen gibt es keine mehr. Und geimpft wird auch nicht mehr nur in Impfzentren oder beim Hausarzt, sondern ohne Anmeldung auch bei Ikea, vor Supermärkten und auf den Marktplätzen. Einfacher geht es kaum.
Geradezu obszön ist es aber, dass der Staat Impfstoffe in großer Menge hortet – in der Hoffnung, die bislang Ungeimpften doch noch überzeugen zu können. Immer mehr davon wird weggeworfen, während ein Großteil der Menschheit in den armen Ländern sehnsüchtig auf einen Impfschutz wartet. Weltweit sterben weiterhin im Schnitt täglich zwischen 8.000 und 10.000 Menschen an Covid-19.
Was offenbar vielen nicht klar zu sein scheint: Diese Pandemie war für den Staat, aber auch die vielen Kulturbetriebe und große Teile der Wirtschaft extrem teuer. Jede Woche der Schließungen von Geschäften, Gaststätten und Betrieben, die in den ersten Wellen notwendig waren, um die Infektion aufzuhalten, hat allein den Staat mehr als 7 Milliarden Euro gekostet.
Auch die Politik trägt Schuld
Um einen Absturz der Wirtschaft zu verhindern, war es richtig, dass die Regierung so massiv eingesprungen ist. Das aber hat bei vielen offenbar den Eindruck vermittelt: Der Staat fängt immer alles auf. Es ist naiv zu glauben, dass diese Staatshilfen mit dem eigenen Portemonnaie schon nichts zu tun haben werden. Die wirtschaftlichen und finanziellen Folgekosten dieser Krise dürften wir nach den Bundestagswahlen mit einer wie auch immer neu zusammengesetzten Regierung bitter zu spüren bekommen.
Die Politik trägt ihrerseits Schuld an der weit verbreiteten Impfskepsis. Politiker:innen aller Couleur haben gleich zu Beginn der Impfkampagne geradezu mantrahaft beschworen, eine Impfpflicht werde es nicht geben und ihre Haltung mit Freiheitsberaubung und schwerem Eingriff in die Grundrechte begründet.
Nur: In der Verfassung findet sich eine solche Stelle nicht. Vielmehr sieht das Infektionsschutzgesetz sehr wohl auch Maßnahmen wie eine allgemeine Impfpflicht vor, wenn sich Leben und Gesundheit großer Teile der Bevölkerung nicht anders schützen lassen. Eine Impfpflicht gegen Masern gibt es längst. Und das ist angesichts der hohen Ansteckungsgefahr auch richtig so.
Zur Durchsetzung einer Impfpflicht müssen Polizist:innen ja nicht gleich Unwillige durch die Straßen jagen. Eine Impfpflicht für all jene Berufsgruppen, die viel mit Menschen in Kontakt stehen, wie sie jetzt in Frankreich eingeführt wurde, würde womöglich reichen, um die entscheidende Impfquote von 80 Prozent zu erreichen. Zugleich drängt die Zeit. Wird bis Ende Oktober eine Quote in dieser Größenordnung nicht erreicht, könnte es in den Krankenhäusern wieder genauso schlimm zugehen wie im vergangenen Winter und Frühjahr.
Mir reicht es. Für „Querdenker“, die bloß nach Aufmerksamkeit heischen, mit diesem Getue aber nicht nur die eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, sondern auch die derjenigen, bei denen der Impfstoff wegen eines schlecht funktionierenden Immunsystems nicht wirkt, hatte ich noch nie Verständnis. Für die vielen Zauderer nun aber auch nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch