Deutschland in der Wirtschaftskrise: Konjunktur der Angst
Unternehmen ächzen unter hohen Energiekosten, Bürger:innen unter ihrer schwindenden Kaufkraft. Expert:innen sagen: Panik wäre übertrieben.
W er derzeit Wirtschaftslobbyist:innen zuhört, könnte glauben, sie wollten ein Stoppschild für Investor:innen aufstellen. „Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig“, klagt Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall. „Wir müssen Deutschland neu aufstellen, wir müssen wettbewerbsfähiger, einfacher, schneller, digitaler und auch wieder hungriger werden“, sagt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger.
Wie das geht, wussten Wirtschaftsvertreter:innen schon immer: Steuern und Abgaben für Unternehmen senken, gesetzliche Vorgaben abbauen, Löhne so wenig wie möglich anheben. Die Rufe nach diesen vermeintlichen Allzweckwaffen werden jetzt immer lauter – und mit ihnen wächst die Angst vor einer angeblichen Deindustrialisierung des Landes.
Tatsächlich trübt sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland ein. Das allerdings auf extrem hohem Niveau. Deutschland ist immer noch eines der reichsten Industrieländer mit gewaltigen Exportüberschüssen. Und das wird es bleiben, auch wenn nach zwei Quartalen mit einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung das Bruttoinlandsprodukt im Frühjahr stagnierte.
Die wirtschaftliche Schwäche schlägt langsam auch auf den Arbeitsmarkt durch. Im Juli waren 2,6 Millionen Menschen in Deutschland erwerbslos, 150.000 mehr als ein Jahr zuvor. Die allermeisten Arbeitnehmer:innen erleiden Reallohnverluste. Denn die Löhne steigen auch aufgrund moderater Tarifabschlüsse bei Weitem nicht so wie die Inflation.
Die Aussichten für das übrige Jahr sind nicht besonders gut. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung warnt davor, dass die Konjunktur im Laufe dieses Sommers ihre Schwächephase nicht überwindet. Nach den Prognosen des Instituts wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt im gesamten Jahr 2023 um 0,5 Prozent schrumpfen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die hiesige Wirtschaftsleistung dieses Jahr insgesamt um 0,3 Prozent sinken wird.
Laut IMK-Chef Sebastian Dullien traf die Energiepreiskrise Deutschland besonders hart, weil es besonders abhängig vom russischen Erdgas war. Dabei drückten die gestiegenen Energiepreise sowohl auf die Nachfrage der privaten Haushalte als auch auf die Produktion energieintensiver Unternehmen. Eine schwache Weltkonjunktur bremse zudem die exportstarke Industrie.
Nun geht die Angst um, dass diese Krisenerscheinungen nur die Vorboten einer anderen Entwicklung sind: der Abwanderung von Unternehmen oder gar ganzer Branchen – was hohe Arbeitsplatzverluste und eine stärkere Abhängigkeit von anderen Weltregionen zur Folge hätte. CDU-Chef Friedrich Merz zum Beispiel warnt ausdrücklich vor einem „schleichenden Prozess der Deindustrialisierung“. Das wäre für ein industriell geprägtes Land wie Deutschland in der Tat eine Herausforderung.
Ökonom:innen bewerten die Lage jedoch unterschiedlich. Ein Schrumpfen der Wirtschaft sei natürlich nicht schön, aber auch nicht dramatisch, sagt etwa der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, Reint Gropp. Die Ursache für die derzeitige wirtschaftliche Schwäche sieht er vor allem in der hohen Inflation, die auf die Kaufkraft der Menschen drückt: „Der Konsum macht 60 bis 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.“
Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, hält die Lage für weniger dramatisch: „Deutschland ist eine starke Volkswirtschaft, und 0,3 Prozent sind ein nur leichtes Schrumpfen.“ Zudem seien die Ursachen für die Konjunkturschwäche – die hohen Energiepreise und die schwächelnde Weltwirtschaft – vermutlich nur vorübergehende Phänomene.
Für IMK-Direktor Dullien wiederum klingt ein Minus von 0,3 bis 0,5 Prozent zunächst zwar noch recht harmlos, dahinter verberge sich jedoch ein „relativ starker“ Abschwung, sagt er. „Deutschland hat sich von der Coronakrise noch nicht komplett erholt. Ohne den russischen Angriff auf die Ukraine und den damit verbundenen Energiepreisschock wäre die Wirtschaftsleistung mindestens 2 bis 3 Prozent höher“, so der Konjunkturexperte. Ihm zufolge droht durchaus ein „Verlust industrieller Substanz“. Wegen der derzeit hohen Energiepreise sei die Produktion in manchen Bereichen bereits massiv eingebrochen. Zudem stünden für viele Unternehmen im Moment weitreichende Entscheidungen an – über Investitionen oder deren Gegenteil, Werksschließungen.
„Seit drei Jahren tritt die Industrie auf der Stelle“, warnt auch Michael Grömling vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Zuerst Corona, dann der russische Angriff auf die Ukraine: Das waren drei Jahre, die nicht genutzt werden konnten für die drei anstehenden Herausforderungen Dekarbonisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel. „Insofern ist die Situation durchaus besorgniserregend“, sagt Grömling und verweist auf frühere Prozesse partieller Deindustralisierung – etwa zu Beginn der 1990er Jahre. „Damals sank die Zahl der Industriearbeitsplätze von zehn auf acht Millionen“, so Grömling.
Das allerdings war auch dem großflächigen Abbau der Industrie in der ehemaligen DDR geschuldet. Doch der Begriff Deindustriealisierung ist nicht nur für Ostdeutsche mit Schrecken verbunden. Auch im Westen dürfte die Erinnerung an abgewanderte Branchen wie die Bekleidungsindustrie oder den jahrzehntelangen quälenden Strukturwandel weg von der Steinkohle im Ruhrgebiet oder im Saarland für Beklemmung sorgen.
Ökonom Gropp sieht den nun anstehenden Wandel als unausweichlich an: „Deutschland befindet sich auf dem Weg von einer Industrie- hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft“, sagt er. Deshalb möge er den Begriff Deindustralisierung nicht. Statt Angst zu schüren, sollte der Prozess lieber aktiv gestaltetet werden. „Wir werden mittelfristig in Deutschland weniger produzieren, weil es anderswo billiger ist“, ist er überzeugt. Also müssten sich Wirtschaft und Politik auf die Stärken der Bundesrepublik konzentrierten, Forschung und Entwicklung etwa.
„Wenn energieintensive Unternehmen abwandern, dann ist das in den allermeisten Fällen keine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland“, sagt auch DIW-Präsident Fratzscher. Es gehe nicht darum, ob in Deutschland produziert werde, sondern um das, was deutsche Unternehmen bräuchten, um global wettbewerbsfähig zu bleiben – ob etwa gute Arbeitsplätze und Innovationen geschaffen werden. Viele strukturelle Probleme seien hausgemacht. „Die deutsche Automobilbranche hat zum Beispiel die Entwicklungen in der Elektromobilität verschlafen“, erklärt Fratzscher. Was die Energiepreise angeht, habe Deutschland noch nie einen Wettbewerbsvorteil gehabt: „Energie war in Deutschland immer schon teurer als in anderen Ländern.“
Das Ungewöhnliche an der derzeitigen Lage: Während die Wirtschaft hierzulande schrumpft, wächst sie in vielen anderen Ländern – im Nachbarland Frankreich voraussichtlich um 0,8 Prozent, in Spanien um 2,5 Prozent und in den USA um 1,8 Prozent. Anders als in Deutschland subventioniert in Frankreich der Staat den Strom, in Spanien sorgte die Regierung etwa durch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel für eine Belebung der Nachfrage, und in den USA hat Präsident Joe Biden ein gigantisches Konjunkturprogramm aufgelegt.
Die erfolgsverwöhnte deutsche Wirtschaft – deren Unternehmen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gigantische Gewinne eingefahren haben – steht aktuell vor einem enormen Umbau. Bis 2045 soll sie klimaneutral werden, in kaum mehr als 20 Jahren. Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine und die folgende Energiepreiskrise ist das Geschäftsmodell etlicher Branchen, die bisher auf billiges Gas und günstigen Strom angewiesen sind, gehörig ins Wanken geraten.
Ihre Produktionskosten schnellten in die Höhe; viele werden ihren Umbau trotz wahnsinniger Renditen in der Vergangenheit ohne staatliche Hilfe kaum stemmen können. Dafür sind immense Summen nötig. Diese Rücklagen haben Unternehmen nicht. Die Gewinne der Vergangenheit wurden an Anteilseigner:innen ausgeschüttet, ohne dass der Staat sie angemessen abgeschöpft hätte, um mit dem Geld den Umbau voranzutreiben. Bürger:innen empört das. Doch nichts zu tun hat einen hohen Preis. Kurzfristig senken Unternehmen die Produktion, mittelfristig werden sie vielleicht in Länder gehen, in denen sie billiger produzieren können. Die Frage ist: Soll der Staat sie ziehen lassen oder gegensteuern?
Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist entschieden für gegensteuern. Damit engergieintensive Branchen die Probleme in den Griff bekommen, schlägt er einen Industriestrompreis vor. Demnach sollen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen 90 Prozent ihres Stroms für 6 Cent pro Kilowattstunde bekommen. Die jetzige Strompreisbremse, die noch bis ins kommende Frühjahr greift, sieht einen Nettoarbeitspreis von 13 Cent pro Kilowattstunde für 70 Prozent des vorherigen Verbrauchs vor, für den Rest ist der Marktpreis fällig.
Auch wenn die Strompreise mittlerweile wieder gesunken sind, sind sie im internationalen Vergleich für die deutsche Industrie noch immer hoch. Nach Berechnungen der Gewerkschaft IGBCE werden die Stromkosten in den USA künftig bei 3 bis 4 Cent pro Kilowattstunde liegen, in China bei zwischen 1,5 und 2 Cent. Habeck will den gesonderten deutschen Industriestrompreis bis 2030 laufen lassen, bis die erneuerbaren Energien so stark ausgebaut seien, dass der Strompreis insgesamt wieder niedriger als heute sei. Die Förderung soll an Energiesparmaßnahmen gebunden werden, damit Unternehmen dann weiterhin aufs Stromsparen achten.
Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und lagerübergreifende Landesregierungen befürworten einen Industriestrompreis. Trotzdem sind die Aussichten dafür schlecht. Die FDP ist dagegen. In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es zwar große Sympathien dafür, nicht aber im Kanzleramt.
Die Ökonom:innen sind ähnlich gespalten wie die Ampel. „Es ist Aufgabe des Staates, Planungssicherheit zu schaffen“, sagt IMK-Chef Dullien. Er befürwortet die Einführung eines Brückenstrompreises. Gleichzeitig müsste allerdings der Strommarkt reformiert und der Ausbau der Erneuerbaren beschleunigt werden.
DIW-Chef Fratzscher hingegen lehnt subventionierten Strom für die Industrie ab: „Diese Subventionen sind falsch, weil sie alte Strukturen langfristig zementieren.“ Reint Gropp hält einen Industriestrompreis aus klimapolitischen Gründen ebenfalls für falsch.
Eines lehnt wiederum Robert Habeck ab: ein klassisches Investitionsprogramm, bei dem der Staat mit viel Geld und der Vergabe von Aufträgen die Wirtschaft anschiebt. Auf diese Art haben sich frühere Bundesregierungen immer wieder aus Wirtschaftskrisen herausinvestiert – etwa die Große Koalition 1967 mit einem Bauprogramm, die sozialliberale Koalition 1977 mit einen Verkehrsprogramm, Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Abwrackprämie gegen die Folgen der Finanzkrise und die Große Koalition mit dem sozialdemokratischen Finanzminister Olaf Scholz und ihrem Konjunkturpaket gegen die Coronakrise. Doch solche Maßnahmen würden jetzt nicht weiterhelfen, ist Habeck überzeugt. „Wer in Zeiten hoher Inflation Geld mit der Gießkanne verteilt, bringt nur eines zum Wachsen: die Inflation“, sagt er.
Auch Ökonomen sind skeptisch. „Es ist unklar, wie ein Konjunkturprogramm aussehen könnte“, sagt Grömling. Strukturpolitisch lägen die entscheidenden Fragen auf dem Tisch: „Da geht es darum, langfristig die Kostensituation der Unternehmen so zu gestalten, dass es zu keiner Erosion der industriellen Basis kommt.“ Nicht nur auf die Kosten komme es an, sondern vor allem auf die Energiesicherheit.
„Das Problem an Konjunkturprogrammen ist, dass sie erst wirken, wenn die Konjunkturdelle wieder vorbei ist“, gibt auch Gropp zu bedenken. Jetzt „irgendwelche Geschenke an irgendwelche Unternehmen“ zu verteilen, sei nicht sinnvoll. Wenn es noch finanzielle Spielräume gebe, seien diese für Investitionen in die Forschung und einen effizienteren Staat besser genutzt, sagt der Wissenschaftler.
Die oppositionelle Union versucht aus der Konjunkturdelle Kapital zu schlagen – allerdings ziemlich unbeholfen. Um die Wirtschaft schnell anzukurbeln, fordern CDU und CSU ein Sofortprogramm. Neben konkreten Maßnahmen wie der Senkung von Stromsteuern zum 1. Oktober oder Steuerfreiheit für Überstunden enthält es vor allem populistische Forderungen, etwa nach einem Stopp „aller neuen Gesetze, die Bürokratie verursachen“, oder des Heizungsgesetzes. „Turboabschreibungen“ solle es für alle Anschaffungen in der Wirtschaft geben, nicht nur für Klima- und Digitalisierungsprojekte.
„Nicht ausgegoren“, nennt IMK-Chef Dullien die Vorschläge der Union. „Sie beruhen nicht auf einer sauberen Problemanalyse.“ Stattdessen fordert er in erster Linie ein Austeritätsmoratorium, also eine Pause von der strikten Ausgabendisziplin im Bundeshaushalt. „Die Schuldenbremse sollte 2024 erneut ausgesetzt und konsumdämpfende Kürzungen im Bundeshaushalt ausgesetzt werden“, schlägt er vor.
Angesichts der dürftigen Vorschläge der Union hätte die Regierung derzeit eigentlich leichtes Spiel. In Fragen der Wirtschaftskrisenbewältigung stehen die Ampelpartner nicht vor unüberwindlich wirkenden Gräben wie etwa in der Klimapolitik. Wirtschaftspolitisch sind sich Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) näher, als mancher Konflikt aus der Vergangenheit annehmen lässt. Beide wollen die Steuern für Unternehmen senken, um der Konjunktur einen Schub zu geben – der eine viel, der andere noch mehr. Beide streiten deshalb heftig über das „Wachstumschancengesetz“, das im August im Kabinett beschlossen werden soll.
Der vom Bundesfinanzministerium vorgelegte Referentenentwurf sieht rund 50 Maßnahmen vor, mit denen Unternehmen geholfen werden soll. Lindner will Entlastungen von 6,5 Milliarden Euro für die Wirtschaft – während er bei der Kindergrundsicherung geizt. Im Mittelpunkt von Lindners Plan stehen Prämien für Investitionen in klimafreundliche Technologien, höhere Forschungsförderungen und die Einführung einer Freigrenze für Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung.
Habeck ist das zu wenig. Ob er sich mit seinen Forderungen durchsetzt, ist unklar. Anders als beim Heizungsgesetz bemühen sich die Koalitionäre immerhin noch, ihre Konflikte intern auszufechten.
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